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Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

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Glossen
Thilo Sarrazin mit BILD im Chor:
Sind Arbeitslose etwa faul?
Von Markus Omar Braun

Die übliche Antwort der Volksdialektik auf diese Frage („Es gibt so'ne und so'ne“) liegt vielleicht manchem zuerst auf der Zunge, so auch dem Verfasser dieser Zeilen, erweist sich aber bei näherem Zusehen als völlig unangemessen, ist obige Frage doch nicht als Frage, sondern als unwiderlegbare Behauptung gemeint. Zum Anfang sei daher statt einer Antwort dem Autor ein Bericht aus eigener Perspektive gestattet, da er nun seit einem guten Dreivierteljahr zum genannten arbeitslosen Teil unserer Bevölkerung zu zählen wäre, wenn nicht...


Thilo Sarrazin
Quelle: NRhZ-Archiv
Keine Arbeit?
 
Wenn nicht die Begriffsunsicherheit wäre. Auf die Frage nach seiner Lebenssituation blieb dem Autor nämlich die Antwort „Ich bin arbeitslos“ im Halse stecken. Als Mathematiker eine gewisse Grundexaktheit gewöhnt, fragte er sich: Ohne Arbeit, nichts zu tun? Zuhause gibt es immer 'was zu tun, und meine (invalide) Gattin pflege ich obendrein. Außerdem habe ich als Muslim immer Arbeit, erst einmal mein tägliches Pflichtgebet. Dann soll ich mein Leben ernst, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Insbesondere gilt es, dem Nächsten sein Recht und noch ein bisschen obendrauf zu geben. Es gibt viel zu tun, packen wir's an. Das Ganze macht mir noch Mühe, da ich selber krank darnieder liege – Arbeit also auch im alten deutschen Sinne dieses Wortes. Summa summarum bin ich gar nicht ohne Arbeit, also auch nicht arbeitslos.
 
Nichts erworben?
 
Das Schicksal der 1-Euro-Jobber hilft uns ein wenig weiter: Die haben doch Arbeit (eine sogenannte Arbeitsgelegenheit), bleiben aber immer noch "Arbeitslose“. Es ist also weniger die Arbeit als vielmehr die Erwerbs-Arbeit gemeint, und die Arbeitslosen entpuppen sich als: Erwerbslose. Nur blieb die Behauptung „Ich bin erwerbslos“ dem Verfasser gleich wieder im Halse stecken. Die Zeit etwa komplett vertrödelt? War es denn eine Null-Zeit, fast ein Jahr umsonst? Eigenartigerweise ganz im Gegenteil, nicht nur hat die (wahrgenommene) Gelegenheit bestanden, vielfach das messbare Wissen zu erweitern, es wurde solches also erworben. Obendrein scheint das erzwungene Zurückgezogensein durch Krankheit und Erwerbslosigkeit so manches Wissen zur Reife gebracht zu haben, so jedenfalls das Empfinden. Wer so profitiert hat, soll nichts erworben haben?
 
Ohne Moos nix los!
 
Nun gibt es Menschen ohne Arbeit, die nicht als Arbeitslose gelten. Nein, wir meinen hier nicht jene, deren Tätigkeiten als Vorsitzen oder Vorstehen beschrieben werden, also eigentlich keine Aktivitäten, daher auch keine Arbeit sein können. Wir wollen einmal großzügig sein und sie – wissenschaftlich gewagt – formal zur aktiven, arbeitenden Bevölkerung rechnen. Nein, es gibt Menschen, deren einzige Arbeit darin besteht, zum Beispiel den Golfball ausnahmsweise einmal selber aus dem Gebüsch zu fischen, weil ihr Caddy gerade austritt. Kein "vernünftiger“ Mensch nennt solche Mitbürger arbeitslos, und doch erwerben sie nichts durch Arbeit. Die arbeiten nicht selber, weil das ihr Vermögen für sie tut... Und selbst wenn dieses kein Einkommen erbrächte, so würde es doch bei normalem Verbrauch für mehr als ein Leben reichen. Arbeitslose andererseits sind also Menschen, die kein Geld besitzen und auch kein anderes Mittel, ihr Leben zu fristen. Ihr Versuch, diese Not durch Verkauf ihrer Arbeitskraft zu lindern, scheitert nur leider am Arbeitsmarkt und seinen Konjunkturen. Früher sagte man einfach: Arme.
 
Wer (Lohn-)Arbeit will, findet auch welche?
 
Wissenschaftlich recht gewagt, wird von manchem Zeitgenossen, besonders von Arbeitslosen mit Vermögen oder Sozialschmarotzern in Nadelstreifen, behauptet, all die viele Arbeitslosigkeit liege am fehlenden Willen der entsprechenden Bevölkerungsteile; manche fügen hinzu: wegen deren Migrationshintergrund. Vulgo: Der Arbeitslose, der ist faul, und geht deswegen in die Millionen. Eigenartig nur, dass die Hinaufs und Herunters der Arbeitslosenstatistik zeitgleich mit so manch anderer Konjunktur der Wirtschaft einhergehen. Blöd gefragt: 1970 war der Deutsche und der hierher importierte Türke also noch fleißig? Etwa weil die soziale Hängematte noch viel bequemer war? Und mit der Ölkrise kam ganz zufällig und gleich massenweise der erste Faulheitsanfall? Die Logik dieser frechen Schuldzuweisung wirkt noch ekliger, wenn man bedenkt, dass viele der so betroffenen Arbeitnehmer nichts mehr suchen als Arbeit, da sie diese erstens zum Leben bitter brauchen und zweitens als wohlerzogene Deutsche, Türken etc. sich auch ihrer Bedürftigkeit und erzwungenen Untätigkeit schämen. Wer den Schaden der Armut durch Wachstum hat, braucht dann für den Spott durch seine Apologeten wohl nicht zu sorgen...
 
Eine ausgemachte Sache
 
Scherz beiseite: Seit den Bauernkriegen ist das Land in Deutschland fest verteilt. Wer als mutiger Pionier ein neues Leben anfangen will, der muss schon nach Australien fahren. Hierzulande darf er sich, so er nicht von den Eltern mit reichlich Erbe ausgestattet wurde, am Arbeitsmarkt bewähren. Da trifft er gleich – späte schöne Frucht der Bauernschlägerei und -legerei von ehedem – Millionen seinesgleichen. Das beschert den "Arbeitgebern“ einen Markt in ihrem Sinne, und auch noch massenhaft Abnehmer für ihre Produkte und damit gleich doppelt eine Basis für kontinuierliches Wachstum. Die Kapitalisten, pardon: Unternehmer, ruhen sich nicht faul darauf aus, sondern rationalisieren erst einmal am laufenden Band, damit sich die ganze Unternehmung noch mehr lohnt. Zum Schluss produzieren die Länder, die sich diese seltsame Sorte "Effizienz“ auf ihre Fahnen geschrieben haben, immer mehr Waren mit immer weniger Arbeitskräften. Komisch, komisch, dieses wachsende Heer an faulen Arbeitnehmern, sogar bei die fleißige Japaner...
 
Gibt es denn gar keine faulen Arbeitslosen?
 
Alles in allem arbeitet zwar der Einzelne, um zu leben, das gelingt aber immer weniger Arbeitenden immer schlechter. Zum Schluss leben alle, das Gemeinwesen eingeschlossen, nur noch dafür, dass Geldvermögen wächst und wächst und wächst... Bei wenigen ihr eigenes, bei vielen das der wenigen. Ein leider fast vergessener Ökonom des 19. Jahrhunderts sprach hier unter anderem vom kollektiven Geldfetisch. Daraus schließt mancher messerscharf: Für Lohn zu arbeiten lohnt sich nicht in diesem Lande. Die einen mausern sich deshalb zu arbeitslosen Sozialschmarotzern in Nadelstreifen und mit Bankkonto – unverkennbare „Leistungsträger“. Andere, weniger gewieft, meinen sich mit Hartz IV und ein klein wenig Schwarzarbeit mau durchs Leben schlagen zu wollen. Faul mag man beide nennen, wer aber schadet wohl der Gesellschaft mehr? Insbesondere wenn er auf Vorstandsposten noch hetzerische Bücher schreibt? (PK)

 
Der Autor, Jahrgang '67, ethnisch Deutscher, ist seit 1999 Muslim (praktizierend), Diplom-Mathematiker und lebt zur Zeit in Frankfurt am Main.

Online-Flyer Nr. 298  vom 20.04.2011



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