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Inland
Bundespräsident Wulff auf der medialen Suche nach mehr "Bürgernähe"
Viel versprochen, wenig gehalten
Von Wolfgang Effenberger

Schon als Präsidentschaftskandidat umgarnte der spröde Niedersachse bürgerliche Wahlleute und fortschrittliche Internetbenutzer. Im Interview mit BILD versprach Christian Wulff, ein Bürger-Präsident zu werden. ER wolle zum Anfassen bleiben und künftig verstärkt im Internet über seine Arbeit informieren. Wie er sich an seine in diesem Zusammenhang gemachten Versprechen hält, hat unser Autor persönlich erfahren und berichtet hier darüber. – Die Redaktion


BILD-Interview
 
Wulff versprach BILD.de: „Sollte ich am 30. Juni gewählt werden, werde ich versuchen, genau so ansprechbar zu bleiben wie als Ministerpräsident in Niedersachsen. Damit man da, wo man die Menschen trifft – beim Einkaufen zum Beispiel – ein offenes Ohr hat, wenn sie sagen: DAS wollte ich Ihnen schon immer mal sagen.“(1) Auch seine E-Mails oder Handy-SMS werde er weiter beantworten und dabei versuchen, die Würde des Amtes zu erhalten, ohne die Nähe zu den Menschen zu verlieren.
 
Bereits nach 50 Tagen im Amt lud Bürgerpräsident Wulff zur "Tafel Der Demokratie“.


Vorm Brandenburger Tor
 
Zu dem Essen unter freiem Himmel auf dem Pariser Platz hatte Wulff 1500 ausgewählte Bürger aus ganz Deutschland laden lassen, darunter Prominente wie Schauspielerin Sophia Thomalla und Kollegin Mariella Ahrens mit Ehemann Patrick Graf von Faber-Castell. Die Köche des Hotels Adlon servierten ein dreigängiges Menü: Als Vorspeise gab es Berliner Sülze, der Hauptgang war niedersächsischer Kartoffeleintopf. Zum Nachtisch gab es Welfenspeise mit Waldbeeren, eine Creme, die eigens für das Herrscherhaus der Welfen in Hannover kreiert worden sein soll.
 
Wulff sagte, er sehe es als Aufgabe, zwischen den Bürgern und der Politik zu vermitteln. Deshalb werde er die an ihn herangetragenen Bitten der Gäste an die zuständigen Stellen weitergeben. „Ich sehe mich als Sprachrohr.”(2) Und Bild jubelte: „Volksnah, jung und locker. Selten war ein Staatsoberhaupt in so kurzer Zeit so beliebt wie er: Nach aktuellster Umfrage ist eine große Mehrheit der Deutschen mit seiner Arbeit zufrieden.
 
Medienwirksam eröffnete Wulff letzten Samstag (12. März) im oberfränkischen Naila (Bayern) das Bürgerforum 2011. Bei der Online-Diskussion sollen 10.000 Bürger in 25 Regionen via Internet über Zukunftsfragen wie Bildung, Demografie, Demokratie und Beteiligung, familiäre Lebensformen, Integration, Solidarität und Gerechtigkeit diskutieren.(3)


Wulff eröffnet Online-Diskussion
 
Neben der Bürgernähe liegt dem Bundespräsidenten die Erinnerung an den Holocaust am Herzen. Bei seinem Besuch in Israel Ende November 2010 schrieb Wulff in das Besucherbuch von Jad Vaschem: „Die unfassbaren Verbrechen der Schoah sind Deutschland und den Deutschen eine dauernde Verpflichtung“. Um zu dokumentieren, dass man Geschichte von Generation zu Generation weiterzugeben hat, besuchte er zusammen mit seiner 17-jährigen Tochter Annalena die Denkmal-Halle für die 1,5 Millionen ermordeten jüdischen Kinder, die besonders eindringlich die Schreckenstaten der NS-Zeit dokumentiert. „Es ist unsere gemeinsame Verantwortung“, so Vater Wulff, „unsere Kinder zu erziehen, dass sie die Vergangenheit verstehen und Verantwortung für die Zukunft übernehmen.“(4)
 
Bei seinem Besuch anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee versprach Wulff: „Deutschland werde sich auch in Zukunft zu seiner "historischen Verantwortung" für die Naziverbrechen des Holocaust bekennen“. Der Name Auschwitz erfülle uns Deutsche mit Abscheu und Scham. Betroffen rief Wulff die Deutschen auf, hierfür ewig einzustehen und mahnte an die Verantwortung, „dass ein solcher Zivilisationsbruch nicht wieder geschieht.“ Das Wissen um das geschehene Grauen, das in der systematischen Vernichtung der europäischen Juden gipfelte, seien „Mahnung und Verpflichtung für die gegenwärtigen und kommenden Generationen, die Würde des Menschen unter allen Umständen zu wahren“(5). Und seiner abschließenden Forderung, die Jugend muss die Wahrheit über das nationalsozialistische Terrorregime kennen, muss uneingeschränkt zugestimmt werden.
 
Doch wie ernst ist es Wulff mit seinen medial eindrucksvollen Absichtserklärungen?
 
Der Autor – Enkel eines im Juni 1938 in das KZ Sachsenhausen verschleppten Großvaters – setzt sich seit über vier Jahren für eine verantwortungsvolle und würdige Gestaltung der Berliner Adresse "Tiergartenstraße 4" ein. An dieser Stelle stand einst eine Gründerzeit-Villa

Nach Enteignung der jüdischen Besitzer wurde zunächst die Leitung der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, die zentrale Planungsbehörde für die "Euthanasie"-Morde untergebracht. Hier haben die Ingenieure des Todes die Euthanasiemorde – getarnt als Aktion "T4" – geplant und in den sechs Tötungsanstalten durchführen lassen.(6) Nach offizieller Einstellung Ende August 1941, vorausgegangen war die Euthanasie-Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, wurde das Tötungspersonal im Rahmen des Holocaust eingesetzt. Somit führt Auschwitz direkt in die Tiergartenstraße 4 zurück.
 
Die Villa Tiergartenstraße 4 wurde in den fünfziger Jahren nach schweren Kriegsbeschädigungen abgerissen. An dieser Stelle, vor dem Eingang der Philharmonie gelegen, befindet sich heute ein unwirtlicher Vorplatz mit Bushaltestellen. Einziger Blickfang ist die der Tiergartenstraße zugewandte zweiteilige Stahlskulptur des kalifornischen Bildhauers Richard Serra. Die im Verkehrswegebereich bodengleich versenkte Stahlplatte war am Tage der feierlichen Eröffnung des Stelenfeldes verschmiert. Dazu ein vertrockneter Kranz von heutigen "Psychatrie-Geschädigten". Bei Schnee und Matsch ist die Platte ohnehin nicht zu sehen.


Vorplatz der Philharmonie
Quelle: Wolfgang Effenberger
 
Aus der Inschrift geht leider nicht hervor, dass hier schon bevorzugt aus rassistischen Motiven getötet worden ist, wie neueste Untersuchungen der Uni Heidelberg belegen.(7)
 
Um den Stab der Erinnerung an die Jugend weiterzugeben, hatte der der Autor schon bei Wulffs Vorgänger Köhler angeregt, für die Gestaltung des Platzes einen bundesweiten Wettbewerb der Bildhauermeisterklassen und Studenten der Kunstakademien unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten auszuloben
 
Nachdem Wulff in Yad Vaschem so eindruckvoll über seine Tochter die Jugend eingebunden hatte, bat der Autor den Bundespräsidenten, sich des Platzes Tiergartenstraße 4 anzunehmen.
Eine Antwort blieb jedoch aus. Als Wulff dann am 27. Januar 2011 in Auschwitz die Jugendlichen zum Hinschauen aufforderte und „sich selber verantwortlich zu fühlen“, folgte ein zweites Schreiben, welches bis heute ebenfalls unbeantwortet blieb.
 
Hätte der Autor dem internetverliebten Bundespräsidenten anstatt der Briefe mit Einschreiben und Rückschein doch besser eine mail schicken sollen? (PK)
 
  
Anmerkungen
 
(1) BILD.de-Interview Wulff: Ich will ein Bürger-Präsident sein, Angie Baldauf vom 14. Juni 2010 unter http://www.bild.de/BILD/politik/2010/06/14/wahl-bundespraesident-kandidat-christian-wulff-im/facebook-live-chat.html##
(2) Christian Wulff eröffnet Tafel der Demokratie: Festessen am Brandenburger Tor in Berlin unter http://www.bild.de/BILD/politik/2010/08/20/christian-wulff-tafel-der-demokratie/festessen-am-brandenburger-tor.html
(3) Bürgerbeteiligung via Internet, vom 12. März 2011 unter http://www.tagesspiegel.de/politik/nachrichten/3944088.html; die Internetadresse des Forums lautet: http://dpaq.de/WMVqE. dpa
(4) Bundespräsident Wulff: Deutschland und Israel müssen zusammenrücken, vom 28. November 2010 unter http://www.focus.de/politik/ausland/bundespraesident-wulff-deutschland-und-israel-muessen-zusammenruecken_aid_576448.html
(5) Holocaust-Gedenktag: Wulff in Auschwitz "Ewig einstehen gegen das Vergessen" vom 27. Januar 2011 unter http://www.sueddeutsche.de/politik/holocaust-gedenktag-wulff-in-auschwitz-ewig-einstehen-gegen-das-vergessen-1.1052094
(6) Sechs Euthanasie-Tötungszentren wurden eingerichtet, vorwiegend in bereits genutzten psychiatrischen Kliniken:
Brandenburg bei Berlin (Januar 1940 - September 1940),
Grafeneck bei Stuttgart (Januar 1940 - Dezember 1940),
Hartheim bei Linz in Österreich (Januar 1940 - Dezember 1944),
Sonnenstein/Pirna bei Dresden (April 1940 - August 1943),
Bernburg bei Magdeburg (September 1940 - April 1943),
Hadamar bei Koblenz (Januar 1941 - August 1941).
(7) DFG-Projekt "Zur wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der NS-‚Euthanasie-Aktion T4'"



Online-Flyer Nr. 293  vom 16.03.2011



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