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Werden Wähler nur durch Twitter-„Informationen“ manipuliert?
Laubenpiepers Wahlsonntag
Von Volker Bräutigam
Wie man Wähler auf dem Land manipuliert
Cartoon von Ursula Behr
In knapp vier Wochen erklimmen wir wieder einen Gipfel politischen Aberglaubens, auf dem wir ein weiteres Kreuz für das demokratische Deutschland aufrichten: die Bundestagswahl 2009. Um im biblischen Bilde zu bleiben: Daran nageln die bürgerlichen Parteien, tüchtige Schergen, die sie sind, unsere Hoffnung auf ein demokratisches Deutschland. Und verstellen mit ihrer parlamentarischen Praxis die Aussicht auf dessen Auferstehung von den Toten.
Unsere “demokratisch gewählten“ Regierungen
60% der Bundesbürger sind gegen deutsche Kriegsbeteiligungen. Unsere “demokratisch gewählten“ Regierungen – die Sozis immer ganz vorn mit dabei, Herr Nachbar! - kümmert das einen Dreck. Sie lassen deutsche Soldaten morden, gestern in Jugoslawien, heute in Afghanistan, den Menschenrechten, dem Völkerrecht und unserm Grundgesetz zum Hohn. 70% der Bevölkerung sind gegen die “Sozial“politik unserer “demokratisch gewählten“ Regierungen. Die sitzen das aus. 80% der Bevölkerung betrachten die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht. Unsere “demokratisch gewählten“ Regierungen schert es nicht.
Einmal die Mistforke in der Hand, gebe ich meinem Nachbarn noch eine Portion Schiet für den Eigenbedarf mit: „Gefallen dir die Bankenrettung, die Armutsvermehrung, die Rente mit 67, die Rüstungsexporte, die Gesundheitsreform, der Bildungsnotstand, der Schnüffelstaat? Geh mir aus der Sonne! Diese Wahlen sind ein gänzlich demokratiefreier Formalismus, alles Gülle aus derselben Grube! Keine Alternative. Du armer Zettelfalter!“
Auch nur so einer, der das wachsende Demokratiedefizit nicht mal mehr bemerkt.
Laut Internet-Ausgabe eines Nachrichtenmagazins bewegen den Bundeswahlleiter und selbst viele Abgeordnete von Union und SPD ganz andere Sorgen als die fortschreitende Volksverdummung: dass die Wahl durch Kurznachrichten im Online-Dienst Twitter (“Zwitscherer“) unzulässig beeinflusst werden könnte. Die vormals vertraulichen Exit Polls könnten verfrüht öffentlich bekannt werden. Gemeint sind die Wählerbefragungen, die von Demoskopie-Unternehmen vor den Toren ausgewählter Wahllokale vorgenommen werden. Sie sind die Grundlage für Prognosen zum Wahlausgang. Damit wollen die Massenmedien am frühen Wahlabend Pseudospannung und Zuschauerbindung an die Wunderlampe im Wohnzimmer erzeugen, vermiesen unsereinem jedoch nur die Laune.
Zuschauer veralbern
ARD, ZDF und Kommerzielle werden am 27. September wieder ihre Zuschauer mit gekünstelter Heimlichtuerei veralbern: Die Wahl-Prognosen der Demoskopie-Unternehmen werden erst nach dem Gongschlag 18 Uhr verkündet. Überraschung, Überraschung! Wie Kindergeburtstag. Das dazu aufgesetzte alberne Lächeln der "wissenden“ Moderatoren überschreitet stets sämtliche Erträglichkeitsgrenzen.
Die Exit-Poll-Zahlen mit Prozentangaben und Trends werden nämlich - wer zahlt, schafft an - „unseren“ Parteien und den TV-Sendern schon nachmittags mitgeteilt, Stunden vor der formellen Bekanntgabe in Funk und Fernsehen. „Es wäre der GAU, wenn die Wählerbefragungen vor Schließung der Wahllokale öffentlich bekannt würden", erklärte Bundeswahlleiter Roderich Egeler der Badischen Zeitung. Seine Begründung: Mit den Vorergebnissen könnten Unentschlossene mobilisiert werden.
Da glaubt einer an Schinkenernte vom Pflaumenbaum. An Heerscharen verpennter Zeitgenossen, die um 17 Uhr vom Nachmittagsschläfchen aufschrecken, weil das Handy klingelte und sie - ganz was Neues! - erst jetzt per Twitters SMS erfahren, dass die SPD in den Keller rauscht. An Millionen Leute, die nun rasch einen Kurzen kippen, sich schleunigst sonntäglich gewanden und zum nächsten Wahllokal stürzen: Rettet die Große Koalition!
§ 32 des Wahlgesetzes
Kein Vertreter der Politik oder der gleichgeschalteten Massenmedien kam je auf die Idee, einmal empirisch begründet und quantifiziert darzulegen, welche vom Ergebnis einer "normalen“ Wahl abweichenden Folgen eine solche wahlsonntägliche Mobilisierung hätte. Man beruft sich stattdessen nur simpel auf § 32 des Wahlgesetzes: „Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe (...) ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“
Ausnahmen, z.B. die gewohnte Weitergabe der Ergebnisse an Berufspolitiker und Medienleute, sieht das Gesetz nicht vor - obwohl doch auch diese Vorab-Information eine "Veröffentlichung“ darstellt. Weshalb bekommt eine Elite von “Eingeweihten“ zu wissen, was das gemeine Volk nicht erfahren darf? Und warum kümmert das den Bundeswahlleiter, die Parteipolitiker und die Medienfritzen nicht?
Stattdessen Theater ums Twittern. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre. Welch ein glänzender Beitrag zur Thematik Informationsfreiheit / Demokratisches Bewusstsein / Politische Bildung / Mündiger Bürger wird da geliefert! (Unterthematik: Parteienoligarchie / Sprachregelung / Bildungsnotstand / Gleichschaltung der Massenmedien / Zensurversuch / Stimmviehzucht!)
Verbot der Wählerbefragungen?
Der Angstauslöser: Im Mai hatten einige Mitglieder der Bundesversammlung das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl "vorzeitig“ - also noch ehe die Blumengebinde mit Musik und Hurra ans “Bundeshorschtl“ überreicht werden konnten - im Twitter-Dienst gemeldet. Vergleichbares soll sich bei den Bundestagwahlen nicht wiederholen. SPD-Innenexperte Wiefelspütz: „Es könnten sich Netzwerke bilden, die mit den Ergebnissen der Exit-Polls Wähler noch in letzter Minute mobilisieren". Und weiter: „Sollten die Ergebnisse der Wählerbefragungen getwittert werden, sind wir hilflos." Er halte es deswegen für angebracht, über „ein Verbot der Wählerbefragungen nachzudenken".
In letzter Minute mobilisierte Wähler. Hilflose Parteinasen. Verbote als Heilmittel: HILFE! Schützt uns Laubenpieper vor Sozn und anderem politischen Ungemach!
Während der Sozi nach der Verbots-Hacke grabscht, langt eine Unionspolitikerin zum Verlegenheits-Mulch: Dorothee Bär, stellvertretende CSU-Generalsekretärin und medienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, forderte, alle “Eingeweihten“ auf einen „Kodex des Stillschweigens zu verpflichten". Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Wolfgang Bosbach, steuerte sogar den Geistesblitz bei, die Umfrage-Ergebnisse sollten erst eine Stunde vor Schluss des Urnengangs an Politiker und Medien weitergegeben werden, weil dann der Zeitrahmen für Twitter-Beeinflussung knapper sei. - Wehrhafte Demokraten, im Reichstag sind sie zu besichtigen. Eintritt frei!
Retourkutsche aus dem Iran?
Twitter hat weltweit rasanten Mitgliederzuwachs. Der Informationsdienst steigerte innert eines Jahres seine Nutzerzahl von rund 500 000 auf 8 Millionen. In Deutschland sind allerdings bisher kaum 80 000 Teilnehmer eingetragen. seit bekannt wurde, wie die “grüne“ Opposition im Iran via Internet-Twitter mit massenhaften SMS-Nachrichten Einfluss auf die dortige Präsidentenwahl zu nehmen versuchte, rutscht hierzulande manchen Polit-Professionellen das Herz in die Hose. Sonst könnten Politiker doch nicht die Verbreitung unüberprüfbarer angeblicher Insider-Informationen über Wahltrends fürchten wie der Laubenpieper die Schnecken im Salatbeet.
Aber gesetzt den Fall, dass bis zum 27. 9. alles Wiefelspützige gegen Twitter unterbleibt und am 27. September schon nachmittags eine Ergebnis-Prognose verzwitschert wird: Ob dann die Iraner wohl auch „Schiebung" schreien, weil die Merkel wiedergewählt wird? Und wird sich Irans Präsident Ahmadinejad an der Kanzlerin mit der Retourkutsche rächen, eine Überprüfung der bundesdeutschen Wahl durch unabhängige ausländische Instanzen sei angebracht und mehr Demokratie und Demonstrationsfreiheit auf Deutschlands Straßen zu fordern? Wird er gar - Obama steh uns bei! - wegen prügelnder Polizisten in Berlin den UN-Sicherheitsrat in New York anrufen?
„Wir verurteilen aufs Schärfste die Praxis der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten“, so trötete auch Möchtegern-Kanzler Steinmeier, als die “grüne“ Opposition im Iran ihre Unzufriedenheit mit dem Wahlergebnis auf Teherans Straßen austobte. Ob Frank Walter nach seiner vorhersehbaren Wahlschlappe - wie in solchen Fällen üblich - die Schuld bei irregeleiteten Wählern und sonstiger Manipulation suchen wird, dem Twittern zum Beispiel? Dann könnte er doch gleich in Teheran ein paar erfolgsverwöhnte Prügel-Perser bestellen, die (als Sozis verkappt - rote Schals!) ordentlich Randale auf Berlins Straßen machen und „Wer hat unsere Stimmen geklaut?“ plärren? Dass Steinmeier anschließend die „Praxis der Berliner Sicherheitskräfte gegen Demonstranten aufs Schärfste verurteilen“ würde, wäre sicher nicht zu befürchten. Diese brave Truppe ist außerdem seit lauschigen Maiennächten bekannt für ihr Zartgefühl im Umgang mit Demonstranten.
Manipulation nicht nur wahlsonntäglich
Ach, Nachbarn! Im wirklichen Leben werdet ihr doch nicht nur wahlsonntäglich manipuliert. Sondern ganzjährig, täglich: Wenn Politiker Steuersenkungen versprechen. Oder zur Freiheitsverteidigung am Hindukusch aufrufen. Auch die Medien manipulieren, z.B. mit “Tagesthemen“ und “heute“, mit Illners und Wills – und ganz besonders mit “Politbarometern“ und „Deutschlandtrends“. In Berichten über politische Meinungsumfragen ist ja nicht grundlos vom Einfluss „wahltaktischer Überlegungen“ aufs Wahlverhalten die Rede.
Ergo: Nicht erst fragwürdige Twitter-“Informationen“, sondern vor allem die regelmäßigen offiziösen Veröffentlichungen von Meinungsumfragen bringen den Bürger davon ab, sich bei seiner Wahlentscheidung ausschließlich von seiner Überzeugung leiten zu lassen. Das Demoskopen-Unwesen erzielt Wirkung, die man ohne empirische Belege behaupten kann: Es trägt dazu bei, dass Wahlen sich immer auf die etablierten Parteien verengen, speziell die großen unter ihnen, und dass kleine oder neue Parteien geringere Chancen haben.
Politische Besitzstandwahrung nennt man das. Damit sich in unserem Land ganz sicher nichts radikal ändert. Obwohl dies dringend nötig wäre.
Den Manipulanten sind immerhin Grenzen gesetzt. Die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF verlieren seit Jahren Zuschauer, und zwar kräftig. Denen der Kommerziellen geht es nicht besser. (PK)
Volker Bräutigam schreibt regelmäßig für die Politik-Zeitschrift Ossietzky. Seine literarische Figur eines sarkastisch stänkernden Laubenpiepers lässt er gerade in seinem neuem Buch „Die Falschmünzer-Republik - Von Politblendern und Medienstrichern“ ausgiebig zu Wort kommen. Illustriert ist es mit Karikaturen von Klaus Stuttmann. (Scheunen-Verlag, Kückenshagen, 2009, 300 S., ISBN: 978-3-938398-90-6.)
Online-Flyer Nr. 214 vom 09.09.2009
Werden Wähler nur durch Twitter-„Informationen“ manipuliert?
Laubenpiepers Wahlsonntag
Von Volker Bräutigam
Wie man Wähler auf dem Land manipuliert
Cartoon von Ursula Behr
In knapp vier Wochen erklimmen wir wieder einen Gipfel politischen Aberglaubens, auf dem wir ein weiteres Kreuz für das demokratische Deutschland aufrichten: die Bundestagswahl 2009. Um im biblischen Bilde zu bleiben: Daran nageln die bürgerlichen Parteien, tüchtige Schergen, die sie sind, unsere Hoffnung auf ein demokratisches Deutschland. Und verstellen mit ihrer parlamentarischen Praxis die Aussicht auf dessen Auferstehung von den Toten.
Unsere “demokratisch gewählten“ Regierungen
60% der Bundesbürger sind gegen deutsche Kriegsbeteiligungen. Unsere “demokratisch gewählten“ Regierungen – die Sozis immer ganz vorn mit dabei, Herr Nachbar! - kümmert das einen Dreck. Sie lassen deutsche Soldaten morden, gestern in Jugoslawien, heute in Afghanistan, den Menschenrechten, dem Völkerrecht und unserm Grundgesetz zum Hohn. 70% der Bevölkerung sind gegen die “Sozial“politik unserer “demokratisch gewählten“ Regierungen. Die sitzen das aus. 80% der Bevölkerung betrachten die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht. Unsere “demokratisch gewählten“ Regierungen schert es nicht.
Einmal die Mistforke in der Hand, gebe ich meinem Nachbarn noch eine Portion Schiet für den Eigenbedarf mit: „Gefallen dir die Bankenrettung, die Armutsvermehrung, die Rente mit 67, die Rüstungsexporte, die Gesundheitsreform, der Bildungsnotstand, der Schnüffelstaat? Geh mir aus der Sonne! Diese Wahlen sind ein gänzlich demokratiefreier Formalismus, alles Gülle aus derselben Grube! Keine Alternative. Du armer Zettelfalter!“
Auch nur so einer, der das wachsende Demokratiedefizit nicht mal mehr bemerkt.
Laut Internet-Ausgabe eines Nachrichtenmagazins bewegen den Bundeswahlleiter und selbst viele Abgeordnete von Union und SPD ganz andere Sorgen als die fortschreitende Volksverdummung: dass die Wahl durch Kurznachrichten im Online-Dienst Twitter (“Zwitscherer“) unzulässig beeinflusst werden könnte. Die vormals vertraulichen Exit Polls könnten verfrüht öffentlich bekannt werden. Gemeint sind die Wählerbefragungen, die von Demoskopie-Unternehmen vor den Toren ausgewählter Wahllokale vorgenommen werden. Sie sind die Grundlage für Prognosen zum Wahlausgang. Damit wollen die Massenmedien am frühen Wahlabend Pseudospannung und Zuschauerbindung an die Wunderlampe im Wohnzimmer erzeugen, vermiesen unsereinem jedoch nur die Laune.
Zuschauer veralbern
ARD, ZDF und Kommerzielle werden am 27. September wieder ihre Zuschauer mit gekünstelter Heimlichtuerei veralbern: Die Wahl-Prognosen der Demoskopie-Unternehmen werden erst nach dem Gongschlag 18 Uhr verkündet. Überraschung, Überraschung! Wie Kindergeburtstag. Das dazu aufgesetzte alberne Lächeln der "wissenden“ Moderatoren überschreitet stets sämtliche Erträglichkeitsgrenzen.
Die Exit-Poll-Zahlen mit Prozentangaben und Trends werden nämlich - wer zahlt, schafft an - „unseren“ Parteien und den TV-Sendern schon nachmittags mitgeteilt, Stunden vor der formellen Bekanntgabe in Funk und Fernsehen. „Es wäre der GAU, wenn die Wählerbefragungen vor Schließung der Wahllokale öffentlich bekannt würden", erklärte Bundeswahlleiter Roderich Egeler der Badischen Zeitung. Seine Begründung: Mit den Vorergebnissen könnten Unentschlossene mobilisiert werden.
Da glaubt einer an Schinkenernte vom Pflaumenbaum. An Heerscharen verpennter Zeitgenossen, die um 17 Uhr vom Nachmittagsschläfchen aufschrecken, weil das Handy klingelte und sie - ganz was Neues! - erst jetzt per Twitters SMS erfahren, dass die SPD in den Keller rauscht. An Millionen Leute, die nun rasch einen Kurzen kippen, sich schleunigst sonntäglich gewanden und zum nächsten Wahllokal stürzen: Rettet die Große Koalition!
§ 32 des Wahlgesetzes
Kein Vertreter der Politik oder der gleichgeschalteten Massenmedien kam je auf die Idee, einmal empirisch begründet und quantifiziert darzulegen, welche vom Ergebnis einer "normalen“ Wahl abweichenden Folgen eine solche wahlsonntägliche Mobilisierung hätte. Man beruft sich stattdessen nur simpel auf § 32 des Wahlgesetzes: „Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe (...) ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“
Ausnahmen, z.B. die gewohnte Weitergabe der Ergebnisse an Berufspolitiker und Medienleute, sieht das Gesetz nicht vor - obwohl doch auch diese Vorab-Information eine "Veröffentlichung“ darstellt. Weshalb bekommt eine Elite von “Eingeweihten“ zu wissen, was das gemeine Volk nicht erfahren darf? Und warum kümmert das den Bundeswahlleiter, die Parteipolitiker und die Medienfritzen nicht?
Stattdessen Theater ums Twittern. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre. Welch ein glänzender Beitrag zur Thematik Informationsfreiheit / Demokratisches Bewusstsein / Politische Bildung / Mündiger Bürger wird da geliefert! (Unterthematik: Parteienoligarchie / Sprachregelung / Bildungsnotstand / Gleichschaltung der Massenmedien / Zensurversuch / Stimmviehzucht!)
Verbot der Wählerbefragungen?
Der Angstauslöser: Im Mai hatten einige Mitglieder der Bundesversammlung das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl "vorzeitig“ - also noch ehe die Blumengebinde mit Musik und Hurra ans “Bundeshorschtl“ überreicht werden konnten - im Twitter-Dienst gemeldet. Vergleichbares soll sich bei den Bundestagwahlen nicht wiederholen. SPD-Innenexperte Wiefelspütz: „Es könnten sich Netzwerke bilden, die mit den Ergebnissen der Exit-Polls Wähler noch in letzter Minute mobilisieren". Und weiter: „Sollten die Ergebnisse der Wählerbefragungen getwittert werden, sind wir hilflos." Er halte es deswegen für angebracht, über „ein Verbot der Wählerbefragungen nachzudenken".
In letzter Minute mobilisierte Wähler. Hilflose Parteinasen. Verbote als Heilmittel: HILFE! Schützt uns Laubenpieper vor Sozn und anderem politischen Ungemach!
Während der Sozi nach der Verbots-Hacke grabscht, langt eine Unionspolitikerin zum Verlegenheits-Mulch: Dorothee Bär, stellvertretende CSU-Generalsekretärin und medienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, forderte, alle “Eingeweihten“ auf einen „Kodex des Stillschweigens zu verpflichten". Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Wolfgang Bosbach, steuerte sogar den Geistesblitz bei, die Umfrage-Ergebnisse sollten erst eine Stunde vor Schluss des Urnengangs an Politiker und Medien weitergegeben werden, weil dann der Zeitrahmen für Twitter-Beeinflussung knapper sei. - Wehrhafte Demokraten, im Reichstag sind sie zu besichtigen. Eintritt frei!
Retourkutsche aus dem Iran?
Twitter hat weltweit rasanten Mitgliederzuwachs. Der Informationsdienst steigerte innert eines Jahres seine Nutzerzahl von rund 500 000 auf 8 Millionen. In Deutschland sind allerdings bisher kaum 80 000 Teilnehmer eingetragen. seit bekannt wurde, wie die “grüne“ Opposition im Iran via Internet-Twitter mit massenhaften SMS-Nachrichten Einfluss auf die dortige Präsidentenwahl zu nehmen versuchte, rutscht hierzulande manchen Polit-Professionellen das Herz in die Hose. Sonst könnten Politiker doch nicht die Verbreitung unüberprüfbarer angeblicher Insider-Informationen über Wahltrends fürchten wie der Laubenpieper die Schnecken im Salatbeet.
Aber gesetzt den Fall, dass bis zum 27. 9. alles Wiefelspützige gegen Twitter unterbleibt und am 27. September schon nachmittags eine Ergebnis-Prognose verzwitschert wird: Ob dann die Iraner wohl auch „Schiebung" schreien, weil die Merkel wiedergewählt wird? Und wird sich Irans Präsident Ahmadinejad an der Kanzlerin mit der Retourkutsche rächen, eine Überprüfung der bundesdeutschen Wahl durch unabhängige ausländische Instanzen sei angebracht und mehr Demokratie und Demonstrationsfreiheit auf Deutschlands Straßen zu fordern? Wird er gar - Obama steh uns bei! - wegen prügelnder Polizisten in Berlin den UN-Sicherheitsrat in New York anrufen?
„Wir verurteilen aufs Schärfste die Praxis der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten“, so trötete auch Möchtegern-Kanzler Steinmeier, als die “grüne“ Opposition im Iran ihre Unzufriedenheit mit dem Wahlergebnis auf Teherans Straßen austobte. Ob Frank Walter nach seiner vorhersehbaren Wahlschlappe - wie in solchen Fällen üblich - die Schuld bei irregeleiteten Wählern und sonstiger Manipulation suchen wird, dem Twittern zum Beispiel? Dann könnte er doch gleich in Teheran ein paar erfolgsverwöhnte Prügel-Perser bestellen, die (als Sozis verkappt - rote Schals!) ordentlich Randale auf Berlins Straßen machen und „Wer hat unsere Stimmen geklaut?“ plärren? Dass Steinmeier anschließend die „Praxis der Berliner Sicherheitskräfte gegen Demonstranten aufs Schärfste verurteilen“ würde, wäre sicher nicht zu befürchten. Diese brave Truppe ist außerdem seit lauschigen Maiennächten bekannt für ihr Zartgefühl im Umgang mit Demonstranten.
Manipulation nicht nur wahlsonntäglich
Ach, Nachbarn! Im wirklichen Leben werdet ihr doch nicht nur wahlsonntäglich manipuliert. Sondern ganzjährig, täglich: Wenn Politiker Steuersenkungen versprechen. Oder zur Freiheitsverteidigung am Hindukusch aufrufen. Auch die Medien manipulieren, z.B. mit “Tagesthemen“ und “heute“, mit Illners und Wills – und ganz besonders mit “Politbarometern“ und „Deutschlandtrends“. In Berichten über politische Meinungsumfragen ist ja nicht grundlos vom Einfluss „wahltaktischer Überlegungen“ aufs Wahlverhalten die Rede.
Ergo: Nicht erst fragwürdige Twitter-“Informationen“, sondern vor allem die regelmäßigen offiziösen Veröffentlichungen von Meinungsumfragen bringen den Bürger davon ab, sich bei seiner Wahlentscheidung ausschließlich von seiner Überzeugung leiten zu lassen. Das Demoskopen-Unwesen erzielt Wirkung, die man ohne empirische Belege behaupten kann: Es trägt dazu bei, dass Wahlen sich immer auf die etablierten Parteien verengen, speziell die großen unter ihnen, und dass kleine oder neue Parteien geringere Chancen haben.
Politische Besitzstandwahrung nennt man das. Damit sich in unserem Land ganz sicher nichts radikal ändert. Obwohl dies dringend nötig wäre.
Den Manipulanten sind immerhin Grenzen gesetzt. Die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF verlieren seit Jahren Zuschauer, und zwar kräftig. Denen der Kommerziellen geht es nicht besser. (PK)
Volker Bräutigam schreibt regelmäßig für die Politik-Zeitschrift Ossietzky. Seine literarische Figur eines sarkastisch stänkernden Laubenpiepers lässt er gerade in seinem neuem Buch „Die Falschmünzer-Republik - Von Politblendern und Medienstrichern“ ausgiebig zu Wort kommen. Illustriert ist es mit Karikaturen von Klaus Stuttmann. (Scheunen-Verlag, Kückenshagen, 2009, 300 S., ISBN: 978-3-938398-90-6.)
Online-Flyer Nr. 214 vom 09.09.2009