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Inland
Keine Angst vor Veränderungen hierzulande!
Der Irrweg des Thilo Sarrazin
Von Wolfgang Jung

Was ist von einer Religion zu halten mit Glaubenssätzen wie diesen? „Ein Weib lerne in der Stille mit aller Untertänigkeit“ 1), es solle „sittig sein, keusch, häuslich, gütig, ihren Männern untertan“ 2). Oder: „Der Mann ist des Weibes Haupt“ 3). Wie prägt eine Religion mit einem Gott eine Gesellschaft, der solche Mordaufträge vergibt? „Gehet durch die Stadt und schlaget drein; eure Augen sollen nicht schonen noch übersehen. Erwürget Alte, Jünglinge, Jungfrauen, Kinder und Weiber, alles tot“ 4).

Wehe, so etwas kommt über uns! Da muss man sich sorgen wie Thilo Sarrazin. Die zitierten Sätze stammen allerdings nicht aus dem Koran. Sie sind christlich, stammen – wie viele ähnlicher Natur – aus dem Alten und Neuen Testament (1) Titus 2,5, 2) 1. Mose 3,16, 3) Brief des Paulus an die Epheser 5,23, 4) Hesekiel 9,5).
 
Von wegen islamischer Terror
 
Schnelle Urteile sind praktisch, sie ersparen die Mühen des Denkens. Auch Sarrazin spart sich diese Mühen. „Bei keiner anderen Religion ist der Übergang zu Gewalt und Terrorismus so fließend“, schreibt er. Zur Erinnerung: Alle Kolonialstaaten der Neuzeit waren christlich geprägt; sie rotteten die Ureinwohner völkerweise aus; wen sie – ausgebeutet und versklavt – leben ließen, den bekehrten sie zu ihrem Gott, damit er Trost finde in seinem Schicksal. Heute stehen und kämpfen die Heere christlich geprägter Nation in islamisch geprägten Ländern – nicht umgekehrt.

Im Januar 2007 veröffentlichte die Uni Erfurt eine Untersuchung über das „Gewalt- und Konfliktbild des Islams bei ARD und ZDF“. Ergebnis: Durch die Islamische Revolution 1978/79, den Aufstieg des politischen Fundamentalismus und „massiv verstärkt durch die Attentate des 11. September 2001“ hätten viele große deutsche Medien eine Berichterstattungskultur etabliert, die die komplexe Lebensrealität von 1,2 Milliarden Muslimen „in hohem Maße mit Gewalt- und Konfliktthemen“ in Verbindung bringt.

Massaker an 8000 Muslimen
 
Teile der Politik und der Medien im christlich geprägten Westen machten Osama bin Laden zu einer Symbolfigur des Islam. Das ist ein so gefährlicher Unfug wie es der Versuch wäre, den christlichen serbischen General Ratko Mladi?, der 1995 in Srebrenica 8000 muslimische Bosnier massakrieren ließ, zum Helden der Christenheit zu verklären.Die Rolle der Religionen in der Welt ist komplex. Sie taugten zu allen Zeiten als Waffen im Kampf um Reichtum und Macht. Religionen sind die Werkzeuge der Scharfmacher. Und so nutzt sie auch Sarrazin.
 
Für den aktuellen Bericht über die „Lage der Ausländerinnen und Ausländer“ in Deutschland erfasste die Bundesregierung die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. 15,6 Millionen seien es 2008 gewesen, fast ein Fünftel der Bevölkerung. 8,3 Millionen von ihnen seien Deutsche.
 
Es gibt keine Parallelgesellschaften, sondern multiethnische Zentren
 
Sarrazin sieht muslimische Parallelgesellschaften im Land; er prophezeit ihre Ausbreitung. 2006 allerdings kam das Wissenschaftszentrum Berlin nach einer groß angelegten Untersuchung zu dem Schluss, „die verbreitete Annahme einer Rückzugs- oder Abschottungstendenz unter Migranten könne wissenschaftlich nicht belegt werden“.


Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


Die Wissenschaftler fassten zusammen: Etwas mehr als die Hälfte der Migranten wohnten in den 81 deutschen Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern, wogegen hier nur ein Drittel der Gesamtbevölkerung lebe. Jedes vierte von 1810 untersuchten Stadtvierteln habe einen Ausländeranteil von zehn Prozent. Über 20 Prozent Ausländeranteil fanden sie in 13 – weniger als einem Prozent – der Viertel. In Einwanderungshochburgen gebe es zwar Stadtviertel, in denen deutlich mehr als die Hälfte der Bewohner keinen deutschen Pass haben, „doch stammen die Menschen in solchen Quartieren meist aus vielen unterschiedlichen Ländern“, so dass von einer einheitlichen Parallelgesellschaft keine Rede sein könne. Multiethnische Zentren seien typisch für deutsche Städte.

Vergleichbare Lebensumstände bedingen vergleichbares Gewaltniveau
 
Die Bundesregierung untersuchte für ihren Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland Gewaltphänomene bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Resümee: „Vergleichbare Lebensumstände bedingen ein vergleichbares Gewaltniveau.“ Kriminologen kämen zu dem Schluss, „dass sich bei einem Vergleich von Gruppen mit gleichen familiären, schulischen und sozialen Rahmenbedingungen sowie übereinstimmenden Werteorientierungen keine höhere Gewaltkriminalität von ausländischen Jugendlichen mehr feststellen lässt“.
Je weniger Perspektiven ein junger Mann für sich sieht, desto gefährlicher wird er. Mit Religion und Nationalität hat das nichts zu tun. Viele junge deutsche Männer reagieren mit Gewalt auf vermeintliche Aussichtslosigkeit; das sind die Skinheads und die Neonazis. "Gastarbeiter"-Nachfahren haben überdurchschnittlich große Probleme in der Schule Sarrazin schreibt, muslimische Migranten hätten eine „unterdurchschnittliche Bildungsbeteiligung“. Das stimmt. Auch sie führt er auf die Religion zurück. Das stimmt nicht. Das Bundesfamilienministerin veröffentlichte 2008 eine Untersuchung, nach der ausländische Schüler seltener auf Realschulen oder Gymnasien gehen als deutsche, dafür aber deutlich häufiger auf Hauptschulen und auf Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Dabei gebe es zwischen den Nationalitäten deutliche Unterschiede: Polnische, russische und kroatische Schüler könnten sich im deutschen Bildungssystem vergleichsweise gut positionieren.
 
Anders als Sarrazin behauptet, kommen nicht nur türkische – muslimische – Schüler überdurchschnittlich schlecht zurecht, sondern auch jene aus den anderen klassischen Gastarbeiter-Ländern Italien und vor allem aus Serbien und Montenegro. Das deutsche Schulsystem war nie auf "Gastarbeiter"-Kinder eingerichtet Diese Probleme haben sich Deutsche und Ausländer gemeinsam eingehandelt. Ab 1955 warb die Bundesrepublik Gastarbeiter an, ab 1961 auch rund 850 000 Männer und Frauen aus der Türkei, für die boomenden Fabriken im Wirtschaftswunderland. Das waren keine Arbeiten für gebildete Leute, das waren Hilfsarbeiten. Die meisten Ausländer glaubten, sie kämen für wenige Jahre. Die Mehrzahl blieb. Sie erlernten die deutsche Sprache nicht; es fehlte an Angeboten, Zeit, Kraft, Einsicht und bei vielen auch die Begabung; ausländische Hilfsarbeiter sind nicht anders als deutsche.

Das deutsche Schulsystem ist nicht eingerichtet für Kinder aus armen Familien mit Eltern ohne Bildung, nicht für deutsche und erst recht nicht für die Kinder der Ausländer, die zu Inländern wurden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung räumtein, in kaum einem anderen Industriestaat entscheide „die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland“. Zugleich gelinge es in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich schlechter, Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gute schulische Kompetenzen zu vermitteln. In ihrem „Armut- und Reichtumsbericht 2010“ gesteht die Bundesregierung ein, auch jenseits der Schule sei „die soziale Herkunft häufig von Bedeutung für den weiteren Bildungsweg“. Sehr, sehr spät hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
 
Die Kinder brauchen Perspektiven
 
Maria Böhmer, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, erklärte im Juli dieses Jahres die Integration zur „Schicksalsfrage für unser Land“. Mittlerweile habe jedes dritte Kind unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund. In Bildung und Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt sei die Situation vieler Migranten „nach wie vor dramatisch“. Sie bräuchten Perspektiven
.
Böhmer berichtet, erste Maßnahmen würden greifen. Das Bildungsniveau der jungen Migranten habe sich von 2005 bis 2008 erhöht. Der Abstand gegenüber Jugendlichen ohne Migrationshintergrund habe sich verringert. Immer mehr jungen Migranten gelinge ein mittlerer Abschluss, die Fachoberschulreife oder das Abitur. Böhmer wirbt für eine „nationale Bildungsoffensive“, um mehr jungen Migranten den Aufstieg zu ermöglichen. In diesem Jahrzehnt entscheide sich, ob sie „zu einer Generation der Gewinner werden“. Die Integrationsbeauftragte macht die Angelegenheit eilig, nicht zuletzt wegen der Aussicht, dass immer mehr alte Menschen von den jungen versorgt werden müssen.
 
Kulturen verändern sich seit jeher und stetig
 
Sarazzin hat recht, wenn er orakelt, dass die Migranten Deutschland verändern werden. Deutschland aber verändert sich – wie alle Nationen, Gemeinschaften und Kulturen – seit jeher und stetig. Fast schon amüsant ist da der Hinweis des Bankers, das chinesische Kaiserreich und die Römer hätten sich mit Großer Mauer und Limes vor einer ungesteuerten Zuwanderung geschützt. Beide Reiche waren – gar nicht in Sarrazins Sinn – Vielvölkerreiche, die viele Kulturen, Religionen und Einflüsse vereinten. Beide bestanden viele Jahrhunderte lang. (HDH)

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der "Main-Post"


Online-Flyer Nr. 265  vom 01.09.2010



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