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Arbeit und Soziales
Was die Berliner Tigerenten-Koalition dem Wahlvolk zugedacht hat
Sozialpolitische Grausamkeiten
Von Daniel Kreutz
Finanzbasis der Sozialversicherung
Die Finanzbasis unserer Sozialversicherung liegt in den beitragspflichtigen Löhnen und Gehältern. Die sind anhaltender Auszehrung ausgesetzt, durch die Massenerwerbslosigkeit schon seit 30 Jahren, wie sich herumgesprochen haben dürfte. Dazu kamen dann die Ausbreitung des Niedriglohnsektors, der Mini-Jobs und die insgesamt zurückbleibende
Von nichts kommt nichts
Foto: NRhZ-Archiv
Text ersetzen. Entwicklung der Löhne und Gehälter – alles mit freundlicher Unterstützung früherer Bundesregierungen. Im europäischen Vergleich hat das längst dramatische Ausmaße angenommen.
Nach den Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft – also eines arbeitgeberfreundlichen Instituts – wäre die Bruttoentgeltsumme im Jahr 2008 um 110 Milliarden Euro höher ausgefallen, wenn wir da noch die Bruttolohnquote von 1991 gehabt hätten. Das gibt einen Eindruck von der Umverteilung zu Gunsten der Arbeitgeber und Vermögensbesitzer, und zu Ungunsten nicht zuletzt auch der Sozialversicherung allein in einem Jahr.
Politik für die Sicherung des Sozialstaats müsste diese Entwicklung zwingend stoppen und umkehren: mit Mindestlohn, mit Zurückdrängung von Niedriglöhnen und geringfügiger Beschäftigung und mit einem wirksamen Beschäftigungsaufbau. Die Aussagen des Koalitionsvertrags weisen stattdessen in die gegenteilige Richtung.
Merkel will Armutslöhne für rechtens erklären
Angela Merkels Koalition schließt nicht nur einen flächendeckenden gesetzlicher Mindestlohn grundsätzlich aus, sondern sie will auch bis Oktober 2011 prüfen, ob die bestehenden Mindestlöhne nach Entsendegesetz bleiben oder aufgehoben werden sollten. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen, also neue Mindestlöhne, sind nur möglich, wenn darüber Einvernehmen im Kabinett besteht – da hat also der marktradikale Herr Brüderle von der FDP sozusagen ein Vetorecht. Vereinbart ist auch, die Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich festzuschreiben. Sittenwidrig sind Löhne nach der Rechtsprechung dann, wenn sie um mindestens ein Drittel niedriger sind als die üblichen Tariflöhne. Wenn das zum Gesetz erhoben wird, werden vielfach Armutslöhne für rechtens erklärt. Die Grenze der Rechtswidrigkeit läge dann beispielsweise im NRW-Einzelhandel bezogen auf die unterste Tarifgruppe bei 5,15 Euro und in der westdeutschen Systemgastronomie bei 4,80. In Ostdeutschland ginge dass bis zu 2,04 Euro Hungerlohn im sächsischen Friseurhandwerk.
Darüber hinaus will die Koalition die befristete Beschäftigung nach der Hire-and-Fire-Methode ausbauen, nämlich das Befristungen ohne sachlichen Grund. Zur Verbesserung der – wie es so schön heißt - „Arbeitsanreize“ für gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse prüft sie eine Erhöhung und Dynamisierung der 400-Euro-Grenze bei Mini-Jobs.
Insgesamt weisen die Vereinbarungen zur Arbeitsmarktpolitik in Richtung weiterer Prekarisierung des Arbeitsmarkts – und damit zugleich auch in Richtung einer weiteren Schwächung der Finanzbasis der Sozialversicherung. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, was uns immer noch blühen kann, wenn das Krisen-Kurzarbeitergeld schließlich doch ausläuft.
Sozialversicherung: Privatisierung statt Solidarität
Den Versicherten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung drohen massive Privatisierungsschritte, die die solidarische Struktur dieser beiden Zweige der Sozialversicherung sehr grundsätzlich in Frage stellen. Was die gesetzliche Krankenversicherung angeht, für die jetzt der ehemalige Herr Sanitätsoffizier Doktor Philipp Rösler zuständig ist, so wird eine Regierungskommission jetzt Schritte zur „weitgehenden Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten“ festlegen. Das bedeutet, dass Kostensteigerungen ganz überwiegend von den Versicherten bezahlt werden sollen. Dazu ist vereinbart, dass der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird, also ungeachtet der Ausgabenentwicklung fest bleibt. Das ist dann das vollständige Ende der paritätischen Finanzierung, in der der Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums bislang seine vielleicht wichtigste Konkretisierung erfahren hat.
Hier soll ein Ausstieg auf Raten vollendet werden, der unter Rot-Grün eingeleitet und von der Großen Koalition mit den Zusatzbeiträgen im System des Gesundheitsfonds fortentwickelt wurde.
Falsch gedacht?
Foto: H.-D. Hey
Schon nach bisheriger Rechtslage ist es so, dass eine Krankenkasse, die ihre Finanzierung mit dem von der Bundesregierung festgelegten Beitragssatz für den Fonds nicht sicherstellen kann, ihre Versicherten einseitig mit einem Zusatzbeitrag belasten muss. Dass viele Kassen das jetzt müssen, hat man vorprogrammiert mit der Regelung, dass die Regelbeiträge ab diesem Jahr nur noch 95 Prozent der Kassenausgaben decken müssen.
Der Zwang zur Erhebung von Zusatzbeiträgen wird wachsen, wenn – wie im Koalitionsvertrag festgelegt – „der Morbi-RSA auf das notwendige Maß reduziert“ wird. Das betrifft den morbiditätsbezogenen, also den krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich zwischen den einzelnen Krankenkassen. Den hat man zusammen mit dem Gesundheitsfonds geschaffen, um bei den Zuweisungen aus dem Fonds an die Kassen auch deren Leistungsausgaben für ausgewählte, besonders kostenintensive Krankheitsbilder berücksichtigen zu können, und damit den (per Zusatzbeitrag verschärften) Kassenwettbewerb um Gesunde zum Nachteil der schwer und chronisch Kranken zu begrenzen. Den Morbi-RSA reduzieren bedeutet, die Defizitrisiken für Kassen mit hohen Leistungsausgaben zu erhöhen und die Erhebung von Zusatzbeiträgen oder deren Erhöhung zu beschleunigen.
Mehrbelastung für kleine zugunsten großer Einkommen
Grundsätzlich könnte die Aufhebung der bisherigen Begrenzungen der Zusatzbeiträge - vor allem der acht-Euro-Grenze für einkommensunabhängige Pauschalen - ein Weg sein, um die Arbeitgeberbeiträge einzufrieren und Mehrkosten einseitig bei den Versicherten abzuladen. Denn der zweite Teils des Auftrags für die Regierungskommission zur GKV-Reform ist: sie soll zugleich die Umstellung der Finanzierung auf „einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge“ vorbereiten – die Kopfpauschale soll kommen. Dann würden alle gesetzlich Versicherten – ob Niedriglöhner oder freiwillig versicherter Spitzenverdiener – den gleichen Eurobetrag als Beitrag zahlen. Damit würden geringere Einkommen höher belastet und höhere Einkommen entlastet.
Ausdrücklich will die Koalition den sozialen Ausgleich zwischen ärmeren und wohlhabenderen Versicherten, der durch die Beitragsbemessungsgrenze ja ohnehin stark eingeschränkt ist, vollständig aus der GKV entfernen. Stattdessen soll es dann für die Ärmeren – wer das ist, wird Schwarz-Gelb definieren - einen Ausgleich aus Steuermitteln geben. Dann kommt der Sozialhilfestaat und fragt: Biste bedürftig oder nicht?
Wie der Ausgleich aussehen soll, weiß natürlich noch niemand. Aber eines ist klar: etwa 70 Prozent des Steueraufkommens kommen aus Lohn- und Konsumsteuern. Also wird auch der so genannte soziale Ausgleich für die Kopfpauschale von der Masse der Bevölkerung aufgebracht - einschließlich aller Hartz IV-Bezieher, die bei jedem Einkauf Mehrwertsteuer bezahlen.
Auch die Leistungsseite der GKV soll unter Feuer genommen werden. „Versicherte sollen auf der Basis des bestehenden Leistungskatalogs soweit wie möglich ihren Krankenversicherungsschutz selbst gestalten können. “Dazu soll es einerseits vermehrt Wahltarife in der GKV geben, und
anderseits soll die Zusammenarbeit mit der PKV bei Wahl- und Zusatzleistungen ausgebaut werden. Was das konkret bedeuten wird, wissen wir noch nicht.
Aber wir müssen damit rechnen, dass hier das Ende des einheitlichen Leistungskatalogs in der GKV eingeläutet wird. Dass man also bestimmte Leistungen im Krankheitsfall abwählen kann, um einen billigeren Tarif zu bekommen, und dass man die Sicherungslücken dann mit einem Zusatzvertrag bei der PKV schließen soll. Das wäre das Ende der einheitlichen Absicherung aller medizinisch notwendigen Leistungen in der GKV - mit womöglich verheerenden Folgen im Einzelfall. Klar ist jedenfalls: jedes Mal, wenn ein jüngerer gesunder Menschen einen Billigtarif wählt, werden dem Solidarsystem Beitragsmittel entzogen, die zur Versorgung von schwer und chronisch kranken Menschen dringend benötigt werden. Wahltarife in der GKV bedeuten Ausstieg aus dem grundlegenden Solidarprinzip: dass nämlich die Gesunden für die Kranken einstehen.
Schwerkranke und Behinderte: „Pech gehabt“?
Dann deutet sich im Koalitionsvertrag noch die Absicht zur weiteren Aushöhlung des Sachleistungsprinzips der GKV an. Sachleistungsprinzip bedeutet: wenn ich krank bin, trägt die Krankenkasse meine notwendigen Behandlungskosten, egal wie hoch die sind. Nun will die Koalition prüfen, wo über die bislang schon betroffenen Leistungsbereiche hinaus (Zahnersatz, Arzneimittel, Reha) Festzuschüsse zum Tragen kommen können. Festzuschüsse bedeuten, dass behandlungsbedürftige Menschen den Teil der Kosten, der über den Zuschuss hinausgeht, selber tragen müssen, wenn sie das nicht über eine private Zusatzversicherung auffangen.
Zusammenfassend kann man also sagen: Die Versicherten sollen durch Wahltarife und Festzuschüsse dazu gedrängt werden, private Zusatzversicherungen abzuschließen bzw. bei Krankheit erheblich höhere Zuzahlungen erbringen zu müssen, an denen sich die Arbeitgeber nicht mehr beteiligen. Immer mehr Menschen könnten sich einen umfassenden Krankenversicherungsschutz nicht mehr leisten. Wir bekämen eine Privatisierung von Gesundheitsrisiken und –kosten in bislang nicht gekannter Dimension, und die Entsolidarisierung mit Geringverdienenden, chronisch kranken und behinderten Menschen würde massiv vorangetrieben.
Der von den Koalitionsparteien geplante steuerliche „Ausgleich“ kann das nicht verhindern und würde immer mehr Menschen zu Bedürftigen stempeln, deren medizinisch notwendiger Schutz von der schwankenden staatlichen Haushaltslage abhängt. Schließlich gibt’s noch die Aussage: „Wir wollen, dass das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung findet. … Dazu gehört auch die Überprüfung des Rechtswegs.“ Schon bei der
Stoff, auf dem die Träume sind
Sticker: NRhZ-Archiv
vergangenen Gesundheitsreform hatten manche Sachverständige befürchtet, dass eine Überführung der GKV vom öffentlichen Recht in das Privatrecht vorbereitet werden könnte. Die GKV-Träger wurden in den vergangenen Jahren immer stärker am Vorbild des Wirtschaftsunternehmens ausgerichtet. Dann hat die Große Koalition mit ihrem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz schon die ganze Palette der entsolidarisierenden Wettbewerbsinstrumente, die charakteristisch für die PKV sind, grundsätzlich auch in die GKV eingeführt. Das führte zu Hinweisen auf wachsende Risiken, dass der Europäische Gerichtshof als Hüter des marktliberalen europäischen Wettbewerbsrechts die Krankenkassen als Wirtschaftsunternehmen einstufen und ihnen das Privileg der öffentlichen Sozialversicherung entziehen könnte.
Wenn künftig „das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der GKV Anwendung finden“ soll, dann könnte sich darin die Absicht andeuten, die Überführung ins Privatrecht nicht dem EuGH zu überlassen, sondern sie selber vorzunehmen. Das wäre der Systemwechsel von der Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht. In den Niederlanden etwa gibt es keine öffentlich-rechtlichen Krankenkassen mehr, sondern man ist verpflichtet, mit einem privaten Krankenversicherer einen Vertrag abzuschließen – gleichsam die private Krankenversicherung für alle.
Und wenn es da heißt, dass auch der Rechtsweg überprüft wird, dann bedeutet das, dass nicht mehr die Sozialgerichte für Fragen der Krankenversicherung zuständig sein sollen, sondern die Zivilgerichte. Würden die Kassen privatrechtliche Unternehmen, könnte man das sogar für folgerichtig halten. Ob dann aber die Sozialverbände (SoVD, VdK) ihre Mitglieder noch in Krankenversicherungsfragen vor Gericht vertreten dürfen, wäre fraglich.
Die Begünstigung der PKV ist im Koalitionsvertrag unverkennbar. Dazu passt wunderbar, dass der Doktor Rösler sich einen profilierten Vertreter der Privatversicherung als zuständigen Mann für die GKV-Reform ins Ministerium geholt hat. Daneben zählen noch die niedergelassenen Ärzte und die Pharma- und Medizintechnikindustrie (z.B. Ablösung des IQWiG-Leiters Prof. Sawicki) zu den Gewinnern.
Pflegeversicherung als „Pflege-Monopoly“?
Da behauptet die Koalition erstmal ganz grundsätzlich, dafür aber vollständig begründungsfrei, die Pflegeversicherung könne auf Basis der Umlagefinanzierung ihre Aufgabe auf Dauer nicht erfüllen. Deshalb wird eine interministerielle Arbeitsgruppe einen Vorschlag zur Einführung einer „obligatorischen und individualisierten“ kapitalgedeckten Privatvorsorge neben dem bestehenden Umlageverfahren erarbeiten.
Ich lese das so, dass man die Absicht hat erstens alle Versicherten zu einer privaten Zusatzversicherung zu verpflichten („obligatorisch“) – ob sie sich das leisten können, ohne Arbeitgeberbeitrag, wird nicht gefragt. Zweitens könnte mein Leistungsanspruch erst in fernerer Zukunft wirksam werden, wenn ich einen Kapitalstock angespart habe („individualisierte“ Kapitaldeckung). Drittens ist diese Zusatzversicherung den Risiken der Kapitalmärkte ausgesetzt (Pflege-Monopoly). Viertens bedeutet diese Privatisierung einen massiven Bedeutungsverlust für die soziale Pflegeversicherung bei der Absicherung der Pflege.
Eigentlich sind durchgreifende Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung längst überfällig, damit sie ihren Gründungsversprechen wieder nachkommen kann. Nämlich die pflegebedingte Armut zu überwinden, indem sie bei Unterbringung im Heim zumindest die Kosten der Pflege im engeren Sinne trägt, also ohne die Kosten der Unterbringung und Verpflegung. Alte Menschen sollten nicht länger nur dadurch zum Sozialfall werden, dass sie pflegebedürftig werden, hieß es damals. Aber davon hat sich die Pflegeversicherung mit ihren gedeckelten Zuschüssen schon weit entfernt. Von Jahr zu Jahr nimmt die Zahl der Pflegebedürftigen wieder zu, die wegen der Pflegekosten in die Sozialhilfe fallen und mit dem geringen Taschengeld teils ihre Medikamente nicht bezahlen können. Was in der ersten Hälfte der 90er Jahre ein sozialpolitischer Skandal war, der die Schaffung eines neuen Zweigs der Sozialversicherung erforderlich machte, wird heute wieder eher als Normalität hingenommen.
Nun kann man der Koalitionsvereinbarung entnehmen, dass es Leistungsverbesserungen der sozialen Pflegeversicherung nicht geben soll. Da heißt es nämlich nach den Aussagen zur kapitalgedeckten Zusatzversicherung: „Die Veränderung in der Finanzierung eröffnet Chancen, die Leistungen der Pflegeversicherung langfristig zu dynamisieren und die Pflegebedürftigkeit – auch zugunsten von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, wie z. B. Demenz - neu zu definieren.“
Da wird die weitere Privatisierung der Pflegeabsicherung zur Voraussetzung für alles weitere – auch für die lange überfällige Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Seit Gründung der Pflegeversicherung wird kritisiert, dass der häufig sehr umfangreiche Betreuungsbedarf von demenzkranken Menschen vom verengten Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI ausgeschlossen ist. Man hatte sich nämlich den Pflegebegriff nicht nach fachlichen Gesichtspunkten, sondern nach Maßgabe der unzureichenden Finanzausstattung der Pflegeversicherung zurechtgeschnitten.
Nachdem dies Problem mehr als zehn Jahre lang hin und her diskutiert worden war und die Politik den Handlungsbedarf schließlich nicht mehr abweisen konnte, hatte die Große Koalition eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von Vorschlägen für eine Neudefinition von Pflegebedürftigkeit beauftragt mit der Maßgabe, dass weitgehende Kostenneutralität gewahrt werden müsse. Mitte 2009 hatte die Arbeitsgruppe ihre Vorschläge vorgelegt, und es wurde erwartet, dass sich in der neuen Wahlperiode endlich was bewegt. Jetzt scheint die Koalition das von der weitergehenden Privatisierung der Pflegeabsicherung abhängig zu machen.
Aus meiner Sicht geht es auch hier - wie bei der Krankenversicherung – darum, die Arbeitgeberseite von künftigen Ausgabensteigerungen freizustellen, indem man das einseitig den Versicherten aufhalst. Und zugleich nimmt man auch hier Kurs darauf, der privaten Versicherungswirtschaft ein neues Geschäftsfeld bei Pflege zu eröffnen, und die Kapitalmärkte mit frischen Milliarden aus den Portemonnaies der Versicherten zu füttern – Riester lässt grüßen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass die Pflegeversicherung der erste Zweig der Sozialversicherung war, für den der Grundsatz der paritätischen Finanzierung von vornherein keine Rolle mehr spielte, weil ja die Arbeitgeber für ihren Beitragsanteil mit dem Feiertagsklau beim Buß- und Bettag entschädigt wurden.
Rente mit 67: Kürzung bis zur Bedürftigkeitsprüfung?
Zur gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) gibt der Koalitionsvertrag nicht allzu viel Neues her. Erklärtes Ziel ist die „Stärkung der kapitalgedeckten Altersvorsorge“. Dazu wird man prüfen, ob „weitere Personengruppen, insbesondere Selbständige“ in die staatlich geförderte Altersvorsorge, also in die Riester-Rente, einbezogen werden.
Nun tragen die kleinen Selbständigen tatsächlich nachweislich ein häufig überdurchschnittlich hohes Altersarmutsrisiko. Deshalb wird seit langem gefordert, dass sie in die GRV einbezogen werden, was auch zur Stärkung der GRV und zu ihrer Weiterentwicklung zu einer Erwerbstätigenversicherung beitragen würde. Aber die Fortentwicklung und Stärkung des Solidarsystems ist nicht gewollt, weil die Politik mehr denn je anderen Interessen gehorcht.
Die Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet, dieses Jahr zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anhebung des Rentenalters auf 67 ab 2012 gegeben sind. Dazu schweigt der Koalitionsvertrag. Gewerkschaften und Sozialverbände haben hierzu mittlerweile drei Monitoring-Berichte über die entsprechenden tatsächlichen Entwicklungen vorgelegt, die alle zu dem eindeutigen Ergebnis kommen, dass die geforderten Voraussetzungen schon im Hinblick auf die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation der Älteren nicht gegeben sind. Die Anhebung des Rentenalters bedeutet in aller Regel nicht, dass länger gearbeitet wird, sondern dass zusätzliche Rentenkürzungen in Gestalt von Abschlägen eintreten.
Aber die Bundesregierung wird hier kaum einlenken wollen. Der seit Riester geltende Kurs auf die vorrangige Stärkung der Privatvorsorge zum Nachteil der gesetzlichen Rentenversicherung, also auf Beitragsentlastung der Arbeitgeber und Förderung der Finanzdienstleister am Kapitalmarkt, wird fortgesetzt. Also wird man wohl das Rentenniveau entsprechend der bereits geschaffenen Rechtslage planmäßig in den Keller sinken lassen. Sieben Jahre Nullrunden werden prognostiziert. Derweil haben immer mehr Menschen keine Chance, sich mit anständiger Arbeit ausreichende Rentenansprüche zu erarbeiten.
Wenn es nicht gelingt, hier einen politischen Richtungswechsel durchzusetzen, werden wir eine neue Altersarmut großen Umfangs erleben. Und wenn man am Ende auch nach einem normalen Erwerbsleben keinen Rentenanspruch oberhalb der Sozialhilfe mehr erreicht, ist die Legitimation der gesetzlichen Rentenversicherung zerstört. Die Koalition begegnet der Altersarmut mit dem Wunsch, dass private und betriebliche Vorsorge auch für Geringverdiener „lohnen“ soll. Woher die Geringverdiener das Geld nehmen sollen, sagt sie nicht.
Und weiter sagt sie, dass es bei lebenslanger Vollzeitarbeit und Vorsorge mindestens ein bedarfsabhängiges und steuerfinanziertes Alterseinkommen
Armut per Gesetz
Foto: Karin Richart
oberhalb der Grundsicherung geben soll. Bedarfsabhängige und steuerfinanzierte Leistungen sind grundsätzlich Fürsorgeleistungen wie die Grundsicherung. Wer als Niedriglöhner durchgehend vollzeitbeschäftigt war und vorgesorgt hat, dem will man trotzdem keinen beitragsfinanzierten Rentenanspruch oberhalb der Grundsicherung sichern, sondern der soll eine bedürftigkeitsgeprüfte und steuerfinanzierte Leistung erhalten – ich sage mal „Grundsicherung plus“. Und dabei haben die am meisten von Altersarmut Bedrohten - Frauen, Niedriglöhner und Erwerbslose - meist gar keine Chance, die dafür genannten Voraussetzungen lebenslanger Vollzeitarbeit und Vorsorge zu erfüllen.
Stärkung der kapitalgedeckten Privatvorsorge bei der Alterssicherung, massive Privatisierungstendenzen in der Kranken- und Pflegeversicherung – darin scheint sich ein Leitsatz des Koalitionsvertrags zu konkretisieren: „Staatlichen Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten sind konsequent zu überprüfen und bei nachgewiesener Wirtschaftlichkeit mit Hilfe des privaten Anbieters umzusetzen.“ Privat vor Staat, Markt vor demokratisch legitimierter öffentlicher Verantwortung – das kennt NRW schon von der Landesregierung.
Auch im Visier: die Unfallversicherung
Bei der gesetzlichen Unfallversicherung wird „der Leistungskatalog mit Blick auf ein zielgenaues Leistungsrecht überprüft“ und die „Wirtschaftlichkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften wird verbessert“. Das lässt auch hier Angriffe auf das Leistungsrecht zwecks Entlastung der Arbeitgeber befürchten, etwa hinsichtlich der Absicherung von Wegeunfällen.
Hartz IV und weitere Armutsprojekte
Was die Grundsicherungen angeht, also Hartz IV und Sozialhilfe, so stehen auch da die Zeichen auf Verschlechterung, soweit nicht das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zu einer Verbesserung bei den Regelsätzen zwingt. Den „HartzerInnen“ steht erstmal eine Regelsatzkürzung um acht Euro in Haus - durch die gewollten Zusatzbeiträge zur GKV, die bei Hartz IV bislang nicht übernommen werden. Sodann will die Koalition „die Kosten der Unterkunft transparent und rechtssicher ausgestalten“. Dazu wird sie prüfen, „die Energie- und Nebenkosten sowie ggf. die Kosten der Unterkunft zu pauschalieren.“ Dies soll „auch dazu beitragen, dass die Zahl der Prozesse in diesem Bereich zurückgeht und gleichzeitig Anreize für einen sparsamen Energieverbrauch“ gesetzt werden.
Zynischer geht’s kaum. Denn es gibt einen zwingenden Grund, warum die Miet- und Heizkosten seit bestehen des Sozialhilferechts nie pauschaliert wurden. Diese Kosten fallen durch Umstände, die bedürftige MieterInnen gar nicht beeinflussen können, von Region zu Region, von Ort zu Ort und von Gebäude zu Gebäude sehr unterschiedlich aus. Pauschalierungen bei Miete und/oder Heizung bedeuten immer, dass die einen ihre Wohnung nicht bezahlen können, während andere mit besonders niedrigen Wohnkosten faktisch einen höheren Regelsatz erhielten. Die Höhe der Pauschale definiert dann das quantitative Verhältnis zwischen Verlierern und Gewinnern. Mit dem grundlegenden Prinzip individueller Bedarfsdeckung wäre dies völlig unvereinbar. „Transparent und rechtssicher“ im Sinne der Bedarfsdeckung wäre umgekehrt eine deutliche Stärkung des Anspruchs auf Übernahme der tatsächlichen Kosten bei Einschränkung des „Ermessens“ der Kostenträger.
Ein erheblicher Teil der Hartz IV-Klagen betrifft Fälle, in denen die ARGE ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Übernahme der angemessenen Wohnkosten in tatsächlicher Höhe nicht nachkommt, weil die Kommune – die ist hier ja Kostenträger – da Einsparungen erzielen will. Wenn die Bundesregierung Pauschalierungen bei Heizung und Miete prüft, dann prüft sie nicht anderes, als bislang rechtswidrige Praktiken zum Gesetz zu erheben.
Die mögliche Pauschalierung der Wohnkosten ist im Koalitionsvertrag gekoppelt an die Reform der SGB II-Trägerschaft. Während die Optionskommunen unbefristet weitermachen sollen, ist ansonsten eine getrennte Aufgabenträgerschaft von Bundesagentur und Kommunen vorgesehen. Ein hierzu von der Bundesregierung vorgelegtes Eckpunktepapier steht im begründeten Verdacht der Verfassungswidrigkeit (Prof. Dr. Wieland, Hochschule f. Verwaltungswissenschaften, Speyer).
Zur (oben erwähnten) „Verbesserung der Arbeitsanreize“ für gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse zählt auch die geplante Verbesserung der Hinzuverdienstregelungen. Dies bedeutet nichts anderes, als den Kombilohn-Charakter des ALG II („Aufstocker“) bei Mini-Jobs und Armutslöhnen weiter auszuweiten und die Deregulierung des Erwerbssystems erneut mittels Hartz IV voranzutreiben.
Die beabsichtigte Anhebung der Schongrenzen für Altersvorsorgevermögen sowie der „umfassende“ Schutz selbstgenutzen Wohneigentums würde die private Altersvorsorge privilegieren und allein jene kleine Minderheit künftiger ALG II-Bezieher begünstigen, die über nennenswertes Vermögen verfügen. Gleichwohl dürften die Maßnahmen verkauft werden als „Schutz“ von ArbeitnehmerInnen, die aus längerer regulärer Beschäftigung über ALG I neu in Hartz IV zu geraten drohen - statt angemessene Ansprüche in der Arbeitslosenversicherung zu sichern, die seit den Hartz-Reformen für die große Mehrheit der Erwerbslosen als Sicherungssystem außer Funktion trat.
Entgegen dem „betroffenenfreundlichen“ Anschein erscheinen sowohl die Ausweitung der Hinzuverdienstgrenzen als auch des Vermögensschutzes aus sozialpolitischer Sicht problematisch. Die Begünstigung Weniger verstärkt umgekehrt die materielle Benachteiligung der großen Mehrheit der Hilfebedürftigen, die keine Chance haben, die angehobenen Freigrenzen auszuschöpfen. Darüber hinaus wird der für bedarfsabhängige Mindestsicherungssysteme konstitutive Vorrang der eigenständigen Existenzsicherung ausgehöhlt.
Sozialgerichtsbarkeit nach Gutsherrenart?
Die Koalition will den Ländern die Möglichkeit eröffnen, die Sozialgerichte mit den Verwaltungsgerichten zusammen zu legen und die eigenständige Sozialgerichtsbarkeit abzuschaffen. Wo davon Gebrauch gemacht würde, geriete die fachliche Qualität der Rechtsprechung in sozialrechtlichen Fragen akut in Gefahr – zum Nachteil der KlägerInnen, die oft um existenzielle Belange kämpfen. Allerdings erscheint die Umsetzung dieses Vorhabens zurzeit nicht sehr wahrscheinlich, weil eine uneinheitliche Organisation der Gerichtsbarkeiten in den Ländern schwerwiegende verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. Grundsätzlich gilt, dass die eigenständige Sozialgerichtsbarkeit als Ausdruck von Sozialstaatlichkeit bundesweit erhalten werden muss. Doch die Bundesregierung will auch prüfen, inwieweit das Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferecht reformiert werden kann, um „missbräuchlicher Inanspruchnahme entgegen zu wirken“. Damit würde der Zugang zum Recht für ärmere Menschen erschwert, wenn nicht gar vielfach unmöglich gemacht wird. Pointiert gesagt, soll hier dem Abbau des Sozialstaats offenbar der Abbau des Rechtsstaats folgen.
Steuerpolitik für Besserverdienende
Ungeachtet der großen finanziellen Herausforderungen, der die öffentlichen Haushalte und die Sozialversicherung in Folge der Weltwirtschaftskrise gegenüber stehen, orientiert der Vertrag auf erneute finanzielle Entlastungen für Unternehmen und höhere Einkommen. Ein erster Teil der entsprechenden steuerlichen Maßnahmen wurde mit dem
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Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ bereits umgesetzt. Damit werden pro Jahr rund 8,5 Milliarden umverteilt, gut 3,8 Milliarden davon auf Kosten der Länder und Gemeinden. Steuergeschenke von 3,9 Milliarden pro Jahr gehen direkt an Unternehmen und reiche Erben. Die anderen 4,6 Milliarden entfallen auf die Kindergelderhöhung und vor allem den steuerlichen Kinderfreibetrag. Auch da sind die Verteilungswirkungen problematisch. Während es für Kinder im Sozialgeldbezug von Hartz IV keinen Cent mehr gibt, weil denen die Kindergelderhöhung von der Leistung abgezogen wird, profitieren höhere Einkommen vom Kinderfreibetrag doppelt so stark wie diejenigen, die das Kindergeld erhalten.
„Wachstumsbremsungsgesetz“ wäre ein zutreffenderer Titel für das Gesetz. Denn die Steuergeschenke für Arbeitgeber, Erben und Besserverdienende schwächen die öffentliche und die private Nachfrage und sind damit eher Gift für die Konjunktur. Dem Grunde nach drückt sich darin die Grundsatzentscheidung aus, dass Arbeitgeber und privater Reichtum zur Bewältigung der Krisenlasten möglichst nicht oder nur nachrangig herangezogen werden sollen.
Ob auch noch die von der FDP geforderte radikale Einkommensteuerreform, die der Vertrag für 2011 in Aussicht stellt, tatsächlich kommt, das mag angesichts der Verschuldungsrekorde vorerst zweifelhaft bleiben. Jedenfalls hat die Koalition nochmals ihre Absicht zur Einführung eines Stufentarifs bekräftigt. Damit würde das Ende des sozialstaatlichen Grundsatzes der progressiven Besteuerung eingeläutet. Die damit verbundenen Steuerausfälle würden indes erneute „Sachzwänge“ für noch schärfere Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung zu Lasten sozialer Leistungen schaffen. (HDH)
Online-Flyer Nr. 234 vom 27.01.2010
Was die Berliner Tigerenten-Koalition dem Wahlvolk zugedacht hat
Sozialpolitische Grausamkeiten
Von Daniel Kreutz
Finanzbasis der Sozialversicherung
Die Finanzbasis unserer Sozialversicherung liegt in den beitragspflichtigen Löhnen und Gehältern. Die sind anhaltender Auszehrung ausgesetzt, durch die Massenerwerbslosigkeit schon seit 30 Jahren, wie sich herumgesprochen haben dürfte. Dazu kamen dann die Ausbreitung des Niedriglohnsektors, der Mini-Jobs und die insgesamt zurückbleibende
Von nichts kommt nichts
Foto: NRhZ-Archiv
Nach den Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft – also eines arbeitgeberfreundlichen Instituts – wäre die Bruttoentgeltsumme im Jahr 2008 um 110 Milliarden Euro höher ausgefallen, wenn wir da noch die Bruttolohnquote von 1991 gehabt hätten. Das gibt einen Eindruck von der Umverteilung zu Gunsten der Arbeitgeber und Vermögensbesitzer, und zu Ungunsten nicht zuletzt auch der Sozialversicherung allein in einem Jahr.
Politik für die Sicherung des Sozialstaats müsste diese Entwicklung zwingend stoppen und umkehren: mit Mindestlohn, mit Zurückdrängung von Niedriglöhnen und geringfügiger Beschäftigung und mit einem wirksamen Beschäftigungsaufbau. Die Aussagen des Koalitionsvertrags weisen stattdessen in die gegenteilige Richtung.
Merkel will Armutslöhne für rechtens erklären
Angela Merkels Koalition schließt nicht nur einen flächendeckenden gesetzlicher Mindestlohn grundsätzlich aus, sondern sie will auch bis Oktober 2011 prüfen, ob die bestehenden Mindestlöhne nach Entsendegesetz bleiben oder aufgehoben werden sollten. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen, also neue Mindestlöhne, sind nur möglich, wenn darüber Einvernehmen im Kabinett besteht – da hat also der marktradikale Herr Brüderle von der FDP sozusagen ein Vetorecht. Vereinbart ist auch, die Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich festzuschreiben. Sittenwidrig sind Löhne nach der Rechtsprechung dann, wenn sie um mindestens ein Drittel niedriger sind als die üblichen Tariflöhne. Wenn das zum Gesetz erhoben wird, werden vielfach Armutslöhne für rechtens erklärt. Die Grenze der Rechtswidrigkeit läge dann beispielsweise im NRW-Einzelhandel bezogen auf die unterste Tarifgruppe bei 5,15 Euro und in der westdeutschen Systemgastronomie bei 4,80. In Ostdeutschland ginge dass bis zu 2,04 Euro Hungerlohn im sächsischen Friseurhandwerk.
Darüber hinaus will die Koalition die befristete Beschäftigung nach der Hire-and-Fire-Methode ausbauen, nämlich das Befristungen ohne sachlichen Grund. Zur Verbesserung der – wie es so schön heißt - „Arbeitsanreize“ für gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse prüft sie eine Erhöhung und Dynamisierung der 400-Euro-Grenze bei Mini-Jobs.
Insgesamt weisen die Vereinbarungen zur Arbeitsmarktpolitik in Richtung weiterer Prekarisierung des Arbeitsmarkts – und damit zugleich auch in Richtung einer weiteren Schwächung der Finanzbasis der Sozialversicherung. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, was uns immer noch blühen kann, wenn das Krisen-Kurzarbeitergeld schließlich doch ausläuft.
Sozialversicherung: Privatisierung statt Solidarität
Den Versicherten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung drohen massive Privatisierungsschritte, die die solidarische Struktur dieser beiden Zweige der Sozialversicherung sehr grundsätzlich in Frage stellen. Was die gesetzliche Krankenversicherung angeht, für die jetzt der ehemalige Herr Sanitätsoffizier Doktor Philipp Rösler zuständig ist, so wird eine Regierungskommission jetzt Schritte zur „weitgehenden Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten“ festlegen. Das bedeutet, dass Kostensteigerungen ganz überwiegend von den Versicherten bezahlt werden sollen. Dazu ist vereinbart, dass der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird, also ungeachtet der Ausgabenentwicklung fest bleibt. Das ist dann das vollständige Ende der paritätischen Finanzierung, in der der Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums bislang seine vielleicht wichtigste Konkretisierung erfahren hat.
Hier soll ein Ausstieg auf Raten vollendet werden, der unter Rot-Grün eingeleitet und von der Großen Koalition mit den Zusatzbeiträgen im System des Gesundheitsfonds fortentwickelt wurde.
Falsch gedacht?
Foto: H.-D. Hey
Der Zwang zur Erhebung von Zusatzbeiträgen wird wachsen, wenn – wie im Koalitionsvertrag festgelegt – „der Morbi-RSA auf das notwendige Maß reduziert“ wird. Das betrifft den morbiditätsbezogenen, also den krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich zwischen den einzelnen Krankenkassen. Den hat man zusammen mit dem Gesundheitsfonds geschaffen, um bei den Zuweisungen aus dem Fonds an die Kassen auch deren Leistungsausgaben für ausgewählte, besonders kostenintensive Krankheitsbilder berücksichtigen zu können, und damit den (per Zusatzbeitrag verschärften) Kassenwettbewerb um Gesunde zum Nachteil der schwer und chronisch Kranken zu begrenzen. Den Morbi-RSA reduzieren bedeutet, die Defizitrisiken für Kassen mit hohen Leistungsausgaben zu erhöhen und die Erhebung von Zusatzbeiträgen oder deren Erhöhung zu beschleunigen.
Mehrbelastung für kleine zugunsten großer Einkommen
Grundsätzlich könnte die Aufhebung der bisherigen Begrenzungen der Zusatzbeiträge - vor allem der acht-Euro-Grenze für einkommensunabhängige Pauschalen - ein Weg sein, um die Arbeitgeberbeiträge einzufrieren und Mehrkosten einseitig bei den Versicherten abzuladen. Denn der zweite Teils des Auftrags für die Regierungskommission zur GKV-Reform ist: sie soll zugleich die Umstellung der Finanzierung auf „einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge“ vorbereiten – die Kopfpauschale soll kommen. Dann würden alle gesetzlich Versicherten – ob Niedriglöhner oder freiwillig versicherter Spitzenverdiener – den gleichen Eurobetrag als Beitrag zahlen. Damit würden geringere Einkommen höher belastet und höhere Einkommen entlastet.
Ausdrücklich will die Koalition den sozialen Ausgleich zwischen ärmeren und wohlhabenderen Versicherten, der durch die Beitragsbemessungsgrenze ja ohnehin stark eingeschränkt ist, vollständig aus der GKV entfernen. Stattdessen soll es dann für die Ärmeren – wer das ist, wird Schwarz-Gelb definieren - einen Ausgleich aus Steuermitteln geben. Dann kommt der Sozialhilfestaat und fragt: Biste bedürftig oder nicht?
Wie der Ausgleich aussehen soll, weiß natürlich noch niemand. Aber eines ist klar: etwa 70 Prozent des Steueraufkommens kommen aus Lohn- und Konsumsteuern. Also wird auch der so genannte soziale Ausgleich für die Kopfpauschale von der Masse der Bevölkerung aufgebracht - einschließlich aller Hartz IV-Bezieher, die bei jedem Einkauf Mehrwertsteuer bezahlen.
Auch die Leistungsseite der GKV soll unter Feuer genommen werden. „Versicherte sollen auf der Basis des bestehenden Leistungskatalogs soweit wie möglich ihren Krankenversicherungsschutz selbst gestalten können. “Dazu soll es einerseits vermehrt Wahltarife in der GKV geben, und
anderseits soll die Zusammenarbeit mit der PKV bei Wahl- und Zusatzleistungen ausgebaut werden. Was das konkret bedeuten wird, wissen wir noch nicht.
Aber wir müssen damit rechnen, dass hier das Ende des einheitlichen Leistungskatalogs in der GKV eingeläutet wird. Dass man also bestimmte Leistungen im Krankheitsfall abwählen kann, um einen billigeren Tarif zu bekommen, und dass man die Sicherungslücken dann mit einem Zusatzvertrag bei der PKV schließen soll. Das wäre das Ende der einheitlichen Absicherung aller medizinisch notwendigen Leistungen in der GKV - mit womöglich verheerenden Folgen im Einzelfall. Klar ist jedenfalls: jedes Mal, wenn ein jüngerer gesunder Menschen einen Billigtarif wählt, werden dem Solidarsystem Beitragsmittel entzogen, die zur Versorgung von schwer und chronisch kranken Menschen dringend benötigt werden. Wahltarife in der GKV bedeuten Ausstieg aus dem grundlegenden Solidarprinzip: dass nämlich die Gesunden für die Kranken einstehen.
Schwerkranke und Behinderte: „Pech gehabt“?
Dann deutet sich im Koalitionsvertrag noch die Absicht zur weiteren Aushöhlung des Sachleistungsprinzips der GKV an. Sachleistungsprinzip bedeutet: wenn ich krank bin, trägt die Krankenkasse meine notwendigen Behandlungskosten, egal wie hoch die sind. Nun will die Koalition prüfen, wo über die bislang schon betroffenen Leistungsbereiche hinaus (Zahnersatz, Arzneimittel, Reha) Festzuschüsse zum Tragen kommen können. Festzuschüsse bedeuten, dass behandlungsbedürftige Menschen den Teil der Kosten, der über den Zuschuss hinausgeht, selber tragen müssen, wenn sie das nicht über eine private Zusatzversicherung auffangen.
Zusammenfassend kann man also sagen: Die Versicherten sollen durch Wahltarife und Festzuschüsse dazu gedrängt werden, private Zusatzversicherungen abzuschließen bzw. bei Krankheit erheblich höhere Zuzahlungen erbringen zu müssen, an denen sich die Arbeitgeber nicht mehr beteiligen. Immer mehr Menschen könnten sich einen umfassenden Krankenversicherungsschutz nicht mehr leisten. Wir bekämen eine Privatisierung von Gesundheitsrisiken und –kosten in bislang nicht gekannter Dimension, und die Entsolidarisierung mit Geringverdienenden, chronisch kranken und behinderten Menschen würde massiv vorangetrieben.
Der von den Koalitionsparteien geplante steuerliche „Ausgleich“ kann das nicht verhindern und würde immer mehr Menschen zu Bedürftigen stempeln, deren medizinisch notwendiger Schutz von der schwankenden staatlichen Haushaltslage abhängt. Schließlich gibt’s noch die Aussage: „Wir wollen, dass das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung findet. … Dazu gehört auch die Überprüfung des Rechtswegs.“ Schon bei der
Stoff, auf dem die Träume sind
Sticker: NRhZ-Archiv
Wenn künftig „das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der GKV Anwendung finden“ soll, dann könnte sich darin die Absicht andeuten, die Überführung ins Privatrecht nicht dem EuGH zu überlassen, sondern sie selber vorzunehmen. Das wäre der Systemwechsel von der Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht. In den Niederlanden etwa gibt es keine öffentlich-rechtlichen Krankenkassen mehr, sondern man ist verpflichtet, mit einem privaten Krankenversicherer einen Vertrag abzuschließen – gleichsam die private Krankenversicherung für alle.
Und wenn es da heißt, dass auch der Rechtsweg überprüft wird, dann bedeutet das, dass nicht mehr die Sozialgerichte für Fragen der Krankenversicherung zuständig sein sollen, sondern die Zivilgerichte. Würden die Kassen privatrechtliche Unternehmen, könnte man das sogar für folgerichtig halten. Ob dann aber die Sozialverbände (SoVD, VdK) ihre Mitglieder noch in Krankenversicherungsfragen vor Gericht vertreten dürfen, wäre fraglich.
Die Begünstigung der PKV ist im Koalitionsvertrag unverkennbar. Dazu passt wunderbar, dass der Doktor Rösler sich einen profilierten Vertreter der Privatversicherung als zuständigen Mann für die GKV-Reform ins Ministerium geholt hat. Daneben zählen noch die niedergelassenen Ärzte und die Pharma- und Medizintechnikindustrie (z.B. Ablösung des IQWiG-Leiters Prof. Sawicki) zu den Gewinnern.
Pflegeversicherung als „Pflege-Monopoly“?
Da behauptet die Koalition erstmal ganz grundsätzlich, dafür aber vollständig begründungsfrei, die Pflegeversicherung könne auf Basis der Umlagefinanzierung ihre Aufgabe auf Dauer nicht erfüllen. Deshalb wird eine interministerielle Arbeitsgruppe einen Vorschlag zur Einführung einer „obligatorischen und individualisierten“ kapitalgedeckten Privatvorsorge neben dem bestehenden Umlageverfahren erarbeiten.
Ich lese das so, dass man die Absicht hat erstens alle Versicherten zu einer privaten Zusatzversicherung zu verpflichten („obligatorisch“) – ob sie sich das leisten können, ohne Arbeitgeberbeitrag, wird nicht gefragt. Zweitens könnte mein Leistungsanspruch erst in fernerer Zukunft wirksam werden, wenn ich einen Kapitalstock angespart habe („individualisierte“ Kapitaldeckung). Drittens ist diese Zusatzversicherung den Risiken der Kapitalmärkte ausgesetzt (Pflege-Monopoly). Viertens bedeutet diese Privatisierung einen massiven Bedeutungsverlust für die soziale Pflegeversicherung bei der Absicherung der Pflege.
Eigentlich sind durchgreifende Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung längst überfällig, damit sie ihren Gründungsversprechen wieder nachkommen kann. Nämlich die pflegebedingte Armut zu überwinden, indem sie bei Unterbringung im Heim zumindest die Kosten der Pflege im engeren Sinne trägt, also ohne die Kosten der Unterbringung und Verpflegung. Alte Menschen sollten nicht länger nur dadurch zum Sozialfall werden, dass sie pflegebedürftig werden, hieß es damals. Aber davon hat sich die Pflegeversicherung mit ihren gedeckelten Zuschüssen schon weit entfernt. Von Jahr zu Jahr nimmt die Zahl der Pflegebedürftigen wieder zu, die wegen der Pflegekosten in die Sozialhilfe fallen und mit dem geringen Taschengeld teils ihre Medikamente nicht bezahlen können. Was in der ersten Hälfte der 90er Jahre ein sozialpolitischer Skandal war, der die Schaffung eines neuen Zweigs der Sozialversicherung erforderlich machte, wird heute wieder eher als Normalität hingenommen.
Nun kann man der Koalitionsvereinbarung entnehmen, dass es Leistungsverbesserungen der sozialen Pflegeversicherung nicht geben soll. Da heißt es nämlich nach den Aussagen zur kapitalgedeckten Zusatzversicherung: „Die Veränderung in der Finanzierung eröffnet Chancen, die Leistungen der Pflegeversicherung langfristig zu dynamisieren und die Pflegebedürftigkeit – auch zugunsten von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, wie z. B. Demenz - neu zu definieren.“
Da wird die weitere Privatisierung der Pflegeabsicherung zur Voraussetzung für alles weitere – auch für die lange überfällige Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Seit Gründung der Pflegeversicherung wird kritisiert, dass der häufig sehr umfangreiche Betreuungsbedarf von demenzkranken Menschen vom verengten Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI ausgeschlossen ist. Man hatte sich nämlich den Pflegebegriff nicht nach fachlichen Gesichtspunkten, sondern nach Maßgabe der unzureichenden Finanzausstattung der Pflegeversicherung zurechtgeschnitten.
Nachdem dies Problem mehr als zehn Jahre lang hin und her diskutiert worden war und die Politik den Handlungsbedarf schließlich nicht mehr abweisen konnte, hatte die Große Koalition eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von Vorschlägen für eine Neudefinition von Pflegebedürftigkeit beauftragt mit der Maßgabe, dass weitgehende Kostenneutralität gewahrt werden müsse. Mitte 2009 hatte die Arbeitsgruppe ihre Vorschläge vorgelegt, und es wurde erwartet, dass sich in der neuen Wahlperiode endlich was bewegt. Jetzt scheint die Koalition das von der weitergehenden Privatisierung der Pflegeabsicherung abhängig zu machen.
Aus meiner Sicht geht es auch hier - wie bei der Krankenversicherung – darum, die Arbeitgeberseite von künftigen Ausgabensteigerungen freizustellen, indem man das einseitig den Versicherten aufhalst. Und zugleich nimmt man auch hier Kurs darauf, der privaten Versicherungswirtschaft ein neues Geschäftsfeld bei Pflege zu eröffnen, und die Kapitalmärkte mit frischen Milliarden aus den Portemonnaies der Versicherten zu füttern – Riester lässt grüßen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass die Pflegeversicherung der erste Zweig der Sozialversicherung war, für den der Grundsatz der paritätischen Finanzierung von vornherein keine Rolle mehr spielte, weil ja die Arbeitgeber für ihren Beitragsanteil mit dem Feiertagsklau beim Buß- und Bettag entschädigt wurden.
Rente mit 67: Kürzung bis zur Bedürftigkeitsprüfung?
Zur gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) gibt der Koalitionsvertrag nicht allzu viel Neues her. Erklärtes Ziel ist die „Stärkung der kapitalgedeckten Altersvorsorge“. Dazu wird man prüfen, ob „weitere Personengruppen, insbesondere Selbständige“ in die staatlich geförderte Altersvorsorge, also in die Riester-Rente, einbezogen werden.
Nun tragen die kleinen Selbständigen tatsächlich nachweislich ein häufig überdurchschnittlich hohes Altersarmutsrisiko. Deshalb wird seit langem gefordert, dass sie in die GRV einbezogen werden, was auch zur Stärkung der GRV und zu ihrer Weiterentwicklung zu einer Erwerbstätigenversicherung beitragen würde. Aber die Fortentwicklung und Stärkung des Solidarsystems ist nicht gewollt, weil die Politik mehr denn je anderen Interessen gehorcht.
Die Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet, dieses Jahr zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anhebung des Rentenalters auf 67 ab 2012 gegeben sind. Dazu schweigt der Koalitionsvertrag. Gewerkschaften und Sozialverbände haben hierzu mittlerweile drei Monitoring-Berichte über die entsprechenden tatsächlichen Entwicklungen vorgelegt, die alle zu dem eindeutigen Ergebnis kommen, dass die geforderten Voraussetzungen schon im Hinblick auf die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation der Älteren nicht gegeben sind. Die Anhebung des Rentenalters bedeutet in aller Regel nicht, dass länger gearbeitet wird, sondern dass zusätzliche Rentenkürzungen in Gestalt von Abschlägen eintreten.
Aber die Bundesregierung wird hier kaum einlenken wollen. Der seit Riester geltende Kurs auf die vorrangige Stärkung der Privatvorsorge zum Nachteil der gesetzlichen Rentenversicherung, also auf Beitragsentlastung der Arbeitgeber und Förderung der Finanzdienstleister am Kapitalmarkt, wird fortgesetzt. Also wird man wohl das Rentenniveau entsprechend der bereits geschaffenen Rechtslage planmäßig in den Keller sinken lassen. Sieben Jahre Nullrunden werden prognostiziert. Derweil haben immer mehr Menschen keine Chance, sich mit anständiger Arbeit ausreichende Rentenansprüche zu erarbeiten.
Wenn es nicht gelingt, hier einen politischen Richtungswechsel durchzusetzen, werden wir eine neue Altersarmut großen Umfangs erleben. Und wenn man am Ende auch nach einem normalen Erwerbsleben keinen Rentenanspruch oberhalb der Sozialhilfe mehr erreicht, ist die Legitimation der gesetzlichen Rentenversicherung zerstört. Die Koalition begegnet der Altersarmut mit dem Wunsch, dass private und betriebliche Vorsorge auch für Geringverdiener „lohnen“ soll. Woher die Geringverdiener das Geld nehmen sollen, sagt sie nicht.
Und weiter sagt sie, dass es bei lebenslanger Vollzeitarbeit und Vorsorge mindestens ein bedarfsabhängiges und steuerfinanziertes Alterseinkommen
Armut per Gesetz
Foto: Karin Richart
Stärkung der kapitalgedeckten Privatvorsorge bei der Alterssicherung, massive Privatisierungstendenzen in der Kranken- und Pflegeversicherung – darin scheint sich ein Leitsatz des Koalitionsvertrags zu konkretisieren: „Staatlichen Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten sind konsequent zu überprüfen und bei nachgewiesener Wirtschaftlichkeit mit Hilfe des privaten Anbieters umzusetzen.“ Privat vor Staat, Markt vor demokratisch legitimierter öffentlicher Verantwortung – das kennt NRW schon von der Landesregierung.
Auch im Visier: die Unfallversicherung
Bei der gesetzlichen Unfallversicherung wird „der Leistungskatalog mit Blick auf ein zielgenaues Leistungsrecht überprüft“ und die „Wirtschaftlichkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften wird verbessert“. Das lässt auch hier Angriffe auf das Leistungsrecht zwecks Entlastung der Arbeitgeber befürchten, etwa hinsichtlich der Absicherung von Wegeunfällen.
Hartz IV und weitere Armutsprojekte
Was die Grundsicherungen angeht, also Hartz IV und Sozialhilfe, so stehen auch da die Zeichen auf Verschlechterung, soweit nicht das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zu einer Verbesserung bei den Regelsätzen zwingt. Den „HartzerInnen“ steht erstmal eine Regelsatzkürzung um acht Euro in Haus - durch die gewollten Zusatzbeiträge zur GKV, die bei Hartz IV bislang nicht übernommen werden. Sodann will die Koalition „die Kosten der Unterkunft transparent und rechtssicher ausgestalten“. Dazu wird sie prüfen, „die Energie- und Nebenkosten sowie ggf. die Kosten der Unterkunft zu pauschalieren.“ Dies soll „auch dazu beitragen, dass die Zahl der Prozesse in diesem Bereich zurückgeht und gleichzeitig Anreize für einen sparsamen Energieverbrauch“ gesetzt werden.
Zynischer geht’s kaum. Denn es gibt einen zwingenden Grund, warum die Miet- und Heizkosten seit bestehen des Sozialhilferechts nie pauschaliert wurden. Diese Kosten fallen durch Umstände, die bedürftige MieterInnen gar nicht beeinflussen können, von Region zu Region, von Ort zu Ort und von Gebäude zu Gebäude sehr unterschiedlich aus. Pauschalierungen bei Miete und/oder Heizung bedeuten immer, dass die einen ihre Wohnung nicht bezahlen können, während andere mit besonders niedrigen Wohnkosten faktisch einen höheren Regelsatz erhielten. Die Höhe der Pauschale definiert dann das quantitative Verhältnis zwischen Verlierern und Gewinnern. Mit dem grundlegenden Prinzip individueller Bedarfsdeckung wäre dies völlig unvereinbar. „Transparent und rechtssicher“ im Sinne der Bedarfsdeckung wäre umgekehrt eine deutliche Stärkung des Anspruchs auf Übernahme der tatsächlichen Kosten bei Einschränkung des „Ermessens“ der Kostenträger.
Ein erheblicher Teil der Hartz IV-Klagen betrifft Fälle, in denen die ARGE ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Übernahme der angemessenen Wohnkosten in tatsächlicher Höhe nicht nachkommt, weil die Kommune – die ist hier ja Kostenträger – da Einsparungen erzielen will. Wenn die Bundesregierung Pauschalierungen bei Heizung und Miete prüft, dann prüft sie nicht anderes, als bislang rechtswidrige Praktiken zum Gesetz zu erheben.
Die mögliche Pauschalierung der Wohnkosten ist im Koalitionsvertrag gekoppelt an die Reform der SGB II-Trägerschaft. Während die Optionskommunen unbefristet weitermachen sollen, ist ansonsten eine getrennte Aufgabenträgerschaft von Bundesagentur und Kommunen vorgesehen. Ein hierzu von der Bundesregierung vorgelegtes Eckpunktepapier steht im begründeten Verdacht der Verfassungswidrigkeit (Prof. Dr. Wieland, Hochschule f. Verwaltungswissenschaften, Speyer).
Zur (oben erwähnten) „Verbesserung der Arbeitsanreize“ für gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse zählt auch die geplante Verbesserung der Hinzuverdienstregelungen. Dies bedeutet nichts anderes, als den Kombilohn-Charakter des ALG II („Aufstocker“) bei Mini-Jobs und Armutslöhnen weiter auszuweiten und die Deregulierung des Erwerbssystems erneut mittels Hartz IV voranzutreiben.
Die beabsichtigte Anhebung der Schongrenzen für Altersvorsorgevermögen sowie der „umfassende“ Schutz selbstgenutzen Wohneigentums würde die private Altersvorsorge privilegieren und allein jene kleine Minderheit künftiger ALG II-Bezieher begünstigen, die über nennenswertes Vermögen verfügen. Gleichwohl dürften die Maßnahmen verkauft werden als „Schutz“ von ArbeitnehmerInnen, die aus längerer regulärer Beschäftigung über ALG I neu in Hartz IV zu geraten drohen - statt angemessene Ansprüche in der Arbeitslosenversicherung zu sichern, die seit den Hartz-Reformen für die große Mehrheit der Erwerbslosen als Sicherungssystem außer Funktion trat.
Entgegen dem „betroffenenfreundlichen“ Anschein erscheinen sowohl die Ausweitung der Hinzuverdienstgrenzen als auch des Vermögensschutzes aus sozialpolitischer Sicht problematisch. Die Begünstigung Weniger verstärkt umgekehrt die materielle Benachteiligung der großen Mehrheit der Hilfebedürftigen, die keine Chance haben, die angehobenen Freigrenzen auszuschöpfen. Darüber hinaus wird der für bedarfsabhängige Mindestsicherungssysteme konstitutive Vorrang der eigenständigen Existenzsicherung ausgehöhlt.
Sozialgerichtsbarkeit nach Gutsherrenart?
Die Koalition will den Ländern die Möglichkeit eröffnen, die Sozialgerichte mit den Verwaltungsgerichten zusammen zu legen und die eigenständige Sozialgerichtsbarkeit abzuschaffen. Wo davon Gebrauch gemacht würde, geriete die fachliche Qualität der Rechtsprechung in sozialrechtlichen Fragen akut in Gefahr – zum Nachteil der KlägerInnen, die oft um existenzielle Belange kämpfen. Allerdings erscheint die Umsetzung dieses Vorhabens zurzeit nicht sehr wahrscheinlich, weil eine uneinheitliche Organisation der Gerichtsbarkeiten in den Ländern schwerwiegende verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. Grundsätzlich gilt, dass die eigenständige Sozialgerichtsbarkeit als Ausdruck von Sozialstaatlichkeit bundesweit erhalten werden muss. Doch die Bundesregierung will auch prüfen, inwieweit das Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferecht reformiert werden kann, um „missbräuchlicher Inanspruchnahme entgegen zu wirken“. Damit würde der Zugang zum Recht für ärmere Menschen erschwert, wenn nicht gar vielfach unmöglich gemacht wird. Pointiert gesagt, soll hier dem Abbau des Sozialstaats offenbar der Abbau des Rechtsstaats folgen.
Steuerpolitik für Besserverdienende
Ungeachtet der großen finanziellen Herausforderungen, der die öffentlichen Haushalte und die Sozialversicherung in Folge der Weltwirtschaftskrise gegenüber stehen, orientiert der Vertrag auf erneute finanzielle Entlastungen für Unternehmen und höhere Einkommen. Ein erster Teil der entsprechenden steuerlichen Maßnahmen wurde mit dem
Verteilt weiter von unten nach
oben: Angela Merkel
Montage: scharf links
„Wachstumsbremsungsgesetz“ wäre ein zutreffenderer Titel für das Gesetz. Denn die Steuergeschenke für Arbeitgeber, Erben und Besserverdienende schwächen die öffentliche und die private Nachfrage und sind damit eher Gift für die Konjunktur. Dem Grunde nach drückt sich darin die Grundsatzentscheidung aus, dass Arbeitgeber und privater Reichtum zur Bewältigung der Krisenlasten möglichst nicht oder nur nachrangig herangezogen werden sollen.
Ob auch noch die von der FDP geforderte radikale Einkommensteuerreform, die der Vertrag für 2011 in Aussicht stellt, tatsächlich kommt, das mag angesichts der Verschuldungsrekorde vorerst zweifelhaft bleiben. Jedenfalls hat die Koalition nochmals ihre Absicht zur Einführung eines Stufentarifs bekräftigt. Damit würde das Ende des sozialstaatlichen Grundsatzes der progressiven Besteuerung eingeläutet. Die damit verbundenen Steuerausfälle würden indes erneute „Sachzwänge“ für noch schärfere Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung zu Lasten sozialer Leistungen schaffen. (HDH)
Online-Flyer Nr. 234 vom 27.01.2010