NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 22. Dezember 2024  

Fenster schließen

Arbeit und Soziales
Gezielte Zerstörung des Sozialstaats:
Weiter in die Barbarei
Von Robert Dietrich Bröckmann

Guido Westerwelle fordert: „Wer arbeitet muss mehr haben als der, der nicht arbeitet“ – und schließt daraus, dass Hartz IV gekürzt werden muss. Tatsächlich könnten in nächster Zeit harte Einschnitte bei Renten und anderen Sozialleistungen anstehen. Zeitgleich fordert die EU-Kommission eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 für die gesamte Europäische Union. Radikales Sparen sei nötig, so tönt es allenthalben aus der Politik, die realökonomische Erkenntnisse ignoriert und nachhaltig zur weiteren Verschärfung der Probleme beiträgt.

FDP: Entwürdigung falsch kommuniziert

Guido Westerwelle steht inzwischen auch in den eigenen Reihen in der Kritik. Die FDP beginnt, wenn auch noch zögerlich, gegen ihren Parteichef aufzubegehren. Allerdings nicht deshalb, weil sie mit ihm nicht einer Ansicht ist, sondern weil er falsch kommuniziere. Das schade der Partei, wie erst jüngst die Landtagswahlen in NRW bewiesen haben.



Ein Satz, mit dem Westerwelle bei der Stammwählerschaft noch punkten konnte, war folgender: „Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das muss man in diesem Land noch sagen dürfen.“ In dieser Äußerung schwingt etwas Beleidigtes mit. Auf dem FDP-Parteitag, in dessen Rahmen diese Worte fielen, fragte sich offenbar niemand, was den Außenminister eigentlich dazu berechtigt, im Zuständigkeitsbereich des Arbeitsministeriums zu fischen. Es wunderte sich auch niemand, dass Westerwelle als anschauliches Beispiel die Kellnerinnen heranzog, die die Delegierten auf dem Parteitag mit Getränken und Snacks versorgten. Niemand stand auf und fragte, warum die FDP diese Menschen offenbar so miserabel bezahlt, dass sie weniger verdienen als ein ALG-II-Empfänger. Was noch mehr verwunderte im BWL-Heimstadion: Niemand bemerkte, dass Westerwelles Rechnung nicht stimmt. Denn wer mit seiner Erwerbstätigkeit nicht genügend Geld zum Leben erwirtschaftet, der kann mit ALG II aufstocken. 160 Euro davon bleiben anrechnungsfrei. Er hat folglich am Ende mehr als ein reiner Transferleistungsempfänger.

Realitätsvariation zugunsten der Wirtschaft

Aber vielleicht kommt der FDP-Basis diese Realitätsvariation ganz gelegen. Denn viel wichtiger als die – juristisch formuliert – „falsche Tatsachenbehauptung“, ist der Schluss, den der Jurist Westerwelle daraus zieht: Dass nämlich das ALG II zu hoch sei. Auf die Idee, dass die Löhne zu niedrig sind, kommt er nicht. Natürlich nicht. Die deutsche Wirtschaft wählt bevorzugt schwarz oder gelb, oder beides. Aus guten Gründen.

Die Wirtschaftslobby freut sich besonders über zwei ganz bestimmte Politikertypen: Den Dilettanten, der sich beraten lässt, weil er von Ökonomie keine Ahnung hat, und den Opportunisten, für den die Parlamentsjahre nichts sind als Vorbereitungsjahre auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft. Zu letzteren gehören beispielsweise Gerhard Schröder, Wolfgang Clement, Friedrich Merz und Roland Koch. Die ersteren bilden die parlamentarische Mehrheit.

Die Wirtschaftslobby freut sich auch über die Rot-Grünen Arbeitsmarktreformen, die nun weiter reformiert werden sollen – allerdings nicht aus der Erkenntnis heraus, dass sie die Schere zwischen Arm und Reich geöffnet und die Binnenwirtschaft abgewürgt haben.

Die Bundesregierung, die gerade ein milliardenschweres Hilfspaket für Griechenland abgesegnet hat, will nun sparen. Wenige Monate, nachdem sie den Banken Milliardengeschenke hat zukommen lassen. Die absurde Behauptung: diese seien „systemrelevant“. Ins Visier kommt deshalb zuallererst der Sozialetat, der in diesem Jahr mit rund 140 Milliarden Euro den größten Posten im Bundeshaushalt ausmacht. Das ist eine Nachricht, die in den großen Wirtschaftsverbänden Unterstützung findet. Auch das aus guten Gründen. Denn die Alternative, die statt zur weiteren Dramatisierung zu einer wirklichen Verbesserung der Situation führen würde, schmeckt den Bossen überhaupt nicht.

Um das zu verstehen, müssen wir den Sozialetat aufschlüsseln. Wir müssen wissen, wie er sich zusammensetzt und wie er zustande kommt. Der Gesamtetat beläuft sich im Jahr 2010 laut Bundesregierung auf rund 142 Milliarden Euro. Davon besetzen die Renten mit rund 80 Milliarden Euro den Löwenanteil. Dazu kommen rund 24 Milliarden Euro an Empfänger von ALG I und rund 19 Milliarden Euro an Empfänger von ALG II (Hartz IV). Hinzu kommen Leistungen wie Kindergeld, Elterngeld und weitere, die vergleichsweise gering ausfallen.

Gefälschte Zahlen

Die Massenmedien verbreiten gerne die Behauptung, in Deutschland gäbe es rund 3,5 Millionen Arbeitslose. Das stimmt freilich nicht. Es handelt sich dabei um eine beschönigte Zahl. Tatsächlich waren es im April 2010 nach offizieller Rechnung knapp über 8 Millionen. Die Zahl setzt sich zusammen aus rund 1 Million Empfängern von ALG I, rund 5 Millionen Empfängern von ALG II und rund 2 Millionen sogenannter Nichterwerbsfähiger Hilfsbedürftiger. Letztere muss man unberücksichtigt lassen, da sie in der Regel aus gesundheitlichen Gründen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Bleiben rund sechs Millionen Arbeitslose, von denen über zwei Millionen aus der offiziellen Statistik gerechnet werden, indem sie in kostenintensive und wirkungslose Fortbildungsmaßnahmen oder sogenannte 1-Euro-Jobs gesteckt werden. Weitere 1,4 Millionen Menschen sind sogenannte Aufstocker: Menschen, deren Lohn so niedrig ist, dass sie, um leben zu können, mit ALG II aufstocken müssen.


Fotos: H.-D. Hey - gesichter zei(ch/g)en

Diesen sechs Millionen Menschen stehen rund 457.000 öffentlich ausgeschriebene offene Stellen – mehrheitlich im Niedriglohnbereich – gegenüber. Das Märchen von den faulen Arbeitslosen ist damit hinfällig. Selbst saisonbereinigt gibt es nicht ansatzweise genügend offene Stellen für alle Arbeitsuchenden.

Besondere Aufmerksamkeit müssen wir nun den 1,4 Millionen Aufstockern widmen, immerhin rund ein Viertel der erwerbsfähigen Leistungsempfänger und somit ein Kostenfaktor von rund 10 Milliarden Euro jährlich. Viele von ihnen arbeiten in Vollzeitstellen oder sogar in Stellen mit über 40 Wochenstunden und verdienen so wenig, dass sie berechtigt sind, mit ALG II aufzustocken. Das heißt im Klartext: Sie verdienen unter 6 Euro brutto pro Stunde und liegen damit unter dem Existenzminimum. Ein großer Teil von ihnen arbeitet in sogenannten Mini- oder 400-Euro-Jobs. Bis 2004 gab es in diesem Bereich de facto einen Mindestlohn. Denn das SGB IV legte bis dahin fest, dass in einem Minijob nicht länger als 15 Stunden pro Woche gearbeitet werden durfte, woraus ein Stundenlohn von rund 6,67 Euro resultiert. Diese Regelung fiel ohne große öffentliche Aufmerksamkeit unter den Tisch, so dass Arbeitgeber ihre Minijobber inzwischen ohne viel Aufhebens zu Teil- oder gar Vollzeitkräften machen können, in dem Wissen, dass der Staat (also der Steuerzahler) aufstockt – und das tun sie. Die Minijobs und die Möglichkeit, mit ALG II den Lohn aufzustocken nutzen die Arbeitgeber unermüdlich, um die Löhne zu drücken.

Weitere Enteignungen in Aussicht

Die Bundesregierung schließt inzwischen Kürzungen bei den Sozialleistungen ebenso wenig aus wie eine Erhöhung der Arbeitslosenversicherung oder der Mehrwertsteuer. All diese Maßnahmen treffen ausschließlich diejenigen, die ohnehin schon am Existenzminimum zu überleben versuchen. Es wäre faktisch eine weitere Umverteilung von unten nach oben, wie sie seit Jahren praktiziert wird.

Die EU-Kommission in Brüssel hat jetzt vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 70 Jahre zu erhöhen. Was würde diese „Reform“ bringen? Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters bei weiterhin stagnierendem Arbeitsplatzangebot würde dazu führen, dass noch mehr Arbeitslose auf noch weniger verfügbare Stellen träfen. Das wiederum wäre aber zugleich eine faktische Rentenkürzung, da die Zeit der Rentenzahlung verkürzt würde, der monatliche Anspruch aber nicht steigen würde, da die überwiegende Mehrheit der zusätzlichen Erwerbsfähigen keine Aussicht auf eine Stelle hätte.

Dasselbe gilt übrigens für Minijobber und Aufstocker: Beides führt natürlich zu einer Verminderung der Rentenansprüche, da nicht in die gesetzlich Rentenversicherung eingezahlt wird. Diejenigen –  auch Arbeitnehmer – die den aufdringlichen Kampagnen zur privaten Rentenvorsorge aufgesessen sind, haben derweil mehrheitlich zwar die privaten Versicherer reich gemacht, werden von ihrem Geld aber kaum etwas wieder sehen: Denn wenn die Wirtschaftspolitik in der EU wie bisher weitergeführt wird, droht eine massive Inflation – und dann ist das eingezahlte Geld nichts mehr wert. Die Rente wird gegen ein Butterbrot eingetauscht.

Eine Kürzung des ALG II, begleitet von einer verschärften Sanktionspraxis wie von Schwarz-Gelb favorisiert, wäre zugleich ein Freibrief für die Arbeitgeber, die Löhne vor allem im Dienstleistungssektor noch weiter zu drücken. Denn wer noch weniger als Hartz IV hat, wird eher eine völlig unterbezahlte Stelle annehmen, um überleben zu können. Derjenige wird sich auch der Drohung der ARGE bewusst sein, dass ihm die Bezüge gänzlich gesperrt werden, wenn er sich weigert, für 5 Euro pro Stunde oder gar erheblich weniger zu arbeiten.

Ziel: Ruinierung der Sozialsysteme

Mit dieser Taktik werden die Sozialsysteme in absehbarer Zeit gänzlich zusammenbrechen, denn auf Dauer können sie die zu hohen Ausgaben und die zu niedrigen Einnahmen nicht verkraften. Profiteur ist die freie Wirtschaft, sind die Arbeitgeber, die sich auf diesem Wege ganz legal Milliardensubventionen erschleichen.

Dabei wäre es durchaus möglich, die Sozialsysteme zu sanieren und wieder funktionstüchtig zu machen. Immerhin haben sie jahrzehntelang wunderbar funktioniert. Der Missbrauch staatlicher Leistungen auf Arbeitgeberseite könnte mit relativ simplen Mitteln eingestampft werden. Beispielsweise indem die 15-Wochenstunden-Klausel für Minijobs wieder eingeführt würde und Minijobs nur noch von Schülern, Studenten und Rentnern ausgeübt werden dürften. Würden zusätzlich Mindestlöhne eingeführt, dann würde der Begriff „Aufstocker“ bald der Vergangenheit angehören. Allein diese beiden Maßnahmen würden viele Milliarden Euro in die Sozialkassen spülen. Denn es würden nicht nur Ausgaben wegfallen, es würden auch Einnahmen hinzukommen, da mindestens 1,4 Millionen Menschen wieder über ihren Lohn in die Sozialkassen einzahlen würden. Zudem würde die Binnenwirtschaft belebt, denn Arbeitnehmer tragen ihr Geld in den privaten Konsum, wohingegen Arbeitgeber, die durch Ausbeute ihre Rendite steigern, ihr Kapital nur selten, wenn überhaupt, im Inland investieren. Nahezu gänzlich könnte das Einnahmenproblem des Staates gelöst werden, wenn man die absurde Senkung des Spitzensteuersatzes von über 50 auf derzeit 42 Prozent rückgängig machen würde.

Das Problem ist nicht, dass zu wenig Geld vorhanden ist. Das Problem ist, dass das üppig vorhandene Kapital ungleich verteilt und dem Wirtschaftskreislauf, der ein funktionierendes solidarisches System begründet, entzogen wird. Vor allem ist das Problem, dass die Verantwortlichen über das Schicksal Deutschlands Dilettanten und Opportunisten sind. (HDH)

Robert Dietrich Bröckmann hat diesen Artikel zuerst für das Kulturmagazin „Cinetreff“ veröffentlicht.

Online-Flyer Nr. 251  vom 02.06.2010



Startseite           nach oben