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Arbeit und Soziales
Wieder arges EDV-Programm in den ARGEn
Murks bei Olaf Scholz
Von Hans-Dieter Hey

Eigentlich sollte das EDV-Programm „Verbiss“ heißen, weil dort Sanktionstatbestände in Intim-Verhören erfasst werden, die Erwerbslose aus den ARGEn hinausbeißen. Demnächst könnten auch mehr ihrer Beschäftigten das Weite suchen. Das Programm heißt „Verbis“ und enthält ein „Vier-Phasen-Modell der Integrationsarbeit“ – und zusätzliche Verwaltungsarbeit. Und das wurde ab diesem Wochenende bundesweit eingeführt – offenbar unter Umgehung geltender Mitbestimmung und des Datenschutzes. Die Mitarbeiter sind sauer, die Erwerbslosen die Leidtragenden; und dem verantwortlichen Minister Olaf Scholz (SPD) kommt die neue Aufregung vor der Bundestagswahl ungelegen.

„Nur durch Zufall, und weil wir in einem Netzwerk verbunden sind, haben wir von dem neuen Programm erfahren, von Mitbestimmungskultur oder Mitbestimmung keine Spur“, klagt ein Mitglied des Personalrates einer Arbeitsagentur gegenüber der NRhZ. Erfahren hatte man davon zufällig im März 2008. Seitdem gehen auf breiter Front Personalräte in den Widerstand gegen die ungeliebte Mehrarbeit und die Tücken des EDV-Programms. In Hamburg und Berlin wurde die Einführung sogar „mit Untersagung der Anwendung“ abgelehnt. Bis heute liegt den Personalräten keine funktionsfähige und ausreichend getestete Programmversion vor. Und: „Die Bundesagentur spielt das auf, ohne die lokalen Mitbestimmungsrechte in den Arbeitsagenturen zu beachten“, wird geklagt.

Datenschutzprobleme mit sensiblen Daten?

Auch mit dem Datenschutz hapert es wohl deutlich: „Einlassungen zu psychischen oder Drogenproblemen können bundesweit gelesen werden und sind durch das neue Verfahren ggf. leichter auffindbar. Das wirft Datenschutzprobleme auf“, heißt es aus Hannover. Deshalb hatten die streitbaren Personalräte den Datenschutzbeauftragten des Bundes, Peter Schaar, angerufen. Der teilte zwar die Argumente der Personalräte, fühlte sich aber außerstande, quasi übers Wochenende eine abschließende Überprüfung vorzunehmen.


ARGE-Beschäftigte und Erwerbslose: Opfer desselben Systems?
Montage: Hofschläger/pixelio


Dabei sollten mit dem neuen System die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit „in einer späteren Phase der Arbeitslosigkeit verstärkt und die Zusammenarbeit mit den Grundsicherungsstellen enger werden“, hieß es in einer Mitteilung des Personalrats des JobCenter Hannover vom 13. Mai 2009. Vollmundig war die Rede von verbesserten „Integrations- und Geschäftsprozessen“. Wie Integration von fast sieben Millionen Erwerbsloser auf 300.000 ungeförderte Stellen aussieht, daran sei nur am Rande erinnert. 

Zu Lasten Erwerbsloser

Offenbar also alles Schall und Rauch. Viele Beschäftigte der Arbeitsagenturen befassen sich schon jetzt bis zu 60 Prozent mit sich selbst und ihren Verwaltungsarbeiten. Neue Verfahren wie das „Vier-Phasen-Modell der Integrationsarbeit“ bedeuten nun noch mehr Controlling und mehr Dokumentationsarbeit, ohne dass dies den Erwerbslosen irgendwie nützt. Der zusätzliche Aufwand wäre zu rechtfertigen, wenn er in angemessenem Verhältnis zum Erfolg stünde. Doch der ist nicht in Sicht, vor allem nicht bei steigenden Arbeitslosenzahlen, die nach der Bundestagswahl zu erwarten sind. Ganz im Gegenteil: Durch die „massenhafte Auswahl vorbelegter Integrationsstrategien“ wäre das Ganze ziemlich willkürlich und lediglich „selbstreferenziell“ und damit glatt „organisierter Selbstbetrug“, heißt es. Die Beratungsgespräche liefen zudem schon vorher „viel zu schematisch ab“, teilt die Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie mit. Für Beschäftigte der Arbeitsagenturen, die sich noch mit richtiger Beratung den Erwerbslosen als ausgegrenzte Opfer unseres offenbar allseits akzeptierten, aber immer brutaler werdenden Wirtschaftsradikalismus widmen möchten, eine glatte Horrorvision.


Trägt politische Verantwortung: Olaf Scholz
Foto: SPD/wikipedia
Deshalb erwarten die Personalräte für die Beschäftigten deutliche Mehrarbeit durch Controlling und Verwaltung. Doch dann stünde eben „nicht die Qualität des einzelnen Beratungsgesprächs im Mittelpunkt, sondern der Druck, im Vergleich mit anderen JobCentern oder Teams bessere Massenergebnisse zu erzielen“. Unter diesem Druck könnte dem einen oder anderen „persönlichen Ansprechpartner“ schon einfallen, Erwerblose aus Alters- oder Krankheitsgründen oder mit schnellen ARGE-gefälligen psychologischen Gutachten aus den Arbeitslosenzahlen zu katapultieren, wie „Monitor“ am 13.08. berichtet hatte, damit man vielleicht in der Raserei des betriebswirtschaftlichen „Ranking“ besser als andere bei den Vermittlungszahlen aussieht.

„Pfeifen sie ihre Zahlenknechte zurück“


Nun also wieder ein neues System, das „nicht einmal im Echtzeitbetrieb“ getestet wurde. Schon bei vorherigen Programmänderungen liefen „einige Anwendungen nur sehr eingeschränkt“, lauten weitere Vorwürfe. Schon vor Jahren kritisierte der Bundesrechnungshof: „Allerdings ist die im Untersuchungszeitraum feststellbare vergleichsweise einseitige betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Steuerung des Instrumenteneinsatzes () im Hinblick auf die Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit () kritisch zu bewerten“. So werden Erwerbslose Opfer eines wahnwitzigen Verwaltungsapparates, entwickelt von weltfremden Verwaltungsknechten und Unternehmensberatungen wie Clement-Freund Roland Berger, die sich offensichtlich einen Dreck um die menschlichen Realitäten vor Ort scheren. Opfer sind die Erwerbslosen; und durch Druck und Überforderung entfernen sich auch die Beschäftigten der ARGEn zunehmend von ihrer eigentlichen Aufgabe. Mitte Juni wandte sich Hauptpersonalratschef Eberhard Einsiedler in einem offenen Brief an den Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, und beschwerte sich über die ganze Datensammelwut: „Pfeifen sie ihre Zahlenknechte zurück“. Doch nichts geschieht.

ARGE-Beschäftigte in Köln unzufrieden

Und so sinkt die Motivation der Beschäftigten in den ARGEn gegen „Null“, die Krankheitszeiten steigen gleichzeitig mit der Fluktuation. In Köln gab ver.di Anfang März diesen Jahres die Ergebnisse einer Untersuchung über die Arbeitszufriedenheit in der Kölner ARGE bekannt. Über 30 Prozent der befragten Beschäftigten gehen nicht mehr gern dorthin und können sich auch nicht mit ihrer Arbeit identifizieren. Ebenfalls ein Drittel finden bei ihren Vorgesetzten weder Anerkennung noch Unterstützung. Noch schlimmer: Fast die Hälfte der Befragten gibt an, beim Ausbau der eigenen beruflichen Fähigkeiten nicht unterstützt zu werden. Schlechte Voraussetzungen für die Einführung einer neuen EDV-Version. Auch hier wird nebeneinander her gearbeitet: Der Personalrat der Stadt Köln hat der Einführung des „Vier-Phasen-Modells" wiedersprochen, der Hauptpersonalrat der ARGE Köln nicht.

Sollten allerdings ähnliche Stimmungsergebnisse für andere ARGEn zutreffen, wie in Köln, ist für die Zukunft nichts Gutes zu erwarten, weder für die Erwerbslosen noch für die Beschäftigten, von denen viele inzwischen um Ihre Arbeitsplätze bangen, wenn sie nicht ohnehin befristet beschäftig sind. Denn schnell könnte nämlich alles noch dicker kommen, weil das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung aufgefordert hatte, eine Neuordnung der Grundsicherung vorzunehmen, weil die jetzige Regelung verfassungswidrig war. Verantwortlich für den ganzen Irrsinn ist Bundesminister Olaf Scholz. Der war kürzlich damit gescheitert, das Grundgesetz für den gegenwärtigen rechtswidrigen Zustand passend zu machen. In einem Schreiben vom 18. März diesen Jahres wandte er sich an die Beschäftigten: „In dieser schwierigen Lage ist mir wichtig, dass keine zusätzliche Verunsicherung entsteht“. Doch am letzten Wochenende ist genau diese wieder entstanden – zu Lasten der Beschäftigten und der Erwerbslosen. (HDH)



Online-Flyer Nr. 211  vom 19.08.2009



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