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NRhZ-Serie aus dem "Buch eines zornigen Mannes"
Die Niederlage des Gefängnisses - Teil I
Von Hubertus Becker - vorgestellt von Christiane Ensslin
Es gibt eine sogenannte Gefängnis-Literatur, es gibt Biografien von langjährigen Gefangenen, zumeist mit einer lebenslänglichen Strafe, es wird in Deutschland sogar ein Preis verliehen für die besten Texte aus den Gefängnissen, der Ingeborg-Drewitz-Literatur-Preis. Die besten Beiträge werden regelmäßig in Anthologien veröffentlicht.
Hubertus Becker weicht von dieser Gefängnisliteratur insofern ab, da er weder persönliche Begebenheiten, kriminelle Aktivitäten oder Stories aus dem Milieu erzählt, sondern er hat 2003 auf insgesamt 117 Seiten eine Bestandsaufnahme des Gefängnissystems erarbeitet. Er ist kein Wissenschaftler, er schreibt nicht über andere, sondern von ihnen. In seiner Einleitung heißt es:
Angesichts der daraus resultierenden Datenunsicherheit habe ich mich entschlossen, eigene Beobachtungen aus 19 Jahren Gefangenschaft zur Grundlage meiner Untersuchung zu machen. Wenn hier und da Zahlen genannt werden, so entstammen diese meist der Tagespresse und erscheinen mir nachvollziehbar. Eine verläßliche Angabe stammt aus "Le Monde diplomatique" vom 22.06.2003: Im Jahre 2002 waren in deutschen Gefängnissen knapp 75.000 Menschen inhaftiert, (darunter ca. 3.000 Frauen und 2.000 Lebenslängliche), was einer Überbelegung von ca. 25 Prozent entspricht. Bundesweit soll zu Beginn dieses Jahrzehnts das Gefängnissystem um 10.000 Haftplätze (Baukosten pro Platz geschätzte 110.000 Euro) erweitert werden. Daß dieses gigantische, von den Bundesländern in Gang gesetzte Investitionsprogramm langfristig betrachtet mehr Schaden als Nutzen für die Gesellschaft bringt, wird im Laufe der vorliegenden Untersuchung ebenso deutlich wie die These Michel Foucaults, daß das Gefängnissystem eine "Ablenkungsanlage für die illegalen Machenschaften der herrschenden Klassen" ist, wie die Affären um Leuna und Parteispenden nahelegen.
Hubertus Becker zu Besuch beim Kölner Appell
Foto: Privat
Der norwegische Kriminologe Nils Christie, der gerade mit "Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft" selbst ein neues Buch vorgelegt hat, schrieb ihm ein kleines Vorwort. Darin heißt es: Dieses Buch kommt von innen. Es ist das Buch eines zornigen Mannes. Manche mögen Teile darin ungerecht finden. Die Gefängnisbeamten und ihre Vorgesetzten werden sagen: Das sind wir nicht, unsere Bemühungen werden verkannt. Andererseits: so sieht es für diejenigen aus, die das Gefängnis von innen heraus betrachten. Es ist eine Perspektive, die wir näher beleuchten sollten.
Die Inhaftierung
Die Rollen, die Menschen in ihrer gewohnten Umwelt mehr oder weniger erfolgreich ausfüllen, spielen nach einer Verhaftung im wahrsten Sinne des Wortes keine Rolle mehr. Weder als Ehefrau, noch als Vater, weder als Arbeitskollegin, noch als Vereinskamerad, weder als Geschäftspartnerin, noch als Verkehrsteilnehmer müssen sie sich im Gefängnis bewähren.
Der Verlust dieser Rollenausübung, die Trennung von der bisherigen Lebenswelt, wird von den Betroffenen als schmerzhaft erfahren. In diesem Sinne ist auch Nelson Mandela zu verstehen, wenn er davon spricht, daß das Gefängnis den Menschen nicht bloß seiner Freiheit, sondern auch seiner Identität beraube. Denn Freiheitsstrafe bedeutet den Verlust eines mehr oder weniger dicken Bündels bisher ausgeübter Rollen: Gefangene verlieren den Arbeitsplatz, sie scheiden aus der familiären Wohngemeinschaft aus, sie geben ihre Erzieherfunktion auf, sie brechen zwangsläufig die bisherigen Sexualbeziehungen ab, sie fallen weitgehend als Konsumenten aus, ihre Freundschaften verkümmern; der `gute Ruf` ist dahin, sie büßen ihren sozialen Status und ihre Autorität ein. Gezwungenermaßen geben sie ihre individuellen Pläne auf, das heißt: Ausbildungen, Kuren, Reisen, Investitionen, Sport, Hobbys, kurz: alle Projekte, zu deren Realisierung der Mensch sich frei bewegen können muß.
Die Architektur
Alle Kapitel des Buches von Hubertus Becker sind mit eindrücklichen Zitaten eingeleitet und durchsetzt, hier finden sich Autoren aus dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Um nur einige von ihnen zu nennen: Fjodor Dostojewski, Arthur Koestler, Jean Genet, Max Hoelz (alle vier waren Gefangene), aber auch Fanz Kafka, Milan Kundera, Norman Mailer, Erich Fromm, Bertolt Brecht, Elias Canetti, Albert Camus und immer wieder Michel Foucault.
Diesem Kapitel ist z.B. ein Zitat von Mila Kundera vorausgeschickt:
Wer den Ort verlassen will, an dem er lebt, der ist nicht glücklich.
Architektonisches Vorbild war das Panoptikum des 19. Jahrhunderts, wo von einem zentralen Punkt aus sowohl Aufseher als auch Gefangene beobachtet und überwacht werden konnten. Das heißt, bei unseren alten Zuchthäusern handelt es sich um Sternbauten, deren Flügel von einer Zentrale aus einsehbar sind. Moderne Überwachungstechnik ersetzt heute vielfach den direkten optischen Zugriff auf die Zellen. Videokameras sind innen in Fluren und Gängen und außen entlang der Mauern und in den Höfen installiert. Gefängnisse sind funktionelle Gebäude. Sie wurden konzipiert und errichtet, um Menschen darin aufzubewahren.
Das Innere eines Gefangenenhauses, sozusagen die Hardware der Strafjustiz, stellt eine wohnpsychologische Bedrohung dar. Die funktionsbetonte Architektur der neben- und übereinander gestapelten `Menschen-Käfige` erleichtert es den Aufsehern, die Häftlinge zu verwalten und zu überwachen. Der Ort, an dem dies geschieht, ist die Zelle, gleichzeitig die einzige Nische für den Insassen. Eine Zelle in ihrer Bedeutung als kleiner Raum ist an sich nichts Negatives: als Metapher für kreative Einsamkeit, als Keimzelle für Besinnung und Meditation ist sie ein Ort von Klarheit und Kraft. Bei diesem Bild jedoch wird die positive Befindlichkeit des Bewohners vorausgesetzt, die Bereitschaft, die Zelle als Durchgangsstätte auf einer Suche zu begreifen.
Die Zelle ist der eigentliche Lebensraum des Gefangenen. Hier atmet und ißt er, hier denkt und träumt er, hier scheidet er seine Fäkalien aus, hier leidet er und hier stirbt er auch, wenn seine Zeit gekommen ist. Jede Gefängniszelle verfügt über ein Waschbecken und eine Toilette, die meisten Zellen auch über einen Stromanschluß. Das Mobiliar besteht aus Bett, Tisch, Stuhl und Spind. Jede Zelle hat eine Tür und ein Fenster, vielfach aus Milchglas, und oft kann man es nur kippen. In den Türen sind meist noch Spione, die es ermöglichen, von außen hineinzuspähen. Die Tatsache, daß seine Zelle immer von außen geöffnet oder verschlossen wird, zeigt dem Insassen, daß ihm die Kontrolle über sein Leben abgenommen wurde. Mehrmals täglich, oft zu willkürlicher Stunde, öffnet sich die Tür und ein ihm im Grunde fremder Mensch betritt seinen Raum.
Ist das Versperren von Räumen mittels eines Schlüssels im normalen Leben ein technischer Vorgang, so wird das Schließen im Gefängnis zu einem sozialen Ereignis.
Christiane Ensslin, geboren 1939, lebt seit 1964 in Köln. Verschiedene Berufe, wie Vermessungstechnikerin, Kellnerin, Redakteurin, Lektorin und Archivarin. Jetzt Rentnerin und wieder einmal im Vorstand des Kölner Appell gegen Rassismus e.V.
Hubertus Becker, geb. 1951 im Rheinland; 1971 Abitur, anschließend zehn Jahre in Spanien, den USA und Indonesien; 1982 wegen Drogenschmuggels für zehn Jahre inhaftiert, von 1992 bis 1995 als Kaufmann in China, 1996 wegen Geldwäsche erneut inhaftiert; seit 1999 als Drehbuchautor tätig, 2005 aus der Haft entlassen; lebt derzeit im Hunsrück und schreibt Ganoven-Biographien und Drehbücher fürs Fernsehen.
Online-Flyer Nr. 48 vom 14.06.2006
NRhZ-Serie aus dem "Buch eines zornigen Mannes"
Die Niederlage des Gefängnisses - Teil I
Von Hubertus Becker - vorgestellt von Christiane Ensslin
Es gibt eine sogenannte Gefängnis-Literatur, es gibt Biografien von langjährigen Gefangenen, zumeist mit einer lebenslänglichen Strafe, es wird in Deutschland sogar ein Preis verliehen für die besten Texte aus den Gefängnissen, der Ingeborg-Drewitz-Literatur-Preis. Die besten Beiträge werden regelmäßig in Anthologien veröffentlicht.
Hubertus Becker weicht von dieser Gefängnisliteratur insofern ab, da er weder persönliche Begebenheiten, kriminelle Aktivitäten oder Stories aus dem Milieu erzählt, sondern er hat 2003 auf insgesamt 117 Seiten eine Bestandsaufnahme des Gefängnissystems erarbeitet. Er ist kein Wissenschaftler, er schreibt nicht über andere, sondern von ihnen. In seiner Einleitung heißt es:
Angesichts der daraus resultierenden Datenunsicherheit habe ich mich entschlossen, eigene Beobachtungen aus 19 Jahren Gefangenschaft zur Grundlage meiner Untersuchung zu machen. Wenn hier und da Zahlen genannt werden, so entstammen diese meist der Tagespresse und erscheinen mir nachvollziehbar. Eine verläßliche Angabe stammt aus "Le Monde diplomatique" vom 22.06.2003: Im Jahre 2002 waren in deutschen Gefängnissen knapp 75.000 Menschen inhaftiert, (darunter ca. 3.000 Frauen und 2.000 Lebenslängliche), was einer Überbelegung von ca. 25 Prozent entspricht. Bundesweit soll zu Beginn dieses Jahrzehnts das Gefängnissystem um 10.000 Haftplätze (Baukosten pro Platz geschätzte 110.000 Euro) erweitert werden. Daß dieses gigantische, von den Bundesländern in Gang gesetzte Investitionsprogramm langfristig betrachtet mehr Schaden als Nutzen für die Gesellschaft bringt, wird im Laufe der vorliegenden Untersuchung ebenso deutlich wie die These Michel Foucaults, daß das Gefängnissystem eine "Ablenkungsanlage für die illegalen Machenschaften der herrschenden Klassen" ist, wie die Affären um Leuna und Parteispenden nahelegen.
Hubertus Becker zu Besuch beim Kölner Appell
Foto: Privat
Der norwegische Kriminologe Nils Christie, der gerade mit "Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft" selbst ein neues Buch vorgelegt hat, schrieb ihm ein kleines Vorwort. Darin heißt es: Dieses Buch kommt von innen. Es ist das Buch eines zornigen Mannes. Manche mögen Teile darin ungerecht finden. Die Gefängnisbeamten und ihre Vorgesetzten werden sagen: Das sind wir nicht, unsere Bemühungen werden verkannt. Andererseits: so sieht es für diejenigen aus, die das Gefängnis von innen heraus betrachten. Es ist eine Perspektive, die wir näher beleuchten sollten.
Die Inhaftierung
Die Rollen, die Menschen in ihrer gewohnten Umwelt mehr oder weniger erfolgreich ausfüllen, spielen nach einer Verhaftung im wahrsten Sinne des Wortes keine Rolle mehr. Weder als Ehefrau, noch als Vater, weder als Arbeitskollegin, noch als Vereinskamerad, weder als Geschäftspartnerin, noch als Verkehrsteilnehmer müssen sie sich im Gefängnis bewähren.
Der Verlust dieser Rollenausübung, die Trennung von der bisherigen Lebenswelt, wird von den Betroffenen als schmerzhaft erfahren. In diesem Sinne ist auch Nelson Mandela zu verstehen, wenn er davon spricht, daß das Gefängnis den Menschen nicht bloß seiner Freiheit, sondern auch seiner Identität beraube. Denn Freiheitsstrafe bedeutet den Verlust eines mehr oder weniger dicken Bündels bisher ausgeübter Rollen: Gefangene verlieren den Arbeitsplatz, sie scheiden aus der familiären Wohngemeinschaft aus, sie geben ihre Erzieherfunktion auf, sie brechen zwangsläufig die bisherigen Sexualbeziehungen ab, sie fallen weitgehend als Konsumenten aus, ihre Freundschaften verkümmern; der `gute Ruf` ist dahin, sie büßen ihren sozialen Status und ihre Autorität ein. Gezwungenermaßen geben sie ihre individuellen Pläne auf, das heißt: Ausbildungen, Kuren, Reisen, Investitionen, Sport, Hobbys, kurz: alle Projekte, zu deren Realisierung der Mensch sich frei bewegen können muß.
Die Architektur
Alle Kapitel des Buches von Hubertus Becker sind mit eindrücklichen Zitaten eingeleitet und durchsetzt, hier finden sich Autoren aus dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Um nur einige von ihnen zu nennen: Fjodor Dostojewski, Arthur Koestler, Jean Genet, Max Hoelz (alle vier waren Gefangene), aber auch Fanz Kafka, Milan Kundera, Norman Mailer, Erich Fromm, Bertolt Brecht, Elias Canetti, Albert Camus und immer wieder Michel Foucault.
Diesem Kapitel ist z.B. ein Zitat von Mila Kundera vorausgeschickt:
Wer den Ort verlassen will, an dem er lebt, der ist nicht glücklich.
Architektonisches Vorbild war das Panoptikum des 19. Jahrhunderts, wo von einem zentralen Punkt aus sowohl Aufseher als auch Gefangene beobachtet und überwacht werden konnten. Das heißt, bei unseren alten Zuchthäusern handelt es sich um Sternbauten, deren Flügel von einer Zentrale aus einsehbar sind. Moderne Überwachungstechnik ersetzt heute vielfach den direkten optischen Zugriff auf die Zellen. Videokameras sind innen in Fluren und Gängen und außen entlang der Mauern und in den Höfen installiert. Gefängnisse sind funktionelle Gebäude. Sie wurden konzipiert und errichtet, um Menschen darin aufzubewahren.
Das Innere eines Gefangenenhauses, sozusagen die Hardware der Strafjustiz, stellt eine wohnpsychologische Bedrohung dar. Die funktionsbetonte Architektur der neben- und übereinander gestapelten `Menschen-Käfige` erleichtert es den Aufsehern, die Häftlinge zu verwalten und zu überwachen. Der Ort, an dem dies geschieht, ist die Zelle, gleichzeitig die einzige Nische für den Insassen. Eine Zelle in ihrer Bedeutung als kleiner Raum ist an sich nichts Negatives: als Metapher für kreative Einsamkeit, als Keimzelle für Besinnung und Meditation ist sie ein Ort von Klarheit und Kraft. Bei diesem Bild jedoch wird die positive Befindlichkeit des Bewohners vorausgesetzt, die Bereitschaft, die Zelle als Durchgangsstätte auf einer Suche zu begreifen.
Die Zelle ist der eigentliche Lebensraum des Gefangenen. Hier atmet und ißt er, hier denkt und träumt er, hier scheidet er seine Fäkalien aus, hier leidet er und hier stirbt er auch, wenn seine Zeit gekommen ist. Jede Gefängniszelle verfügt über ein Waschbecken und eine Toilette, die meisten Zellen auch über einen Stromanschluß. Das Mobiliar besteht aus Bett, Tisch, Stuhl und Spind. Jede Zelle hat eine Tür und ein Fenster, vielfach aus Milchglas, und oft kann man es nur kippen. In den Türen sind meist noch Spione, die es ermöglichen, von außen hineinzuspähen. Die Tatsache, daß seine Zelle immer von außen geöffnet oder verschlossen wird, zeigt dem Insassen, daß ihm die Kontrolle über sein Leben abgenommen wurde. Mehrmals täglich, oft zu willkürlicher Stunde, öffnet sich die Tür und ein ihm im Grunde fremder Mensch betritt seinen Raum.
Ist das Versperren von Räumen mittels eines Schlüssels im normalen Leben ein technischer Vorgang, so wird das Schließen im Gefängnis zu einem sozialen Ereignis.
Christiane Ensslin, geboren 1939, lebt seit 1964 in Köln. Verschiedene Berufe, wie Vermessungstechnikerin, Kellnerin, Redakteurin, Lektorin und Archivarin. Jetzt Rentnerin und wieder einmal im Vorstand des Kölner Appell gegen Rassismus e.V.
Hubertus Becker, geb. 1951 im Rheinland; 1971 Abitur, anschließend zehn Jahre in Spanien, den USA und Indonesien; 1982 wegen Drogenschmuggels für zehn Jahre inhaftiert, von 1992 bis 1995 als Kaufmann in China, 1996 wegen Geldwäsche erneut inhaftiert; seit 1999 als Drehbuchautor tätig, 2005 aus der Haft entlassen; lebt derzeit im Hunsrück und schreibt Ganoven-Biographien und Drehbücher fürs Fernsehen.
Online-Flyer Nr. 48 vom 14.06.2006