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Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

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Wirtschaft und Umwelt
Zum Propaganda-Bericht der Bundesregierung:
„Zwanzig Jahre Deutsche Einheit“
Von Karl Mai

Kurz vor dem „Sommerloch“ für Politiker brachte die Bundesregierung eine neue Veröffentlichung anlässlich „Zwanzig Jahre Deutsche Einheit“ heraus, die auf Massenwirksamkeit und Verbreitung der regierungsoffiziellen Sichtweise gerichtet ist. Sie umfasst ein breites Spektrum von ausgewählten Themen von der „Krise der DDR“ bis zur Gegenwart im Vereinigungsprozess.

Leider kommt man auch hier nicht ohne gewisse Beschönigungen der Lage aus, wie nicht anders zu erwarten. Besonders auf ökonomischem Gebiet fallen solche Tendenzen ins Auge, so dass hier speziell darauf eingegangen werden soll. Zitat: „Besonders wichtig für den Aufholprozess war die höhere Wachstumsrate der ostdeutschen Industrie im Vergleich zum Westen.
  
So nahm die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe zwischen 1991 und 2009 um atemberaubende 104 Prozent zu, während es in Westdeutschland nur knapp 3 Prozent waren.“ (S. 61) „ … um Atemberaubende 104 Prozent“ im Vergleich zum Niedrigstand von 1991 (!) in der Transformationskrise – eine grobe Manipulation der Sichtweise. Hier wird erstens ausgeblendet, dass 1991 der Stand der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe im Vergleich zu 1989 auf 28,8 Prozent abgesunken war (ohne Berlin, auf Preisbasis 1995 in Euro), wie G. Heske nachgewiesen hat.1)

Zweitens wird suggeriert, dass sich der Aufholprozess „zwischen 1991 und 2009“ gleichermaßen vollzogen hätte, während er praktisch bereit ab 1996 als abgebrochen gilt. Die nachfolgende Zeit von ca. 15 Jahren hat es überhaupt keinen wesentlichen Aufholprozess im Leistungsniveau der Gesamtwirtschaft gegeben, und der absolute Stand der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe ist noch immer nicht auf dem Niveau von 1989 in der DDR.
 
Fehlende Seriosität

Ähnlich argumentiert der Propaganda-Bericht auch hinsichtlich des Anstiegs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) je Einwohner seit 1991 für alle Wirtschaftsbereiche. Zitat: „Auch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner stieg von 1991 bis 2007 im Osten von 9.442 Euro auf 22.145 Euro. Das entspricht einem Zuwachs von 135 Prozent. Im Westen betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum nur 42 Prozent auf insgesamt 31.381 Euro.“ (S. 61) Unklar bleibt, ob die Angaben mit oder ohne Berlin gelten. Übergangen wird, dass zunächst der BIP-Stand 1991 (insgesamt) auf 83,3 Prozent des Standes von 1989 infolge der Transformationskrise abgesunken war 2.) (Bei Einrechnung des Bevölkerungsverlustes durch die Abwanderung 1991 - ungefähr 700 Tausend oder 4,5 Prozent des Standes der NBL ohne Berlin - ergibt sich beim BIP je Einwohner für 1991 ein etwas günstigeres Bild.) Die Vergleichbarkeit der Angabe je Einwohner im Propaganda-Heft ist daher erschwert.





Man kann nicht umhin festzustellen, dass es in dieser wesentlichen Kernaussage dem Propaganda-Bericht an schlichter Seriosität fehlt. Dies trifft auch auf folgende Aussage zu: „Die Diskussion um die Kosten der Einheit ist müßig geworden, da heute niemand mehr genau sagen kann, wo der Westen aufhört und der Osten anfängt.“ (S. 108) Der Osten in Deutschland nicht mehr abgrenzbar? Hier endet der Spaß, denn ernsthaft kann das nicht vertreten werden. Immerhin kann man den in ökonomischer Geographie zu wenig sensiblen Autoren dieses Heftes der Bundesregierung bescheinigen: „Ost“ findet sich dort in Deutschland, wo nach zwanzig Jahren die Lebensverhältnisse noch immer nicht durchschnittlich an „West“ angeglichen sind, wo zum Beispiel das Rentenrecht und das Sozialrecht ungünstiger gehalten werden, wo es in Tarifverträgen noch Unterschiede gibt. „Ost“ ist dort, wo die Kommunen erst die Hälfte der eigenen Steuereinnahmen im Vergleich zu „West“ erreichen. „Ost“ ist da, wo die Menschen massenhaft nach „West“ abwandern, weil hier die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie dort. „Ost“ ist schließlich auch dort, wo die industrielle Leistungskraft noch ca. 30Prozent hinter der in „West“ zurückliegt, jedoch die weiteren Aussichten für das Aufholen von Wirtschaftsforschern eher negativ bewertet werden.
 
Keine ernsthafte ökonomische Analyse
 
Der Propaganda-Bericht der Bundesregierung hat dagegen keineswegs die Position aufgegeben, den Aufholprozess weiter als Ziel zu suggerieren. Hiernach „...soll – unter anderem durch Investitions- und Innovationsförderung – die Wirtschaftskraft so gestärkt werden, dass die neuen Länder wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und ohne besondere Hilfen auskommen, wenn die Vereinbarung 2019 ausläuft. Darin sind sich Bund und Länder einig.“ (S. 108/10) Dies zeigt, wie wenig problematisch die Bundesregierung die Wirkungen des ab 2009 rückläufigen West-Ost-Transfervolumens einschätzt, die bereits im Vorfeld verhindern könnten, dass die NBL „ohne besondere Hilfen auskommen“ und damit das Ziel schon weit vor 2019 nicht mehr erreichbar wird. „Wirtschaftlich auf die Beine kommen und ohne besondere Hilfen auskommen“ ist hier eine Umschreibung von „Aufholprozess“ im Sinne der selbst tragenden Wirtschaftsentwicklung als Zielstellung der Wirtschaftskraft Ost.


 
Aus der Ausstellung: "Aufschwung Ost - Liegengebliebenes"
Fotos: Hans-Dieter Hey - gesichter zei(ch/g)en

Hierzu eine aktuelle Stimme aus der Wirtschaftsforschung: Prof. Udo Ludwig vom IWH in einem Interview: Der Aufschwung im Osten sei schon vor zehn Jahren ins Stocken geraten, sagte Ludwig: "Bis Ende der 90er Jahre hatte die Ostwirtschaft stark aufgeholt und in der Pro-Kopf-Produktion 67 Prozent des Westniveaus erreicht. Doch zwischen 2000 und heute gab es quasi Stagnation. Da machten die neuen Länder nur noch drei Prozentpunkte gut, so dass wir nun bei 70 Prozent des Westniveaus liegen." Um vollends aufzuschließen, müsse die Ost-Wirtschaft doppelt so stark wachsen. Derzeit gebe es jedoch keine Anzeichen, das sie überhaupt stärker wachse. Beim derzeitigen Tempo brauche der Osten noch 50 Jahre um gleichzuziehen, sagte Ludwig.“ 3)
 
Mit dieser Sichtweise steht Prof. Udo Ludwig nicht allein da; sie wird von anderen Experten geteilt. Daher ist diese Aussage nur beispielhaft zu werten, zeigt aber den geschönten Anstrich des Propaganda-Berichts in dieser ökonomischen Kernfrage. Zum Abschluss noch ein Zitat aus dem Propaganda-Bericht: „Auch bei der Anpassung der Wirtschaftskraft gibt es positive Perspektiven, wenn man realistische Erfolgsmaßstäbe zugrunde legt. So kommt eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zu dem Ergebnis, dass die neuen Länder in rund zehn Jahren die Wirtschaftskraft der strukturschwächeren alten Länder erreichen könnten, wenn die Wachstumstrends der letzten Jahre anhalten.“ (S. 110)
 
Allerdings geht es hier nicht um das Erreichen des gegenwärtigen Standes der ALB, sondern des zukünftigen Standes, denn anders kann ein Angleichen oder Aufholen nicht erfolgen. Der Wachstumstrend der NBL müsste generell und länger während den der ALB um das Doppelte übertreffen – was jedoch bisher in den letzten Jahren überhaupt nicht typischer Weise erfolgte. Leider bleibt ungesagt, welche der „strukturschwächeren alten Länder“ als mögliche „Aufhol-Vergleichsobjekte“ im kommenden Zehnjahreszeitraum herangezogen werden sollen.
 
Von einer ernsthaften und komplexen ökonomischen Analyse der Entwicklung Ostdeutschlands kann also hier wiederum keine Rede sein. Diese ist bisher nicht regierungsseitig, sondern eher noch von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und ihren Autoren geleistet worden, die jährlich in besonderen„Ostkapiteln“ ihrer gesamtdeutschen Analysen sowie in gesonderten Veröffentlichungen aufgezeigt haben, wohin die „Reise“ mit Ostdeutschland wirklich geht. Im Herbst 2010 wird hierzu eine weitere komplexe Analyse vorgelegt werden, die der VSA-Verlag herausbringt.(HDH)
 
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1 Gerhard Heske, Gesamtrechnung Ostdeutschland, Supplement No. 17 (2005) des Zentrums für Historische
Sozialforschung, Köln, S. 82
2 Heske, a.a.O., S. 246
3) Quelle: http://wirtschaft.t-online.de/ostdeutschland-droht-erneute-deindustrialisierung/id_42131274/index)

Ein Aufsatz der:



Online-Flyer Nr. 264  vom 25.08.2010



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