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Lokales
Gedanken eines Stadtverordneten aus dem Revier nach der loveparade
"Et hätt nit immer joot jejange"
Von Lothar Reinhardt

Der Einsturz des Stadtarchivs hat in der Kölner Seele ein tiefes Loch hinterlassen. Mit der kölschen Lebensart war es erst einmal vorbei. Ihr sprichwörtliches Grundgesetz gilt nicht mehr: "Es hätt noch immer joot jejange." Der Schock sitzt tief. Die alte Colonia ist seitdem angeschlagen – wie nun nach der loveparade auch Duisburg, dessen OB und….
 

Bekam von Hannelore Kraft den Rücktritt
nahegelegt: Duisburgs OB Adolf
Sauerland (CDU)
NRhZ-Archiv
Alles schien so toll, als 3 Mio. Menschen im Ruhrgebiet am 18. Juli friedlich Still-Leben auf der A 40 feierten. Der alte Ruhrpott schien endlich zur Weltmetropole gereift, das Malocher-Image endgültig mit dem 1 Woche später folgenden Megaevent der loveparade - ursprüngliches Motto: „Friede-Freude-Eierkuchen“ – von der globalen Spaßkultur abgelöst worden zu sein. „Dance or die“ hatten Übermütige als Motto ausgegeben, was zur bitteren Ironie werden sollte. Und mit dem 24. Juli 2010 war sie jäh geplatzt, die Blase der glückseligen Kulturhauptstadt - eben nicht in Köln oder Düsseldorf, sondern in der grauen Metropole Ruhr, die aber noch aus vielen abgeschotteten Einzelkirchtürmen besteht. Duisburg, die graueste der grauen Vorstädte mit dem Schimanski-Flair der vergangen gehofften Tage sollte der wirklichen Kulturhauptstadt Köln mit der Riesensause von 1,5 Mio. bei der loveparade zeigen, wo die Musik spielt. Und dann das Totalfiasko:
 
21 Tote und über 500 Verletzte forderte eine Massenpanik bei der Duisburger loveparade im Tunnel an der Karl-Lehr-Straße. Die Aufarbeitung der Tragödie offenbart eine unfassbare Fahrlässigkeit aller Beteiligten, von Veranstalter bis Polizei, städtischen und Landesbehörden! Alle der vielen Warner wurden überhört oder wie der Duisburger Polizeipräsident dafür in den Ruhestand geschoben! Landesregierung, Opposition, Kulturhauptstädtler, Medien und Duisburger Lokalfürsten wollten beweisen, dass das Mega-Event klappt. Und sie riskierten dafür das Leben zigtausender Menschen trotz Vorwarnungen in Hülle und Fülle. Bad Reichenhall, Köln, Duisburg in kurzer Folge:
 
Verantwortungslosigkeit landauf, landab?


Gelände des ex-Güterbahnhofs Duisburg
Quelle: www.mbi-mh.de
 
Etliche Besucher der loveparade erzählen, dass die heraufziehende Tragödie schon vor der tödlichen Panik Gesprächsstoff auf und vor dem Gelände war. Warum haben die Verantwortlichen anscheinend nichts gewusst? Polizisten standen auf der Todesbrücke und fotografierten, während darunter die Menschen zu Tode getrampelt wurden. Wie bitte? Die 1. Pressekonferenz der (Un-)Verantwortlichen am Unglücksabend war eine einzige Schande und offenbarte eine erschreckende Versammlung der Unverantwortlichkeit, die in geradezu geheimbündlerischer Art und Weise tausende Menschenleben gefährdet hatte. Doch diese Herren taten nur völlig überrascht und sprachlos, dass es schief ging. Soviel vermeintliche Naivität und blindes Gottvertrauen ist eigentlich nicht hinnehmbar. Doch: Egal ob Sauerland, Schaller oder RP: Alle hatten vorab die Absolution und das go ahead von allen, die in NRW und dem Ruhrgebiet von Bedeutung sind bzw. waren: Von Rüttgers, Kraft, dem alten wie dem neuen Innenminister bis hin zu Pleitgen. Auch die Medien ignorierten alle Warnungen, noch völlig begeisterungstrunken von dem Mega-event des Still-Leben auf der A 40, womit das „neue“ Ruhrgebiet sich „endlich“ weltweit als Spaßgebiet einer globalen Metropole verkaufte.
 

Absolution von allen – bis hin zu Kulturhaupt-
stadt 2010-Chef Fritz Pleitgen
NRhZ-Archiv
Viele Menschen in Duisburg und Umgebung sind dagegen nun völlig erschüttert und in Mark und Bein verunsichert. Wie konnte das nur passieren, wo doch jedes kleine Kind beurteilen kann, dass das Nadelöhr mit dem Tunnel als einzigem Zugang die Katastrophe geradezu heraufbeschwören musste? Natürlich ist vieles skandalös wie etwa, dass der 2. Zugang zum Gelände vom Bahnhof her für das gemeine Volk gesperrt war, weil nur für VIPs wie den Ober-Unter-Humoristen Pocher. Unglaublich auch, dass der Geschäftemacher Schaller die Sause mit über 1 Million Menschen bei der AXA versicherte wie einen PKW, mit Haftung nur bis 7,5 Mio. Euro. Unfassbar auch, dass die Genehmigung für eine Millionen-Veranstaltung erst am Tag der Veranstaltung selbst erteilt wurde, als Zehn- oder gar Hunderttausende schon unterwegs waren. Geradezu abenteuerlich und menschengefährdend auch, dass das eingezäunte Schottergelände des ehemaligen Duisburger Güterbahnhofs keine 250.000 Menschen fasst, während mit über 1 Million gerechnet werden musste. Nicht auszudenken, wenn auch noch das Wetter der loveparade übel gesonnen gewesen wäre: Die Hitzewochen waren gerade abgeklungen, denn sonst wäre es unter freiem Himmel auf dem überfüllten Schotterplatz und vor bzw. im Tunnel noch grausamer geworden. Oder bei stärkeren Regen hunderttausende im Matsch auf eingezäuntem Gelände, eine weitere Horrorvorstellung. Uswusw……..
 
Medienenthüllungen NACH dem Desaster
 
Sprachlosigkeit und gegenseitige Schuldzuweisung zeigen mangelndes Unrechtsbewusstsein. Medien wie WAZ, Bild oder WDR enthüllen nun nach dem Desaster Berge von Warnungen und Versäumnissen, die sie vorher bewusst nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Kurzum: Es liegt ein kollektives Versagen vor, an dem fast alle beteiligt waren nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel und der Zweck (hier das Megamassenevent der loveparade) war a priori gesetzt und indiskutabel. Dementsprechend war alles erlaubt, was den Zweck erfüllte und alles und jede/r wurde ausgegrenzt und kalt gestellt, der den Zweck behindern oder in Frage stellen konnte. Der Polizeipräsident wurde kurzerhand in den Ruhestand versetzt, die massiven Bedenken des Bauamts vom Tisch gefegt und die Warnungen von Bürgern nicht aufgegriffen.
 
In vielen Gesprächen seit dem Blutsamstag von Duisburg kam jede/r auf das entsetzliche Tunnel-Trauma zu sprechen. Neben der Standardforderung nach Rücktritt der Jammergestalt des Duisburger OB und weiterer Verantwortlicher hörten wir aber auch mehrfach den Vorwurf an die Duisburger Bevölkerung, dass sie nicht vorher massiver rebellierte, um das absehbare Desaster abzuwenden. Gibt es denn in Duisburg keine MBI, die hätte Alarm schlagen können und müssen, war eine Frage etlicher Mülheimer/innen. Nein, mussten wir antworten, gibt es noch nicht, weil die DUBA in den Anfängen steckenblieb. Unabhängig davon ist aber auch in Mülheim die Resignation und Apathie gegenüber erkennbarer Unvernunft von Politik und Verwaltung bei großen Teilen der Bevölkerung weit fortgeschritten, nicht zuletzt wegen der Ruhrbania-Tortur, bei der für eine realitätsferne Vision eines Prestigeprojekts Innenstadt und Stadtfinanzen in Schutt und Asche gelegt wurden, ohne Not und ohne erkennbare Verbesserung. „Da kann man eh nix machen“ oder „Die machen doch sowieso, was sie wollen“ oder „Das ist doch inzwischen überall so: verlogen, korrupt und zerstörerisch“ sind die Standardsprüche. Die Menschen haben ja nicht Unrecht. Nur:
 
So langsam geht es ans Eingemachte:
 
Du schickst z.B. deine Kinder in die Sporthalle, kannst aber nicht mehr sicher sein, ob das Dach nicht bei Schnee o.ä. einkracht, weil die Vorschriften nicht beachtet wurden.
Oder du schaust fern und plötzlich stürzt dein Haus ein, weil darunter eine U-Bahn gebuddelt wird, bei der Filz und Korruption blühen, aber alle Sicherheitsvorkehrungen missachtet werden.
Oder du bzw. deine Kinder gehen zu einem Massenspektakel und können nicht sicher sein, dass auch nur die grundlegendsten Vorkehrungen gegen Panik o.ä. getroffen sind.
Was soll denn noch kommen?
 
Wer glaubt denn noch, dass die Verantwortlichen die Bevölkerung vor wirklichen Katastrophen wie Feuer, Hochwasser, Erdbeben oder terroristischen Anschlägen wirksam schützen können oder wollen, wenn schon bei eigentlichen Routinesachen keiner mehr gewährleistet, dass Sicherheitsvorschriften auch angewandt werden!?
 
Eine Mischung aus Größenwahn und Dilettantismus, Filz und Vetternwirtschaft, privater Profitgier und öffentlicher Verarmung, Hochglanz-Propaganda und Geheimniskrämerei liegt inzwischen wie ein Grauschleier über vielen deutschen Städten. Kontrollmechanismen sind abgeschafft oder werden parteipolitisch gegängelt. 2 Jahrzehnte aggressiven Neoliberalismus mit dem Schlachtruf nach Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und der marktzerstörenden Angebotsphilosophie haben nicht nur viele Menschen ins Abseits befördert (ins sog. „Prekariat“) und die Finanzmärkte an den Rand des Abgrunds geführt, sondern auch die Grundlagen demokratischen Zusammenlebens ausgehöhlt und die Umwelt nachhaltig beschädigt. (PK)
 
Lothar Reinhard ist Fraktionsvorsitzender der Mülheimer BürgerInitiativen (MBI) im Stadtrat


Online-Flyer Nr. 261  vom 04.08.2010



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