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Inland
Nach den Franzosen bei Bismarck, den Juden unter Hitler, nun die Muslime
Warum hassen wir sie?
Von Anis Hamadeh

Weit mehr als 100.000 Einträge findet man, wenn man „Why do they hate us?" bei Google eingibt. Warum hassen sie uns? Diese Frage bewegt die US-Amerikaner seit dem Elften September und sie hat mit dem Beginn der arabischen Revolution eine neue Aktualität bekommen, weil gewisse Unstimmigkeiten zu Tage getreten sind, was unsere westliche Haltung den arabischen Ländern gegenüber angeht. Gute Antworten hat Noam Chomsky gegeben und man kann sie leicht auf Youtube finden.
 

Spiegel-Titel – passend zum
damaligen Spiegel-Autor H.M.Broder
NRhZ-Archiv
Die Hass-Frage ist allerdings aus einem bisher kaum beachteten Grund von besonderer Signifikanz, nicht nur für die USA, sondern auch für Deutschland, denn sie spiegelt den Herrschaftsdiskurs wider, in dem Hass ein Gefühl ist, das grundsätzlich nur dem Antagonisten zugeschrieben wird, also dem Feind. Die tiefer liegende Frage, die damit verdeckt wird, lautet nämlich: Warum hassen wir sie?
 
Otto von Bismarck wusste genau warum und er hat diese Karte strategisch ausgespielt. Damals war Frankreich das Objekt. Bismarck wusste, dass er die Deutschen einigen konnte, wenn er ihnen einen gemeinsamen Feind schenkte. Und es hat funktioniert. Adolf Hitler hat davon gelernt und denselben Trick verwendet, um das Land geschlossen hinter sich zu bringen. Er nahm unter anderem die Idee des Antisemitismus auf, eine alte europäische Idee, die bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreicht, und brachte sie auf die Spitze. Außerdem gab er der Mehrheit die Kommunisten, Sinti und Roma, er gab ihnen die Homosexuellen, die allzu freien Künstler und die Kranken zum Hass frei. Und auch Hitler hatte damit Erfolg.
 
Man könnte meinen, dass die Gräuel des Zweiten Weltkriegs dazu geführt haben, dass die Mehrheit auf diesen Trick nicht mehr hereinfallen würde. Dass Schulen dieses Thema ganz oben auf die Agenda setzen würden und dass Politiker und Medien sich davor hüten würden, weiterhin mit Feindbildern zu agieren, um durch das „Wir gegen sie" eine Identität zu schaffen, ein Wir-Gefühl. Weit gefehlt! Unmittelbar nach dem Zerfall des Nazireichs ging es weiter mit dem Feind des Kommunismus, den die Siegermacht USA vorgegeben hatte. Nach der Teilung Deutschlands blieb dieses Feindbild im Westen über Jahrzehnte bestehen, und Deutsche hassten nun auch wieder Deutsche – im Osten funktionierte das komplementäre Feindbild recht gut. Aber 1989, nach dem Mauerfall, da haben die Menschen sich doch von diesem Denken gelöst? Die Nato hat sich dann doch aufgelöst und wir sind vernünftig geworden, oder nicht? Keineswegs! Es dauerte nicht lange, bis ein neuer Feind gefunden wurde, denn wir sind süchtig danach wie ein Heroin-Abhängiger von seiner Droge.
 
Wie damals im Fall des Antisemitismus ist es auch heute ein Antagonist, zu dem die Feindschaft historische Wurzeln hat, auf die man zurückgreifen kann: der Islam und die Orientalen. Und wie damals bei den Nazis sind Nebenspieler mit von der Partie: dieser oder jener Diktator, China, einige Feinde im Innern etc. Nach dem Elften September jedenfalls (über dessen tatsächlichen Hergang noch immer viel Unklarheit herrscht) hat sich die „freie Welt" auf den Islam eingeschossen und überzieht die betreffenden Länder mit Angriffskriegen und mit Drohungen, während die Muslime in unseren eigenen, westlichen Gesellschaften „kritisch“ beäugt werden.
 
Warum also hassen wir sie? Weil wir ohne einen Feind kaum eine Identität haben. Wir benötigen nur deshalb Begriffe wie „Leitkultur", weil wir im kulturellen Niedergang sind und das ahnen. Die Antrittsbemerkung des neuen Innenministers Friedrich, in der er den Islam von Deutschland distanziert, ist in diesem größeren Zusammenhang zu sehen, nicht nur in dem kleinen, in dem er durch gezielte gesellschaftliche Spaltung auf dubiosen Stimmenfang geht. Sie ist Ausdruck des geistigen Niedergangs einer Gesellschaft, die partout nicht aus der Geschichte lernen will. Der Gipfel der Perversion wird erreicht durch das Herbeiphantasieren einer „christlich-jüdischen Tradition", womit man sich an den früheren Feind, die Juden, anbiedern will, um den nächsten Feind vor die Flinte zu bekommen.
 
Das hat sogar der Zentralrat der Juden begriffen, der ansonsten nicht gerade für seine Progressivität bekannt ist und der viel zu oft als Apologet des von Gewalt geradezu besessenen Staates Israel auftritt. Ende Januar 2011 sagte Vizepräsident Salomon Korn in einem SZ-Online-Interview, dass die Betonung „christlich-jüdischer Wurzeln des Abendlandes" auch funktionalistisch motiviert sein könne – so, als ob man die Juden in eine gemeinsame Front gegen die Muslime einbinden müsse. Solche „Umarmungen" seien mit Vorsicht zu genießen.
 

Ein bisschen Broder
 NRhZ-Archiv
 
Ist es denn aber wirklich so schlimm mit unserem Islam-Hass? So ein bisschen Sarrazin und ein bisschen Broder, davon geht doch die Welt nicht unter. Und wenn die „Welt" mal wieder einen ihrer berüchtigten Islam-Artikel schreibt, oder der Spiegel, mein Gott, das muss man doch sportlich sehen können.
 
Wenn man sich aber überlegt, was passieren würde, wenn ein solcher Artikel über das Judentum erschiene, dann sieht das alles sofort ganz anders aus. Eine Website wie http://michael-mannheimer.info würde sofort aus dem Netz verschwinden, wenn sie sich in dieser Art mit dem Judentum beschäftigen würde statt mit dem Islam. „Volksverhetzung" würde man dann sagen, Beleidigung, Verunglimpfung und üble Nachrede. Und es gibt Dutzende solcher öffentlichen Plattformen, bei denen es nur oberflächlich um „Islam" oder „Islamkritik" geht. Es geht um den Feind, den wir brauchen, weil wir selbst niemand sind ohne ihn. Der beste Beweis dafür ist die deutsche Islamwissenschaft, die sich seit Jahrhunderten wissenschaftlich mit dem Thema befasst und die für die System-Medien und die Politiker nicht sehr interessant ist. Hey, wir wollen etwas über Terrorismus hören, Kopftuchfrauen und Antisemiten.
 
Nicht nur viele Politiker, sondern auch die System-Medien sind von diesem Phänomen affiziert, denn es gehört einfach zur Leitkultur. Ohne den Feind gäbe es gar keine Leitkultur. Und es ist gut für die Quote. Bismarck lässt grüßen. Und Hitler. Der Antisemitismus ist einzigartig, so hören wir, er steht somit gewissermaßen außerhalb der Geschichte und darf nicht als Vergleich herangezogen werden. Das ist aber nichts als ein billiger Trick, um den nächsten Feind zu sichern, im Stil von „christlich-jüdischer Tradition".
 
Natürlich gibt es Ausnahmen. Selbst in den System-Medien gibt es differenzierte und gute Berichte. Selbst dort gibt es zuweilen Islamwissenschaftler, die das Spiel nicht mitspielen und die trotzdem gesendet werden. Auch zeigt der Erfolg Jürgen Todenhöfers, dass unsere Gesellschaft noch nicht völlig verbrodert ist. Es gibt Hoffnung.
 
Das Problem aber bleibt: Wir hassen mit System, und wenn wir dafür töten müssen. Wir unterstützen heute Angriffskriege, verraten unsere eigenen Werte und erkennen unsere Verantwortung nicht hinreichend an. Nicht einmal nach Hitler! Das ist das eigentlich Schlimme. Wir nennen es „Freiheit", aber es ist keine Freiheit. Frei sind die, die sensibilisiert sind, die den Wert des Lebens kennen und die keinen Feind benötigen. Die Selbstverwirklichung als Sinn des Lebens erkennen. Die verstehen, dass Kunst eine Bedeutung hat und dass Kultur die Welt bereichert. Die eine Eigen-Identität haben und darauf stolz sind.
 
Es ist ein weiter Weg dorthin, immer noch. Für die Schulen, die Elternhäuser, die Cliquen, die Medien, die Parteien und die Konzerne. In Ägypten sind Zig-Millionen aufgestanden, um etwas zu verändern. Das sollten wir uns als Beispiel nehmen. (PK)
 
Anis Hamadeh ist der Autor des Buches „Islam für Kids“, das Ludwig Watzal in der NRhZ-Ausgabe 292 vorgestellt hat - http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16275
Ein Interview mit Anis Hamadeh finden Sie unter http://www.anis-online.de/office/islam-fuer-kids/IfK.htm
 
Zum Thema passend finden Sie in dieser Ausgabe den Film "Eine Jugend in Kairo"


Online-Flyer Nr. 293  vom 16.03.2011



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