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Inland
Exbundespräsident Richard von Weizsäcker feiert am 15. April Geburtstag
90 Jahre und weiß von nix
Von Otto Köhler
Richard von Weizsäcker – blendet bis
heute die Zusammenarbeit der
faschistischen Wehrmacht mit dem
Sicherheitsdienst (SD) aus
Quelle: politischersalon.com
Die Weizsäcker-Weihe-Spiele begannen pünktlich einen Monat vor seinem 90. Geburtstag: »Wie kaum ein anderer steht sein Name für den Inbegriff des glaubwürdigen Staatsmannes: Richard von Weizsäcker«, meldete die ARD vorletzten Sonntag zu mitternächtlicher Stunde. Und wenige Stunden später war der Spiegel da: »Der stille Revolutionär« titelt das Nachrichtenmagazin. Dazu die Aufmacherfotos. Links der Sohn: »Staatsbürger Richard von Weizsäcker: humanistisch gebildet, weltoffen, kompetent«. In der linken Mitte der Führer, bescheiden in hellbrauner Uniform. Und ganz rechts der Vater, SS-Gruppenführer Ernst von Weizsäcker, ordensbesät in schwarzer Uniform.
SS-Gruppenführer a.D. Ernst von Weizsäcker mit Sohn Richard (ca. 1947-1949) | Quelle:Wikipedia
1984, kurz nachdem Richard von Weizsäcker zum Bundespräsidenten gewählt war, erfuhr ich, daß das Werksgelände des Pharmakonzerns C.H. Boehringer in Hamburg-Moorfleet eine einzige Giftdeponie war. Und die Mülldeponie in Georgswerder – zwölf Kilometer von meinem Wohnsitz entfernt – war von Boehringer verseucht. Die Zahl der Opfer hielt sich mutmaßlich gerade noch in zweistelligen Grenzen – bei Krebs weiß man ja nie so genau, woher er kommt.
Auch wer sich ein Dutzend Kilometer von der Gefahrenquelle in relativer Sicherheit wähnt, ist da endlich einmal geneigt, an die zu denken, die Tausende Kilometer weiter zu Tausenden mit Hilfe dieses Giftkonzerns umgekommen sind. Und so rief ich für die Gewerkschaftszeitung Metall im Bundespräsidialamt an. Gewiß, Richard von Weizsäcker war schon seit achtzehn Jahren nicht mehr Chef in der Ingelheimer Boehringer-Zentrale. Aber damals in seiner Zeit als erster Mann im Konzern, 1962 bis 1966, hatte das Unternehmen Wirkstoffe und Verfahren für die Herstellung von Agent Orange über die bekannte Boehringer-Vertriebsfirma Cela an den US-Konzern Dow Chemical geliefert. Agent Orange wurde von den USA in Vietnam für ihren Vernichtungskrieg gegen den Vietcong und dessen Kollateralmenschen benutzt. Folgen: Krebserkrankungen, Fehlgeburten, Mißbildungen, Tod. Robert von Boehringer, ein enger Freund des Vaters, hatte Weizsäcker zu seinem Nachfolger ausersehen, die Erben dachten dann anders. 1992 erklärte die Konzernleitung von Boehringer Ingelheim, »daß wir einen Teil des damaligen Handelns heute für nicht nachvollziehbar halten«.
Idealtypischer Bürger
Damals, 1984, erbat ich von Weizsäckers Sprecher Friedhelm Pflüger eine Stellungnahme zu den Agent-Orange-Vorwürfen. Am nächsten Tag wurde ich von Pflüger beschieden: Richard von Weizsäcker wisse nichts von dem Vorgang, und es sei auch nicht in seine Zuständigkeit gefallen, er sei am Abschluß von Verträgen nicht beteiligt gewesen, ja er wisse »von gar nichts«. Pflüger hat übrigens soeben eine »Hommage« für diesen »idealtypischen Vertreter des aufgeklärten und liberalen Bürgertums« geschrieben. Trefflicher Untertitel: »Mit der Macht der Moral« (Er präsentierte sein Buch am Dienstag um 19 Uhr im ARD-Hauptstadtstudio in der Wilhelmstraße 67a).
Damals sagte mir Weizsäckers Sprachrohr: »Er meinte, ob es überhaupt Boehringer Ingelheim gewesen sei, es gebe auch noch Boehringer Mannheim. Und diese Firma Cela sagt ihm auch nichts Besonderes.« Das klang, als würde Angela Merkel in zehn Jahren sagen: Westerwelle – mein Außenminister? Verwechseln sie nicht Deutschland mit der Schweiz? In einer damals von Weizsäcker autorisierten Biographie hieß es: »Keine wichtige Unternehmensentscheidung fiel ohne Weizsäckers Einwilligung« (Werner Filmer/Heribert Schwan, Richard von Weizsäcker. Profile eines Mannes, 1984, Seite 80).
Elefanten statt Weizsäcker
Ein Jahr später, 1985, hielt er die Rede, die ihm im Ausland und unter zivilisierten Deutschen Respekt einbrachte. Er bezeichnete den 8. Mai 1945 – und so etwas hatte vor ihm noch kein Bundespräsident getan – als »Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«. Daran dachte ich, als am 13.Juni 1991 der Stern ganz anders auf den Markt kam, als er ursprünglich erscheinen wollte. Auf den Seiten 58 bis 82, die für ein Stück Zeitgeschichte reserviert waren, standen 35 Elefanten herum. Elefanten nämlich, so teilte der Stern seinen Lesern mit, »blicken in eine Welt, die keinen Platz mehr für sie hat«.
Dort, wo jetzt plötzlich so viel Platz für Elefanten frei wurde, sollte eigentlich eine lang geplante und vorbereitete Reportage stehen zum 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Ulrich Völklein, der damals Stern-Redakteur für Zeitgeschichte war, hatte die Idee, auf einer Reportagereise bis kurz vor Moskau den Spuren jener berühmten Eliteeinheit zu folgen, der Richard von Weizsäcker seit Oktober 1938 angehörte, dem Potsdamer Infanterieregiment 9.
Ein aufregender Einfall. »Graf 9«, wie das Regiment wegen der vielen Adelsleute hieß, die zu ihm zählten, gilt immer noch als ein Hort des Widerstands gegen Hitler, viele Männer des 20. Juli standen mit ihm in Verbindung. Und dann auch noch der Bundespräsident, durch dessen Rede über den Tag der Befreiung nahezu alle Welt an die Möglichkeit eines besseren Deutschland zu glauben begann.
Ulrich Völklein fuhr mit dem Stern-Fotografen Wilfried Bauer in die Sowjetunion, verfolgte die Spuren des Weizsäcker-Regiments bis kurz vor Moskau und legte seiner Chefredaktion ein Manuskript auf den Tisch, das sie – mutmaßlich mit Interesse – gelesen haben muß. Dann gab es eine, wie mir der stellvertretende Stern-Chefredakteur Michael Seufert damals versicherte, »interne Entscheidung«. Er bat mich um Verständnis, daß er darüber keine öffentliche Erklärung abgeben könne. Ich versicherte ihm, daß ich kein Verständnis habe, und er präzisierte, es sei »ein unglaublicher Kappes«, daß es bei dieser Entscheidung um den Bundespräsidenten gehe.
Also rief ich wieder, diesmal für (die Monatszeitschrift) konkret, beim Bundespräsidialamt an. Der nunmehrige Sprecher Horst-Henning Horstmann – er ist heute Botschafter am Heiligen Stuhl – erklärte mir, daß weder der Bundespräsident noch seine Umgebung irgendeinen Einfluß ausgeübt hätten, der verhinderte hätte, daß die Geschichte von Ulrich Völklein im Stern erschien. Er hatte dabei ein sonst ungewohntes Zögern in der Stimme, das ihn nicht unsympathisch machte.
Tatsache ist: Auf der Farbstrecke von acht Doppel- und drei Einzelseiten, die für die umfangreiche Völklein-Reportage vorgesehen waren, nahmen die freundlichen Dickhäuter Platz. Immerhin: Es gab auch acht Doppelseiten: »50 Jahre nach dem Angriff auf die Sowjetunion: Die deutsche Schuld«. Es waren eindrucksvolle Fotos mit ganz wenig – rund 100 schmale Zeilen – Text. Verfaßt vom Fotografen Wilfried Bauer. Der Bundespräsident war nur kurz erwähnt unter einem kleinen Foto, das ihn zu Pferde zeigte: »Mit dabei: Richard von Weizsäcker als junger Offizier«.
Es war, wie die Stern-Chefredaktion versichert, »keine politische Entscheidung«, daß Völkleins Text gekippt wurde. Er durfte ihn in der unter dem Kommando von Gruner & Jahr dahinsiechenden Ostberliner Wochenpost veröffentlichen, die in der Altbundesrepublik nicht vertrieben wurde.
Auf Napoleons Spur
Weizsäckers Sprecher sagte mir noch einiges mehr, was mich veranlaßte Weizsäcker im November 1991 einen von konkret gedruckten Offenen Brief zu schreiben, in dem es hieß: »22.Juni 1941, nachts um 3.15 Uhr, drangen Sie, Herr Bundespräsident, zusammen mit der 23. Infanteriedivision von Ostrow-Mazowiecka aus in das sowjetische Gebiet ein, Ihr Divisionsnachschubführer Gercke begrüßte den neuen Krieg mit einer Flasche Champagner. Sie eroberten am ersten Tag die Gegend um Biel, das nahe Treblinka wurde damit gesichert, wo bald danach das Vernichtungslager entstand und eine Dreiviertelmillion Menschen ermordet wurden – das haben Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, damals nicht gewollt. Als Sie Anfang Juli in Slonim einmarschierten, lebten dort noch 30000 Juden. Sie wurden – SS war nicht dabei – von der Wehrmacht in einem Ghetto konzentriert. Heute gibt es dort keinen Juden mehr. Sie, Herr Bundespräsident, haben mit Ihren Kameraden die Stadt erobert, damit später die Einsatztruppen der SS 42000 Menschen vor den Toren der Stadt erschießen konnten.
Das ahnten Sie natürlich vorher nicht. Das Massengrab ist 100 mal 200 Meter groß. Ulrich Völklein entdeckte dort die Aufschrift: ›Keiner ist vergessen, nichts wird vergeben‹. Wir sind großzügiger. Jeder dort ist vergessen, wem also sollten wir vergeben? Am 15. Juli überschritten Sie – dachten Sie an Napoleon? – die Beresina bei Ossowo. Sie erinnern sich nicht? Mit klingendem Spiel – das Musikkorps an der Spitze – zog Ihre Infanteriedivision in die Stadt. Als Sie, verehrter Herr Bundespräsident, mit der I.9 die Stadt wieder verließen, war Ossowo ausgeplündert. Das bringt der Krieg so mit sich – Sie erinnern sich nicht. Vorwärts ging es, vorwärts! Am 20. Juli bekamen Sie wegen Tapferkeit bei der Überquerung des Flusses Narew knapp vier Wochen zuvor das Eiserne Kreuz. Sie haben so mitgeholfen, Bialystok zu erobern, in das gleich darauf das Einsatzkommando 8 einzog und zu wirken begann. Schon bei seiner ersten Aktion Anfang Juli erschoß es 800 Juden, aber das war nur der Anfang.«
Dort ist der Jude
Ende Juli eroberte Weizsäckers Division die Stadt Mogilew am Dnjepr, er selbst wurde am Arm verletzt und bekam Genesungsurlaub in Berlin. Er kam rechtzeitig zurück an die Front, wie ich ihm schrieb: »Ja, Herr Bundespräsident, Sie sind 1000 Kilometer weit in fremdes Land marschiert, haben eigenes und fremdes Blut vergossen, um Mogilev zu erobern, wo gleich darauf Einsatzgruppenchef Arthur Nebe (45467 liquidierte Personen, nach offiziellen Angaben selbst wegen Teilnahme am 20. Juli hingerichtet) für Offiziere Fortbildungskurse über die ›Zusammenarbeit von Truppe und SD‹ bei der ›Partisanenbekämpfung‹ veranstaltete. Zeithistoriker Helmut Krausnick: ›Es konnte zumindest niemanden überraschen, wenn die Hörer dieser Vorträge als deren Quintessenz ihren Einheiten die Lehre übermitteln würden: Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan – wie Kursteilnehmer bezeugt haben. Hierauf ist sogar zurückgeführt worden, daß ein (später gefallener) Bataillonskommandeur des Infanterieregiments 691 im folgenden Monat zweien seiner Bataillonskommandeure den Befehl erteilt hat, die in ihrem Standort wohnenden Juden zu erschießen.‹ Natürlich einschließlich Frauen und Kinder. Als das geschah, sehr geehrter Herr Bundespräsident, waren sie genesen und zurück an der Front. Aber mit dieser Einheit hatten Sie nichts zu tun. Sie erschossen keine Judenkinder, Sie kämpften an der Front einen sauberen Kampf gegen den Bolschewismus. Beispielsweise mit Ihrer 23. Infanteriedivision bei der ›Säuberung des Raumes um Wjasma‹ (Regimentsgeschichte), Mitte Oktober 1941. Erinnern Sie sich, Herr Bundespräsident? ›Bandenbekämpfung‹ nannte man das. Nein, durch Ihren Sprecher ließen Sie mir erklären, Sie wüßten nichts über das Dorf Pekarjowo bei Wjasma, das in der zweiten Oktoberwoche 1941 niedergebrannt wurde – 26 Frauen und Kinder kamen dabei um.«
Jeder Schuß ein Ruß’
»Im November 1941 zeigte die offizielle Vormarschkarte der 23. Infanteriedivision vom 21. bis zum 23. November den Ort Jaropolez, nordwestlich von Moskau. Nahebei, etwa zehn Kilometer südwestlich vom Standort Jaropolez, also in dem Umkreis, den die Infanteriedivision absichern mußte, liegt die Stadt Wolokolamsk. Ulrich Völklein berichtet in seinem vom Stern nicht gedruckten Beitrag, der in der Wochenpost erschien: ›In Wolokolamsk, 90 Kilometer nordwestlich von Moskau, treffen wir Ludmilla Iwanowa Bachomenko. Die Frau ist Rentnerin, die Witwe eines Offiziers. Sie weiß noch genau Bescheid: Das war im November 1941. Da haben die Deutschen acht Komsomolzen gehenkt, und vier weitere Leute, denen sie vorwarfen, mit den Partisanen Kontakt zu haben. Ludmilla Bachomenko führt uns in einen oberhalb des Stadtplatzes gelegenen Ehrenhain: Hier bei dem Denkmal sind sie begraben worden. Aber nicht alle, die von den Deutschen ermordet wurden, fährt sie fort, liegen hier. Im Stadthaus waren einige 100 Gefangene. Vor ihrem Abzug haben die Deutschen die Fenster und die Türen des Hauses mit Stacheldraht versperrt und das Gebäude in Brand gesteckt. Alle, die noch zu fliehen versuchten, wurden von außen abgeschossen. Die übrigen sind mit dem Haus verbrannt.‹
So wurden an die 600 Gefangene ermordet. An welchem Tag das geschah, geht aus den Worten der Frau nicht hervor. Vermutlich vier Wochen später, als die 23. Infanteriedivision am 18. und 19. Dezember auf dem überstürzten Rückzug zwei Tage im unmittelbar benachbarten Kaschino die Stellung hielt.
Sie, Herr Bundespräsident, wissen, wie mir Ihr Sprecher erklärte, nichts von den Vorgängen in Wolokolamsk. Andere hoben sich ihre Andenken auf. In der Hinterlassenschaft eines deutschen Soldaten, der mit der 23. Infanteriedivision gekämpft hatte – wie Sie, Herr Bundespräsident – fand Ulrich Völklein Fotos einer Hinrichtung: Vier Zivilisten, zwei Männer und zwei Frauen, werden auf einem Stadtplatz gehenkt – Soldaten schauen zu.
Die Regimentsgeschichte verzeichnet so etwas auch nicht. Doch man liest in ihr, 1985!, wie auf diesem Rückzug der Major Hans Georg von Haeften – aus Ihrem vornehmen Infanterieregiment 9, Herr Bundespräsident – zu seinem verdienten Heldentod kam: ›Herr Major versuchte, die zurückflutenden Soldaten aufzuhalten und zurückzurufen. Es war vergebens – es gab kein Halten mehr. Eine kleine Schar sammelte sich um unseren Vater und Bataillonskommandeur, wie wir ihn nannten, um ein Eindringen der Russen zu verhindern. Die Hölle war los. Herr Major übernahm selbst die Feuerleitung und ließ sich von jedem Schützen melden, wie er abgekommen sei und was er getroffen habe. Einen Russen umgelegt – so kam es von allen Seiten. Herr Major antwortete jedem: Gut, mein Junge – jeder Schuß ein Ruß’. Aber wir waren zu schwach, kein Haus war verschont geblieben. Da faßte Herr Major den Entschluß und befahl, die Häuser anzustecken und dann im Schutze der Rauchwolken auszuweichen. Herr Major wies uns den Weg. Er sprang als Erster vor, um über die Straße zu kommen. Da traf Herrn Major eine Kugel an die Schläfe.‹«
Zu wissen gibt es nichts
»Ihr erzwungener Rückzug, Herr Bundespräsident – und das Tagebuch Ihres Vaters verrät, wie bedauernswert Sie es fanden, daß Hitler nicht energischer nach Moskau griff –, hatte schon am 7. Dezember 1941 begonnen. Sie hatten die Ehre gehabt, mit Ihrem Regiment dem Kreml am nächsten zu kommen – 33 Kilometer vor Moskau lagen Sie im Dorf Oserezkoje, wo in einer Schule auch ein Lazarett eingerichtet wurde. Doch Sie konnten sich nur eine Woche halten, und dann geschah, schrieb Ulrich Völklein in der Wochenpost, dies: ›Als sich die deutschen Truppen nach sieben Tagen aus dem Dorf absetzten, brannten sie die 360 Häuser nieder. Die Kirche blieb erhalten und an ihrer Südseite ein Grabfeld, auf dem zuvor etliche deutsche Soldaten und Offiziere beerdigt worden waren. Schlimmer als der Verlust des eigenen Hauses, erzählt Nina Kusmezowa, sei für sie allerdings gewesen, als sie damals bei der von den Deutschen kurz vor dem Rückzug gesprengten Schule Arme, Beine und andere zerfetzte Körperteile deutscher Soldaten gefunden habe. Die haben ihre Verwundeten aus dem Hospital nicht mitgenommen, sondern umgebracht, bevor sie abmarschieren mußten.‹ Sie, Herr Bundespräsident, ließen mir durch Ihren Sprecher sagen, daß Sie davon keine Kenntnis haben. Wie auch, als Adjutant leitete Weizsäcker den Regimentsstab, vertrat den Regimentskommandeur und besetzte den Regimentsgefechtsstand. Und sein Pressesprecher versicherte mir: ›Von keiner der Untaten, die in den Fragen beschrieben sind, hatte er Kenntnis.‹«
Aber es kam, wie ich ihm weiter schrieb, noch schlimmer: »Zweifellos besserten sich, sehr geehrter Herr Bundespräsident, Ihre Kenntnisse ganz allgemein, als Sie im März 1942 in das Oberkommando des Heeres, das ›Lager Mauerwald‹, zwanzig Kilometer von der ›Wolfsschanze‹ des Führers entfernt, berufen wurden. Als Ordonnanzoffizier und Bürochef des Oberquartiermeisters IV, Gerhard Matzky, zuständig für Spionage, hatten Sie Einblick in die einlaufenden Agentenmeldungen und die Verhörprotokolle aus den Gefangenenlagern. Eine Vertrauensstellung, Herr Bundespräsident, die Sie damals besaßen. Auch der Spionagechef der Abteilung Fremde Heere Ost, Oberstleutnant Reinhard Gehlen, tauschte sich morgens mit Ihnen aus, wenn er in Ihrem Büro darauf wartete, bei Generalmajor Matzky zum Rapport vorgelassen zu werden. Daß Matzky unter einer demokratisch gewählten Regierung Chef des Bundesgrenzschutzes wurde und Gehlen Chef des Bundesnachrichtendienstes und intimer Freund des bundesdeutschen Extremistenführers Gerhard Frey (Deutsche Volksunion, Deutsche Nationalzeitung) – das wissen Sie wohl, Herr Bundespräsident.
Was immer Sie und Ihr Regiment damals getan oder nicht getan haben, auch für Sie gilt das Wort von Norbert Blüm, daß Hitlers Konzentrationslager nur so lange standen, wie die Front hielt. Sie wissen, daß Blüm mutig diese Wahrheit zurücknahm, als Ihr gemeinsamer Parteifreund, der wegen seiner Menschenversuche an KZ-Insassen verurteilte Generalarzt Professor Gerhard Rose, seinen Ausschluß aus der CDU forderte. Aber nein, Sie wissen nichts, Sie haben nichts gesehen, Sie haben nichts gehört, Sie sind uns ein guter Bundespräsident.«
Ich würde ihm, schrieb ich Weizsäcker, damals 1991, das alles nicht vorhalten, wenn es von ihm eine Rede, einen Satz gäbe, der die Verbrechen der Wehrmacht anklagt: »Einen Satz, der sich mit der vorzüglichen, ja herzlichen Zusammenarbeit beschäftigt, die es zwischen den massenmordenden Einsatzkommandos des SD und der Wehrmacht gab. Ich habe Ihren Sprecher ausdrücklich danach gefragt. Er meinte, vielleicht gebe es einen solchen Satz in der Rede zum 8. Mai. Aber es gibt ihn auch dort nicht.«
So schrieb ich ihm mit, ja, vorzüglicher Hochachtung, damals im August 1991. Geantwortet hat er auf meinen Brief selbstverständlich nicht. Doch sechs Jahre später erschien mit dem Titel »Vier Zeiten«, das, was er als seine »Erinnerungen« noch immer bezeichnet. Das Buch gab eine korrekte Antwort: »Wer heute einen Kriegsteilnehmer befragt, will vor allem verstehen, wie das alles so kommen konnte. War das, was wir als junge Männer taten und dachten, im Einklang mit dem, was wir wußten und beurteilen konnten? Mancher der Alten sagt, er wußte gar nicht, daß er nichts wußte, weil er nicht wußte, daß es etwas zu wissen gab.« Daß es etwas zu wissen gab, das scheint Weizsäcker immer gewußt und vor anderen gehütet zu haben.
Ach ja, seine Erinnerungen werden rechtzeitig vor dem 90. Geburtstag am 1.April – 480 Seiten für nur 14,95 Euro – im Pantheon Verlag unverändert wieder aufgelegt. Pantheon. Das ist korrekt, der Ehrentempel steht, laut Duden, für die »Gesamtheit der Götter eines Volkes«. Und im Pantheon liegen normalerweise nichts als prominente Leichen. Ich wünsche ihm 100 Jahre und noch viel mehr. Dazu aber ein verbessertes Erinnerungsvermögen. (PK)
Otto Köhler ist freier Journalist sowie Autor von »Und heute die ganze Welt. Über die Geschichte der IG-Farben« (Köln 1990) und »Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland« (München 2003).
Diesen Artikel hat er vergangene Woche in der jungen Welt veröffentlicht.
In NRhZ Nr. 100 vom 20.06.2007 hat er Henryk M. Broder unter dem Titel "Kopfloses Huhn" zum Ludwig-Börne-Preis 2007 gratuliert: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11063
Online-Flyer Nr. 242 vom 24.03.2010
Exbundespräsident Richard von Weizsäcker feiert am 15. April Geburtstag
90 Jahre und weiß von nix
Von Otto Köhler
Richard von Weizsäcker – blendet bis
heute die Zusammenarbeit der
faschistischen Wehrmacht mit dem
Sicherheitsdienst (SD) aus
Quelle: politischersalon.com
SS-Gruppenführer a.D. Ernst von Weizsäcker mit Sohn Richard (ca. 1947-1949) | Quelle:Wikipedia
1984, kurz nachdem Richard von Weizsäcker zum Bundespräsidenten gewählt war, erfuhr ich, daß das Werksgelände des Pharmakonzerns C.H. Boehringer in Hamburg-Moorfleet eine einzige Giftdeponie war. Und die Mülldeponie in Georgswerder – zwölf Kilometer von meinem Wohnsitz entfernt – war von Boehringer verseucht. Die Zahl der Opfer hielt sich mutmaßlich gerade noch in zweistelligen Grenzen – bei Krebs weiß man ja nie so genau, woher er kommt.
Auch wer sich ein Dutzend Kilometer von der Gefahrenquelle in relativer Sicherheit wähnt, ist da endlich einmal geneigt, an die zu denken, die Tausende Kilometer weiter zu Tausenden mit Hilfe dieses Giftkonzerns umgekommen sind. Und so rief ich für die Gewerkschaftszeitung Metall im Bundespräsidialamt an. Gewiß, Richard von Weizsäcker war schon seit achtzehn Jahren nicht mehr Chef in der Ingelheimer Boehringer-Zentrale. Aber damals in seiner Zeit als erster Mann im Konzern, 1962 bis 1966, hatte das Unternehmen Wirkstoffe und Verfahren für die Herstellung von Agent Orange über die bekannte Boehringer-Vertriebsfirma Cela an den US-Konzern Dow Chemical geliefert. Agent Orange wurde von den USA in Vietnam für ihren Vernichtungskrieg gegen den Vietcong und dessen Kollateralmenschen benutzt. Folgen: Krebserkrankungen, Fehlgeburten, Mißbildungen, Tod. Robert von Boehringer, ein enger Freund des Vaters, hatte Weizsäcker zu seinem Nachfolger ausersehen, die Erben dachten dann anders. 1992 erklärte die Konzernleitung von Boehringer Ingelheim, »daß wir einen Teil des damaligen Handelns heute für nicht nachvollziehbar halten«.
Idealtypischer Bürger
Damals, 1984, erbat ich von Weizsäckers Sprecher Friedhelm Pflüger eine Stellungnahme zu den Agent-Orange-Vorwürfen. Am nächsten Tag wurde ich von Pflüger beschieden: Richard von Weizsäcker wisse nichts von dem Vorgang, und es sei auch nicht in seine Zuständigkeit gefallen, er sei am Abschluß von Verträgen nicht beteiligt gewesen, ja er wisse »von gar nichts«. Pflüger hat übrigens soeben eine »Hommage« für diesen »idealtypischen Vertreter des aufgeklärten und liberalen Bürgertums« geschrieben. Trefflicher Untertitel: »Mit der Macht der Moral« (Er präsentierte sein Buch am Dienstag um 19 Uhr im ARD-Hauptstadtstudio in der Wilhelmstraße 67a).
Damals sagte mir Weizsäckers Sprachrohr: »Er meinte, ob es überhaupt Boehringer Ingelheim gewesen sei, es gebe auch noch Boehringer Mannheim. Und diese Firma Cela sagt ihm auch nichts Besonderes.« Das klang, als würde Angela Merkel in zehn Jahren sagen: Westerwelle – mein Außenminister? Verwechseln sie nicht Deutschland mit der Schweiz? In einer damals von Weizsäcker autorisierten Biographie hieß es: »Keine wichtige Unternehmensentscheidung fiel ohne Weizsäckers Einwilligung« (Werner Filmer/Heribert Schwan, Richard von Weizsäcker. Profile eines Mannes, 1984, Seite 80).
Elefanten statt Weizsäcker
Ein Jahr später, 1985, hielt er die Rede, die ihm im Ausland und unter zivilisierten Deutschen Respekt einbrachte. Er bezeichnete den 8. Mai 1945 – und so etwas hatte vor ihm noch kein Bundespräsident getan – als »Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«. Daran dachte ich, als am 13.Juni 1991 der Stern ganz anders auf den Markt kam, als er ursprünglich erscheinen wollte. Auf den Seiten 58 bis 82, die für ein Stück Zeitgeschichte reserviert waren, standen 35 Elefanten herum. Elefanten nämlich, so teilte der Stern seinen Lesern mit, »blicken in eine Welt, die keinen Platz mehr für sie hat«.
Dort, wo jetzt plötzlich so viel Platz für Elefanten frei wurde, sollte eigentlich eine lang geplante und vorbereitete Reportage stehen zum 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Ulrich Völklein, der damals Stern-Redakteur für Zeitgeschichte war, hatte die Idee, auf einer Reportagereise bis kurz vor Moskau den Spuren jener berühmten Eliteeinheit zu folgen, der Richard von Weizsäcker seit Oktober 1938 angehörte, dem Potsdamer Infanterieregiment 9.
Ein aufregender Einfall. »Graf 9«, wie das Regiment wegen der vielen Adelsleute hieß, die zu ihm zählten, gilt immer noch als ein Hort des Widerstands gegen Hitler, viele Männer des 20. Juli standen mit ihm in Verbindung. Und dann auch noch der Bundespräsident, durch dessen Rede über den Tag der Befreiung nahezu alle Welt an die Möglichkeit eines besseren Deutschland zu glauben begann.
Ulrich Völklein fuhr mit dem Stern-Fotografen Wilfried Bauer in die Sowjetunion, verfolgte die Spuren des Weizsäcker-Regiments bis kurz vor Moskau und legte seiner Chefredaktion ein Manuskript auf den Tisch, das sie – mutmaßlich mit Interesse – gelesen haben muß. Dann gab es eine, wie mir der stellvertretende Stern-Chefredakteur Michael Seufert damals versicherte, »interne Entscheidung«. Er bat mich um Verständnis, daß er darüber keine öffentliche Erklärung abgeben könne. Ich versicherte ihm, daß ich kein Verständnis habe, und er präzisierte, es sei »ein unglaublicher Kappes«, daß es bei dieser Entscheidung um den Bundespräsidenten gehe.
Also rief ich wieder, diesmal für (die Monatszeitschrift) konkret, beim Bundespräsidialamt an. Der nunmehrige Sprecher Horst-Henning Horstmann – er ist heute Botschafter am Heiligen Stuhl – erklärte mir, daß weder der Bundespräsident noch seine Umgebung irgendeinen Einfluß ausgeübt hätten, der verhinderte hätte, daß die Geschichte von Ulrich Völklein im Stern erschien. Er hatte dabei ein sonst ungewohntes Zögern in der Stimme, das ihn nicht unsympathisch machte.
Tatsache ist: Auf der Farbstrecke von acht Doppel- und drei Einzelseiten, die für die umfangreiche Völklein-Reportage vorgesehen waren, nahmen die freundlichen Dickhäuter Platz. Immerhin: Es gab auch acht Doppelseiten: »50 Jahre nach dem Angriff auf die Sowjetunion: Die deutsche Schuld«. Es waren eindrucksvolle Fotos mit ganz wenig – rund 100 schmale Zeilen – Text. Verfaßt vom Fotografen Wilfried Bauer. Der Bundespräsident war nur kurz erwähnt unter einem kleinen Foto, das ihn zu Pferde zeigte: »Mit dabei: Richard von Weizsäcker als junger Offizier«.
Es war, wie die Stern-Chefredaktion versichert, »keine politische Entscheidung«, daß Völkleins Text gekippt wurde. Er durfte ihn in der unter dem Kommando von Gruner & Jahr dahinsiechenden Ostberliner Wochenpost veröffentlichen, die in der Altbundesrepublik nicht vertrieben wurde.
Auf Napoleons Spur
Weizsäckers Sprecher sagte mir noch einiges mehr, was mich veranlaßte Weizsäcker im November 1991 einen von konkret gedruckten Offenen Brief zu schreiben, in dem es hieß: »22.Juni 1941, nachts um 3.15 Uhr, drangen Sie, Herr Bundespräsident, zusammen mit der 23. Infanteriedivision von Ostrow-Mazowiecka aus in das sowjetische Gebiet ein, Ihr Divisionsnachschubführer Gercke begrüßte den neuen Krieg mit einer Flasche Champagner. Sie eroberten am ersten Tag die Gegend um Biel, das nahe Treblinka wurde damit gesichert, wo bald danach das Vernichtungslager entstand und eine Dreiviertelmillion Menschen ermordet wurden – das haben Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, damals nicht gewollt. Als Sie Anfang Juli in Slonim einmarschierten, lebten dort noch 30000 Juden. Sie wurden – SS war nicht dabei – von der Wehrmacht in einem Ghetto konzentriert. Heute gibt es dort keinen Juden mehr. Sie, Herr Bundespräsident, haben mit Ihren Kameraden die Stadt erobert, damit später die Einsatztruppen der SS 42000 Menschen vor den Toren der Stadt erschießen konnten.
Das ahnten Sie natürlich vorher nicht. Das Massengrab ist 100 mal 200 Meter groß. Ulrich Völklein entdeckte dort die Aufschrift: ›Keiner ist vergessen, nichts wird vergeben‹. Wir sind großzügiger. Jeder dort ist vergessen, wem also sollten wir vergeben? Am 15. Juli überschritten Sie – dachten Sie an Napoleon? – die Beresina bei Ossowo. Sie erinnern sich nicht? Mit klingendem Spiel – das Musikkorps an der Spitze – zog Ihre Infanteriedivision in die Stadt. Als Sie, verehrter Herr Bundespräsident, mit der I.9 die Stadt wieder verließen, war Ossowo ausgeplündert. Das bringt der Krieg so mit sich – Sie erinnern sich nicht. Vorwärts ging es, vorwärts! Am 20. Juli bekamen Sie wegen Tapferkeit bei der Überquerung des Flusses Narew knapp vier Wochen zuvor das Eiserne Kreuz. Sie haben so mitgeholfen, Bialystok zu erobern, in das gleich darauf das Einsatzkommando 8 einzog und zu wirken begann. Schon bei seiner ersten Aktion Anfang Juli erschoß es 800 Juden, aber das war nur der Anfang.«
Dort ist der Jude
Ende Juli eroberte Weizsäckers Division die Stadt Mogilew am Dnjepr, er selbst wurde am Arm verletzt und bekam Genesungsurlaub in Berlin. Er kam rechtzeitig zurück an die Front, wie ich ihm schrieb: »Ja, Herr Bundespräsident, Sie sind 1000 Kilometer weit in fremdes Land marschiert, haben eigenes und fremdes Blut vergossen, um Mogilev zu erobern, wo gleich darauf Einsatzgruppenchef Arthur Nebe (45467 liquidierte Personen, nach offiziellen Angaben selbst wegen Teilnahme am 20. Juli hingerichtet) für Offiziere Fortbildungskurse über die ›Zusammenarbeit von Truppe und SD‹ bei der ›Partisanenbekämpfung‹ veranstaltete. Zeithistoriker Helmut Krausnick: ›Es konnte zumindest niemanden überraschen, wenn die Hörer dieser Vorträge als deren Quintessenz ihren Einheiten die Lehre übermitteln würden: Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan – wie Kursteilnehmer bezeugt haben. Hierauf ist sogar zurückgeführt worden, daß ein (später gefallener) Bataillonskommandeur des Infanterieregiments 691 im folgenden Monat zweien seiner Bataillonskommandeure den Befehl erteilt hat, die in ihrem Standort wohnenden Juden zu erschießen.‹ Natürlich einschließlich Frauen und Kinder. Als das geschah, sehr geehrter Herr Bundespräsident, waren sie genesen und zurück an der Front. Aber mit dieser Einheit hatten Sie nichts zu tun. Sie erschossen keine Judenkinder, Sie kämpften an der Front einen sauberen Kampf gegen den Bolschewismus. Beispielsweise mit Ihrer 23. Infanteriedivision bei der ›Säuberung des Raumes um Wjasma‹ (Regimentsgeschichte), Mitte Oktober 1941. Erinnern Sie sich, Herr Bundespräsident? ›Bandenbekämpfung‹ nannte man das. Nein, durch Ihren Sprecher ließen Sie mir erklären, Sie wüßten nichts über das Dorf Pekarjowo bei Wjasma, das in der zweiten Oktoberwoche 1941 niedergebrannt wurde – 26 Frauen und Kinder kamen dabei um.«
Jeder Schuß ein Ruß’
»Im November 1941 zeigte die offizielle Vormarschkarte der 23. Infanteriedivision vom 21. bis zum 23. November den Ort Jaropolez, nordwestlich von Moskau. Nahebei, etwa zehn Kilometer südwestlich vom Standort Jaropolez, also in dem Umkreis, den die Infanteriedivision absichern mußte, liegt die Stadt Wolokolamsk. Ulrich Völklein berichtet in seinem vom Stern nicht gedruckten Beitrag, der in der Wochenpost erschien: ›In Wolokolamsk, 90 Kilometer nordwestlich von Moskau, treffen wir Ludmilla Iwanowa Bachomenko. Die Frau ist Rentnerin, die Witwe eines Offiziers. Sie weiß noch genau Bescheid: Das war im November 1941. Da haben die Deutschen acht Komsomolzen gehenkt, und vier weitere Leute, denen sie vorwarfen, mit den Partisanen Kontakt zu haben. Ludmilla Bachomenko führt uns in einen oberhalb des Stadtplatzes gelegenen Ehrenhain: Hier bei dem Denkmal sind sie begraben worden. Aber nicht alle, die von den Deutschen ermordet wurden, fährt sie fort, liegen hier. Im Stadthaus waren einige 100 Gefangene. Vor ihrem Abzug haben die Deutschen die Fenster und die Türen des Hauses mit Stacheldraht versperrt und das Gebäude in Brand gesteckt. Alle, die noch zu fliehen versuchten, wurden von außen abgeschossen. Die übrigen sind mit dem Haus verbrannt.‹
So wurden an die 600 Gefangene ermordet. An welchem Tag das geschah, geht aus den Worten der Frau nicht hervor. Vermutlich vier Wochen später, als die 23. Infanteriedivision am 18. und 19. Dezember auf dem überstürzten Rückzug zwei Tage im unmittelbar benachbarten Kaschino die Stellung hielt.
Sie, Herr Bundespräsident, wissen, wie mir Ihr Sprecher erklärte, nichts von den Vorgängen in Wolokolamsk. Andere hoben sich ihre Andenken auf. In der Hinterlassenschaft eines deutschen Soldaten, der mit der 23. Infanteriedivision gekämpft hatte – wie Sie, Herr Bundespräsident – fand Ulrich Völklein Fotos einer Hinrichtung: Vier Zivilisten, zwei Männer und zwei Frauen, werden auf einem Stadtplatz gehenkt – Soldaten schauen zu.
Die Regimentsgeschichte verzeichnet so etwas auch nicht. Doch man liest in ihr, 1985!, wie auf diesem Rückzug der Major Hans Georg von Haeften – aus Ihrem vornehmen Infanterieregiment 9, Herr Bundespräsident – zu seinem verdienten Heldentod kam: ›Herr Major versuchte, die zurückflutenden Soldaten aufzuhalten und zurückzurufen. Es war vergebens – es gab kein Halten mehr. Eine kleine Schar sammelte sich um unseren Vater und Bataillonskommandeur, wie wir ihn nannten, um ein Eindringen der Russen zu verhindern. Die Hölle war los. Herr Major übernahm selbst die Feuerleitung und ließ sich von jedem Schützen melden, wie er abgekommen sei und was er getroffen habe. Einen Russen umgelegt – so kam es von allen Seiten. Herr Major antwortete jedem: Gut, mein Junge – jeder Schuß ein Ruß’. Aber wir waren zu schwach, kein Haus war verschont geblieben. Da faßte Herr Major den Entschluß und befahl, die Häuser anzustecken und dann im Schutze der Rauchwolken auszuweichen. Herr Major wies uns den Weg. Er sprang als Erster vor, um über die Straße zu kommen. Da traf Herrn Major eine Kugel an die Schläfe.‹«
Zu wissen gibt es nichts
»Ihr erzwungener Rückzug, Herr Bundespräsident – und das Tagebuch Ihres Vaters verrät, wie bedauernswert Sie es fanden, daß Hitler nicht energischer nach Moskau griff –, hatte schon am 7. Dezember 1941 begonnen. Sie hatten die Ehre gehabt, mit Ihrem Regiment dem Kreml am nächsten zu kommen – 33 Kilometer vor Moskau lagen Sie im Dorf Oserezkoje, wo in einer Schule auch ein Lazarett eingerichtet wurde. Doch Sie konnten sich nur eine Woche halten, und dann geschah, schrieb Ulrich Völklein in der Wochenpost, dies: ›Als sich die deutschen Truppen nach sieben Tagen aus dem Dorf absetzten, brannten sie die 360 Häuser nieder. Die Kirche blieb erhalten und an ihrer Südseite ein Grabfeld, auf dem zuvor etliche deutsche Soldaten und Offiziere beerdigt worden waren. Schlimmer als der Verlust des eigenen Hauses, erzählt Nina Kusmezowa, sei für sie allerdings gewesen, als sie damals bei der von den Deutschen kurz vor dem Rückzug gesprengten Schule Arme, Beine und andere zerfetzte Körperteile deutscher Soldaten gefunden habe. Die haben ihre Verwundeten aus dem Hospital nicht mitgenommen, sondern umgebracht, bevor sie abmarschieren mußten.‹ Sie, Herr Bundespräsident, ließen mir durch Ihren Sprecher sagen, daß Sie davon keine Kenntnis haben. Wie auch, als Adjutant leitete Weizsäcker den Regimentsstab, vertrat den Regimentskommandeur und besetzte den Regimentsgefechtsstand. Und sein Pressesprecher versicherte mir: ›Von keiner der Untaten, die in den Fragen beschrieben sind, hatte er Kenntnis.‹«
Aber es kam, wie ich ihm weiter schrieb, noch schlimmer: »Zweifellos besserten sich, sehr geehrter Herr Bundespräsident, Ihre Kenntnisse ganz allgemein, als Sie im März 1942 in das Oberkommando des Heeres, das ›Lager Mauerwald‹, zwanzig Kilometer von der ›Wolfsschanze‹ des Führers entfernt, berufen wurden. Als Ordonnanzoffizier und Bürochef des Oberquartiermeisters IV, Gerhard Matzky, zuständig für Spionage, hatten Sie Einblick in die einlaufenden Agentenmeldungen und die Verhörprotokolle aus den Gefangenenlagern. Eine Vertrauensstellung, Herr Bundespräsident, die Sie damals besaßen. Auch der Spionagechef der Abteilung Fremde Heere Ost, Oberstleutnant Reinhard Gehlen, tauschte sich morgens mit Ihnen aus, wenn er in Ihrem Büro darauf wartete, bei Generalmajor Matzky zum Rapport vorgelassen zu werden. Daß Matzky unter einer demokratisch gewählten Regierung Chef des Bundesgrenzschutzes wurde und Gehlen Chef des Bundesnachrichtendienstes und intimer Freund des bundesdeutschen Extremistenführers Gerhard Frey (Deutsche Volksunion, Deutsche Nationalzeitung) – das wissen Sie wohl, Herr Bundespräsident.
Was immer Sie und Ihr Regiment damals getan oder nicht getan haben, auch für Sie gilt das Wort von Norbert Blüm, daß Hitlers Konzentrationslager nur so lange standen, wie die Front hielt. Sie wissen, daß Blüm mutig diese Wahrheit zurücknahm, als Ihr gemeinsamer Parteifreund, der wegen seiner Menschenversuche an KZ-Insassen verurteilte Generalarzt Professor Gerhard Rose, seinen Ausschluß aus der CDU forderte. Aber nein, Sie wissen nichts, Sie haben nichts gesehen, Sie haben nichts gehört, Sie sind uns ein guter Bundespräsident.«
Ich würde ihm, schrieb ich Weizsäcker, damals 1991, das alles nicht vorhalten, wenn es von ihm eine Rede, einen Satz gäbe, der die Verbrechen der Wehrmacht anklagt: »Einen Satz, der sich mit der vorzüglichen, ja herzlichen Zusammenarbeit beschäftigt, die es zwischen den massenmordenden Einsatzkommandos des SD und der Wehrmacht gab. Ich habe Ihren Sprecher ausdrücklich danach gefragt. Er meinte, vielleicht gebe es einen solchen Satz in der Rede zum 8. Mai. Aber es gibt ihn auch dort nicht.«
So schrieb ich ihm mit, ja, vorzüglicher Hochachtung, damals im August 1991. Geantwortet hat er auf meinen Brief selbstverständlich nicht. Doch sechs Jahre später erschien mit dem Titel »Vier Zeiten«, das, was er als seine »Erinnerungen« noch immer bezeichnet. Das Buch gab eine korrekte Antwort: »Wer heute einen Kriegsteilnehmer befragt, will vor allem verstehen, wie das alles so kommen konnte. War das, was wir als junge Männer taten und dachten, im Einklang mit dem, was wir wußten und beurteilen konnten? Mancher der Alten sagt, er wußte gar nicht, daß er nichts wußte, weil er nicht wußte, daß es etwas zu wissen gab.« Daß es etwas zu wissen gab, das scheint Weizsäcker immer gewußt und vor anderen gehütet zu haben.
Ach ja, seine Erinnerungen werden rechtzeitig vor dem 90. Geburtstag am 1.April – 480 Seiten für nur 14,95 Euro – im Pantheon Verlag unverändert wieder aufgelegt. Pantheon. Das ist korrekt, der Ehrentempel steht, laut Duden, für die »Gesamtheit der Götter eines Volkes«. Und im Pantheon liegen normalerweise nichts als prominente Leichen. Ich wünsche ihm 100 Jahre und noch viel mehr. Dazu aber ein verbessertes Erinnerungsvermögen. (PK)
Otto Köhler ist freier Journalist sowie Autor von »Und heute die ganze Welt. Über die Geschichte der IG-Farben« (Köln 1990) und »Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland« (München 2003).
Diesen Artikel hat er vergangene Woche in der jungen Welt veröffentlicht.
In NRhZ Nr. 100 vom 20.06.2007 hat er Henryk M. Broder unter dem Titel "Kopfloses Huhn" zum Ludwig-Börne-Preis 2007 gratuliert: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11063
Online-Flyer Nr. 242 vom 24.03.2010