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Aktueller Online-Flyer vom 22. November 2024  

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Inland
Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion über katholische Internate
Hier: St. Blasien
Von Prof. Christian Sigrist

„Ort und Zeit der Taten und ganz konkrete Mitbrüder oder Vorgesetzte haben es begünstigt, dass Kinder zu Opfern wurden - und dass ihr Leid und ihre Verletzungen nicht gesehen wurden, dass weggeschaut wurde“, erklärte Johannes Siebner, Direktor des katholischen Kollegs St. Blasien, am 11. März in einem SPIEGEL-Interview zum Thema Missbrauch an katholischen Privatschulen. Der Soziologe Professor Christian Sigrist war Schüler in diesem Jesuiteninternat. – Die Redaktion

Persilschein

Ich war von September 1946 bis Dezember 1947 im Alter von elf bzw. zwölf Jahren Internatsschüler im Jesuitenkolleg St. Blasien.  Es gab damals auch nicht die geringsten Hinweise auf pädophile Übergriffe, speziell in meiner Altersgruppe. Die für die Erziehung in den einzelnen Abteilungen zuständigen Präfekten waren junge Kriegsheimkehrer, die voller Hingabe ihre pädagogische Aufgabe erfüllten. Wir waren allesamt ziemlich unterernährt. Diese  jungen Patres waren insofern überfordert, als sie jeweils bis zu 120 Jungen in ihrer Abteilung zu “betreuen” hatten. Ich schlief in einem Schlafsaal mit 60 Mitschülern, das Wecken erfolgte um 6 Uhr mit Trillerpfeife.


Professor Christian Sigrist – einst
Schüler im Jesuiteninternat St. Blasien
Foto: Klaus Jünschke

Damit der Betrieb überhaupt funktionieren konnte, erfolgten die Märsche zur Frühmesse und in den Speisesaal in Dreierreihen. Diese militärische Ordnung war uns noch vom Jungvolk her vertraut, in mir wie auch bei anderen regte sich aber ein Widerstreben gegen diese Militarisierung des Alltags, die durch die jesuitische Überhöhung des Gehorsamsprinzips verschärft wurde. Zu den täglichen Frühmessen und sonntäglichen Hochmessen kamen vor allem im Marienmonat Mai endlos scheinende Rosenkranz-Riten hinzu. In den Alltag eingebaut waren Silentia, die in bestimmten Wochen durch Exerzitien verlängert wurden. Auch blanker Aberglaube spielte eine Rolle: Als ein Mitschüler wegen einer Darmverschlingung in Lebensgefahr schwebte, mussten wir das mit Silentium und Gebetsübungen begleiten.
 
Misshandlungen

Nicht sexueller Missbrauch, sondern physische und psychische Misshandlung war das Problem jener Jahre. Die schärfste physische Sanktion war der “Hosenspanner”, eine auf einem eigens dafür konstruierten Pult mit dem Rohrstock vollzogene Prügelstrafe, ausgeführt vom Generalpräfekten, der anschließend die Tränen des Delinquenten mit einem speziell dafür vorgesehenen Taschentuch auffing. Hinzu kamen spontane Misshandlungen didaktisch überforderter Lehrer in den Klassenräumen. Trotz dieses repressiven Klimas waren wir alle stolz darauf, Kollegschüler zu sein, zumal selbst uns kleinen Schülern immer wieder gesagt wurde, wir sollten die künftige deutsche Elite werden. Außerdem ließen uns Wanderungen im Hochschwarzwald und abendliche Lagerfeuer, aber auch ein anspruchsvolles Sportprogramm die quasi-klösterliche Strenge im ehemaligen Benediktiner-Kloster verdrängen.

Der gleiche Generalpräfekt, der mich einmal verprügelt hatte, erwischte mich an einem heißen Tag in einem Seitengang des Kollegs mit freiem Oberkörper und sagte empört: “Ich will dich nie mehr in diesem Hause in diesem Zustand sehen!” Dieser Vorfall ist Ausdruck einer verklemmter Sexualität entsprungenen Prüderie.

Religiöse Intoleranz und psychische Misshandlung

Obwohl wir damals eigentlich ganz andere Sorgen hatten, z. B. Mangelernährung, wurde uns 11- bis 13-Jährigen an einem Abend ein Landkartenprojektionen unterlegter Vortrag über die Gefahren der islamischen Expansion geboten. Ich war zwar verwundert, aber nicht sonderlich betroffen. Ganz anders sah es dagegen mit den unglaublichen Äußerungen antijüdischer Gesinnung aus  – zwei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Der Mathematikunterricht wurde durch die verzweifelte Prügeldidaktik von Pater Kathold so chaotisiert, dass der Rektor, ein promovierter Theologe mit autoritärer Ausstrahlung, mit seinem Brevier im Klassenraum erschien und sagte: “Wir sind hier doch nicht in einer Judenschule!” Ich traute meinen Ohren nicht. Er wusste, dass ich “Vierteljude” war.


Staatlich anerkanntes Gymnasium - Jesuiteninternat St. Blasien
Quelle: www.st-blasien.de

Am Ende der Quinta, im Sommer 1947, wurden in den letzten Tagen anstelle des regulären Unterrichts Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen. Höhepunkt war das mehrstrophige Lied “Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert!” Es wurde auch folgende Strophe gesungen: “Zwei Juden badeten in einem Fluss/ weil jedes Schwein einmal baden muss./ Der eine ist ersoffen/ vom andern wollen wir’s hoffen.” Dieses Lied wurde vom Klassenlehrer und der gesamten Klasse mitgegrölt. Auch ich sang mit im Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit. Aber es wäre unmöglich gewesen, da auszuscheren. Ich habe diesen Moment als schwere Demütigung und Selbsterniedrigung bis heute im Gedächtnis.

Einige Monate später wurde vor dem gesamten Kolleg das judenfeindliche Schmierenstück “Blut und Liebe” aufgeführt. Die Hauptrolle spielte ein schmieriger Kaftan-Jude, der sich unausgesetzt die Flohstiche kratzte, während er versuchte, einen Ritter durch Wucher zu ruinieren. Sein unvermeidliches schmähliches Scheitern wurde vom Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen. In kindlicher Hilflosigkeit und ungläubigem Erstaunen wagte ich es nicht, beim Beifall nicht mitzuklatschen.

Der Rauswurf

Solche Ungeheuerlichkeiten trugen sicher dazu bei, dass ich auffällig wurde, wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte. Schließlich wurde ich Anfang Dezember 1947 zum Rektor bestellt, der mir als Beweisstück meine mit befrackten Vogelmenschen verzierten Arbeitshefte vorhielt. Ich würde mit meinen sonstigen Auffälligkeiten, z. B. Tinte trinken und auf den Boden legen, die Internatsdisziplin untergraben, sodass ich mit Beginn der Weihnachtsferien aus dem Kolleg ausscheiden müsste. Meine Mutter, die den blauen Brief erst nach meiner Ankunft erhielt, war geschockt, aber zugleich der Ansicht, dass mein Rauswurf mit der absehbaren Währungsreform zusammenhing. Die Kollegleitung wollte mein Teilstipendium einsparen, das mir wegen ihres schlechten Gewissens bewilligt worden war. Im Jahr 1935 war mein wegen “jüdischer Versippung” mit Berufsverbot belegter Vater nach der Schließung von Salem am Kolleg St. Blasien als Philologe angestellt worden. Das Kolleg nutzte seine Notlage schamlos aus,  sodass er nur mit sehr vielen Nachhilfestunden seine Familie unterhalten konnte (1935 war ich in St. Blasien zur Welt gekommen).
Meine persönlichen Erfahrungen dementieren nicht die weit späteren Fälle von Pädophilie auch in St. Blasien.

Schlussbemerkung

Das jahrzehntelange Schweigen der Kirche kann nicht verwundern, wenn man das Schweigen zum Holocaust, auch durch den Papst, in Erinnerung ruft. Der Vatikan hat im Übrigen jahrelang die Renamo in Moçambique massiv unterstützt. Diese antikommunistische Organisation rekrutierte ihre Kindersoldaten, indem sie Kinder zwang, ihre Eltern in ihrer Hütte zu verbrennen. (PK)


Christian Sigrist, geb. 1935 in St. Blasien, fiel seinerzeit unter die Bestimmungen der Nürnberger Gesetze. Seit 1971 Professor für Soziologie an der Uni Münster (em. 2000). Neben seinen Tätigkeiten in Forschung und Lehre war er z.B. von 1978 -1983 agrarsoziologischer Berater des kapverdischen Ministers für ländliche Entwicklung.
Feldforschungen in Afghanistan und Guiné-Bissau, zahlreiche Artikel und Reportagen zu Problemen der Dritten Welt und Teilnahme an einer empirischen Untersuchung über die Totalschließung von Videocolor in Ulm.
Sachverständiger beim Afghanistan-Hearing des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. (1986)
Schwerpunkt seiner Arbeiten zur Gesellschaftstheorie: Kritik von Herrschaftsverhältnissen und ihrer Rechtfertigung durch liberale Ideologen (Dahrendorf) und Systemtheoretiker (Luhmann).
Organisator eines israelisch-pälästinensisch-deutschen Symposiums über Perspektiven der Koexistenz, veröffentlicht zusammen mit U. Klein: Prospects of Israeli-Palestinian - Co-existence. Lit Verlag, 1996

Auswahl seiner Veröffentlichungen: Regulierte Anarchie (1967) - Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. 4. Auflage 2005, Lit Verlag.
Hrsg.: Indien (1976)
Mit anderen: Projektgruppe Videocolor am Institut für Soziologie: Der Sozialplan ersetzt mir ja nicht den Arbeitsplatz. (1987)
Hrsg.: Macht und Herrschaft, Münster 2004
Im Kursbuch 32, "Folter in der BRD - Zur Situation der Politischen Gefangenen", erschienen im August 1973, schrieb Christian Sigrist einen Beitrag unter der Überschrift "Imperialismus: Provokation und Repression". Angesichts der allgemeinen Verurteilung der RAF in der BRD wurde mit dem Text vermittelt, daß man in der Dritten Welt die RAF ganz anders wahrnahm - als Hoffnung auf revolutionäre Veränderung. Die Übermittlung dieser Tatsache hat die offizielle Bundesrepublik Christian Sigrist jahrelang spüren lassen. Er arbeitete davon unbeirrt in den Komitees gegen Isolationshaft mit.
Seinen in der Zeitschrift konkret zensierten Beitrag „Ulrike Meinhof: Antifaschistin, keine Judenfeindin“ finden Sie in NRhZ 58
unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=1006

Ergänzende Erläuterungen  von Prof. Christian Sigrist
zu seinem Artikel:


Mir geht es darum, zu verhindern, dass durch die Mißbrauchsdebatte andere Formen “pädagogischer” Deformation übersehen werden. Die Anschlußthematisierung von Mißhandlungen sehe ich als Bestätigung meiner Darstellung. Hinzu kommt: Rassistische Stigmatisierung st anders wirksam, kann aber ähnlich verletzend sein wie Mißbrauch und Mißhandlung.

Zu letzterem sollte ich doch exemplizieren: den “Hosenspanner” auf dem Prügelpult habe ich einmal selbst erfahren. Zur Vorgeschichte: Am Abend kontrollierte ein Präfekt unsere Hausaufgaben. Meinen Text fand er nicht sorgfältig genug und schickte mich deswegen mit einer Kurznotiz zum Prügelpräfekten. Ich fand dies ungerecht und schlich mich am Pförtner vorbei in die kalte Winternacht (ca. 20° minus). Nach zwei Stunden war mir klar, dass ich mich zwischen dem Erfrierungstod und einer wie immer schmählichen Rückkehr in die Kollegsmauern entscheiden musste. Ich schlich in eine Toilette des Eingangsbereiches. Inzwischen war von der Oberstufe des Kollegs, incl. Heiner Geißler, das gesamte Kolleg durchsucht worden, auch Cafés etc. wurden abgefragt.

Der Leitung des Kollegs war also die Gefahr, in die ich mich begeben hatte, bewusst ebenso wie der mögliche rechtliche und Image-Schaden.
Nach ca. einer halben Stunde Toilettenasyl öffnete der Rektor die Toilette und eröffnete mir, dass ich am folgenden Morgen beim Generalpräfekten anzutreten hatte.Dieser fragte mich nicht nach den Gründen für meinen Ausbruch sondern frönte dem Prügelritual. Danach fragt er mich, ob ich schon eine ejaculatio nocturna gehabt hätte!!

Nur meine eins in Latein bewahrte mich vor dem Rauswurf. Viele Jahre später erfuhr ich von Klassenkameraden, dass ich es als einziger richtig gemacht hätte mit meiner Aufsässigkeit. Mein bester Freund in St. Blasien, Hanno Kühnert sagte mir allerdings, als wir uns 1954 in der Uni Freiburg wiedersahen, in den letzten Jahren sei die Atmosphäre viel freier geworden. Ein anderer Klassenkamerad äußerte sich ganz anders.

Immerhin kam es zu einer großen Innovation: Mädchen konnten zunächst als Externe, schließlich auch im Internat das Kolleg besuchen. Entgegen der Behauptung des Journalisten Füller, war die Eliteideologie zumindest für St. Blasien zentral.  Zu meiner Zeit spiegelte sie allerdings auch die soziale Herkunft vieler Schüler: der Hochadel war überrepräsentiert: mein Banknachbar war Arpad von Habsburg (bzw. von Österreich oder von Ungarn). Verwandte und wohl auch Söhne von Kriegsverbrecher waren ebenso vorhanden wie Fabrikanten-Söhne.

Präzisieren muss ich zwei Angaben:
Das Kolleg St. Blasien wurde 1939 noch vor Kriegsbeginn geschlossen, obwohl sich das Kolleg der Hitlerjugend geöffnet hatte, und erst 1946 wieder geöffnet. Das päpstliche Schweigen zum Holocaust bezieht sich auf Pius XII. Das lange Schweigen des jetzigen Papstes zu Mißbrauch etc. kontrastiert allerdings mit der franchise, mit der die Päpste ex cathedra haarsträubende Dogmen verkünden.

Prof. Christian Sigrist, 4.4.2010







Online-Flyer Nr. 242  vom 24.03.2010



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