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Aktueller Online-Flyer vom 22. Dezember 2024  

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Globales
Was jetzt in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern
Israel weiter "eine Villa im Dschungel"?
Von Uri Avnery

Wir sind inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava.
 

Uri Avnery
NRhZ-Archiv
Die Menschen fürchten sich vor der Veränderung. Wenn dies geschieht, neigen sie dazu, dies zu leugnen, zu ignorieren, geben vor, dass nichts wirklich Bedeutendes geschieht. Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während im benachbarten Ägypten erderschütternde Dinge geschehen, war Israel mit einem Skandal in den oberen Rängen der Armee beschäftigt. Der Verteidigungsminister verabscheut den amtierenden Stabschef und macht daraus kein Geheimnis. Der mutmaßlich neue Chef wurde als Lügner enthüllt, und seine Ernennung wurde zurückgezogen. Das waren die Schlagzeilen.
 
Was nun in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern.
 
Wie gewöhnlich sah es keiner voraus. Der viel gefeierte Mossad war total überrascht, genau wie der CIA und all die anderen gefeierten Dienste dieser Art. Doch sollte es überhaupt keine Überraschung gewesen sein – abgesehen von der unglaublichen Wucht des Ausbruchs. In den letzten Jahren haben wir viele Male hier erwähnt, dass in der ganzen arabischen Welt eine Menge junger Leute heranwächst, die eine tiefe Verachtung für ihre Führer hat, und dass es früher oder später zu einem Aufstand kommen werde. Dies waren keine Prophezeiungen, sondern eher eine nüchterne Analyse von Wahrscheinlichkeiten.
 
Der Aufstand in Ägypten wurde durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt: die wachsenden Lebenskosten, die Armut, die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten jungen Leute. Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: die zu Grunde liegenden Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem Wort zusammengefasst werden: Palästina.
 
In der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Not ertragen, aber keine Demütigungen.
 
Was jeder junge Araber von Marokko bis Oman täglich sah, war, dass seine Führer sich demütigten, indem sie die palästinensischen Brüder im Stich ließen, um Gunst und Geld von Amerika zu erhalten. Sie kollaborierten mit der israelischen Besatzung und katzbuckelten vor den neuen Kolonialherren. Dies war für junge Leute zutiefst demütigend, die mit den Errungenschaften der arabischen Kultur vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer Kalifen aufgewachsen sind.
 
Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das offen mit der israelischen Führung kollaboriert, indem es die schändliche Blockade über den Gazastreifen verhängt und so 1,5 Millionen Araber der Unterernährung und Schlimmerem preisgibt. Es war niemals nur eine israelische Blockade, sondern eine israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschmiert wurde.
 
Ich habe viele Male – laut – darüber nachgedacht, wie ich mich als 15jähriger Junge in Alexandria, Amman oder Aleppo fühlen würde, wenn ich meine Führer sehe, wie sie sich wie unterwürfige Sklaven der Amerikaner und Israelis benehmen, während sie ihre eigenen Untertanen unterdrücken und ausplündern. In diesem Alter schloss ich mich einer terroristischen Organisation an. Warum sollte ein arabischer Junge anders sein?
 
Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde reflektiert. Aber ein Diktator, der nationale Schande ausdrückt, ist ein Baum ohne Wurzeln – ein starker Wind wird ihn zu Fall bringen.
 
Für mich gab es nur die Frage, wo es in der arabischen Welt anfangen würde. Ägypten – wie auch Tunesien – standen unten auf der Liste. Doch genau hier in Ägypten findet die große arabische Revolution statt.
 
Dies ist ein Wunder für sich selbst. Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, so ist dies ein großes.
 
Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen wirklich lieben kann, aber man kann sicher ein Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser Hinsicht ist es einem erlaubt, zu verallgemeinern.
 
Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten der Armen sind eine unglaublich geduldige Gesellschaft. Sie sind mit einem unverwüstlichen Gespür für Humor ausgestattet. Sie sind auch unheimlich stolz auf ihr Land und seine 8000jährige Geschichte.
 
Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist, ist das fast vollkommene Fehlen von Aggressivität bei den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine besondere Szene: ich saß in einem Taxi in Kairo, als dieses mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken. Und dann hielten beide plötzlich inne und brachen in ein Gelächter aus.
 
Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt, mag er dieses oder hasst es. In dem Augenblick, in dem du auf ägyptischem Boden landest, verliert die Zeit ihren tyrannischen Druck. Alles wird gelassen, alles ist durcheinander, doch in wunderbarer Weise löst sich alles von alleine auf. Geduld ist grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die Geduld plötzlich ein Ende haben kann.
 
Es ist wie ein defekter Deich an einem Fluss. Das Wasser steigt kaum wahrnehmbar und geräuschlos hinter dem Deich – aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht der Deich und überschwemmt alles.
 

Ägyptens Präsident Anwar Sadat –
1977 in Jerusalem
Meine eigene erste Begegnung mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach Anwar Sadats beispiellosem Besuch in Jerusalem eilte ich nach Kairo. Ich hatte kein Visum. Ich werde niemals den Moment vergessen, in dem ich meinen israelischen Pass dem korpulen- ten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer verwirrter – und dann hob er seinen Kopf mit einem breiten Lächeln und sagte „Marhaba!“, „Herzlich Willkommen!“ Zu diesem Zeitpunkt waren wir die einzigen drei Israelis in der riesigen Stadt, und wir wurden wie Könige gefeiert. Beinahe erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern der Leute gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen Ägyptens liebten dies.
 
Es dauerte nur ein paar Monate, bis sich dies zutiefst veränderte. Sadat hoffte – und glaubte ehrlich – dass er auch den Palästinensern Befreiung gebracht habe. Unter intensivem Druck von Seiten Menachem Begins und Jimmy Carters stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald danach merkte er, dass Begin nicht im Traume daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen. Für Begin war das Friedensabkommen mit Ägypten ein separater Frieden, der es ihm möglich machte, den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren.
 
Die Ägypter vergaben dies niemals – das begann bei der kulturellen Elite und sickerte bis zu den Volksmassen durch. Sie fühlten sich betrogen. Die Palästinenser mögen nicht sehr geliebt sein, aber einen armen Verwandten zu verraten, ist nach arabischer Tradition eine Schande. Nachdem die Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit diesem Verrat kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag allem zugrunde, was in dieser Woche geschehen ist. Die Millionen, die „Mubarak, geh weg!“ schrieen, schrieen – bewusst oder unbewusst – auch aus dieser Verachtung.


„Mubarak, geh weg!“
Quelle: www.chiemgau-online.de
 
Bei jeder Revolution gibt es einen „Jeltzin-Moment“. Die Panzer werden in die Hauptstadt geschickt, um die Diktatur wieder herzustellen. Im kritischen Augenblick standen sich die Volksmassen und das Militär gegenüber. Wenn die Soldaten sich zu schießen weigern, ist das Spiel zu Ende. Jeltzin kletterte auf einen Panzer, El Baradei wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz. Das ist der Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland flieht, wie es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.
 
Dann gibt es noch den „Berliner Moment“, wenn ein Regime ins Wanken gerät und keiner der Mächtigen weiß, was er tun soll, und nur die anonymen Massen genau zu wissen scheinen, was sie wollen: sie wollten, dass die Mauer fällt.
 
Und es gibt noch den „Ceaucesco Moment“. Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die Menge, als plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment lang ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er. Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede hielt und umsonst versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.
 
Wenn Mubarak die Realität nicht mehr sieht, so trifft dies auch auf Binyamin Netanyahu zu. Er und seine Kollegen sind unfähig, die schicksalhafte Bedeutung dieser Ereignisse für Israel zu begreifen.
 
Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Was in der nächsten Zukunft in Ägypten geschieht – Demokratie oder eine Militärdiktatur – so ist das nur die Sache einer (kurzen) Zeit, bevor die Diktatoren in der ganzen arabischen Welt fallen und die Massen eine neue Realität ohne Generäle schaffen.
 

Verteidigungsminister Ehud Barak:
Israel - „eine Villa im Dschungel“
NRhZ-Archiv
Alles, was die israelische Führung in den letzten 44 Jahren der Besatzung oder der 63 Jahre seiner Existenz getan hat, ist obsolet geworden. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie ignorieren – und darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“ sind, wie Ehud Barak es einmal bekanntermaßen sagte – oder einen passenden Platz in der neuen Realität finden.
 
Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger Luxus. Es ist eine absolute Notwendigkeit. Frieden jetzt, und zwar Frieden schnell. Frieden mit den Palästinensern und dann Frieden mit den demokratischen Massen in der ganzen arabischen Welt, Frieden mit den vernünftigen islamischen Kräften (wie Hamas und den Muslimbrüdern, die sich sehr von der Al-Qaida unterscheiden), Frieden mit den Führern, die im Begriff sind, in Ägypten und überall aufzutauchen. (PK)
 
Uri Avnery (*1923), israelischer Schriftsteller und 1993 Gründer der Gush Shalom-Friedensbewegung. Geboren in Deutschland, emigrierte er mit der Familie seiner Eltern 1933 nach Palästina, war von 1965-74 und 1979-81 linker Knesset-Abgeordneter und wurde u.a. zusammen mit seiner Frau Rachel und Gush Shalom 2001 mit dem Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) ausgezeichnet.
 
Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert


Online-Flyer Nr. 288  vom 09.02.2011



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