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Wir gewöhnen uns daran, dass Chancen sehr ungleich verteilt sind
Wie der Kapitalismus die Seelen vergiftet
Von Elisabeth Umezulike
„Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, hat der Frankfurter Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist Theodor W. Adorno gesagt. Kann es überhaupt richtiges Denken und Fühlen im Falschen geben? Und können wir unser Handeln frei halten von den zynischen Dogmen des selbst proklamierten Gewinners der Klassenkämpfe? Sind wir wirklich überzeugt, dass eine andere Welt möglich ist und tragen wir selbst dazu bei?
Es ist auf jeden Fall sehr schwer und gerät immer wieder in Gefahr, durch die omniprä- sente Ideologie des Neolibera-lismus, der seine Bösartigkeit dadurch erhält, dass er eine Art Aufbäumen gegen die unverkennbare Agonie eines unheilbar kranken globalen Kapitalismus darstellt, zum Scheitern gebracht zu werden.
Online-Flyer Nr. 380 vom 14.11.2012
Wir gewöhnen uns daran, dass Chancen sehr ungleich verteilt sind
Wie der Kapitalismus die Seelen vergiftet
Von Elisabeth Umezulike
„Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, hat der Frankfurter Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist Theodor W. Adorno gesagt. Kann es überhaupt richtiges Denken und Fühlen im Falschen geben? Und können wir unser Handeln frei halten von den zynischen Dogmen des selbst proklamierten Gewinners der Klassenkämpfe? Sind wir wirklich überzeugt, dass eine andere Welt möglich ist und tragen wir selbst dazu bei?
So wie bei einer schweren chronischen Erkrankung nicht nur einzelne Partien des Körpers, sondern immer der Mensch in seiner körperlich-seelischen Gesamtheit getroffen ist und Symptome auf verschiedensten Ebenen zeigt, die natürlich auch sein Denken und Empfinden betreffen, so durchzieht auch der giftige Ausfluss des Neoliberalismus die ganze Gesellschaft und lässt offenbar auch jene nicht unberührt, die gegen ihn kämpfen (oder zu kämpfen meinen).
Das ist so überraschend nicht, sind wir doch vom Moment unserer Geburt an von Überzeugungen, Handlungsmustern und Strukturen umgeben, die unmittelbar aus der Funktionsweise des kapitalistischen Systems resultieren.
Sehr früh merken wir, dass es Unterschiede gibt zwischen den Menschen, die einem mehr zu sagen haben und mehr gelten als die anderen und das gewissermaßen ein Naturgesetz darstellt.
Sehr früh lernen wir, uns zu vergleichen, zu konkurrieren, besser sein zu wollen als andere und sie notfalls auch mit unfeinen Methoden abzuhängen. Sehr früh begreifen wir, dass es die oben und die unten gibt, und wir lieber zu denen oben gehören sollten, um nicht getreten zu werden.
Sehr früh verstehen wir, dass Geld und Macht und Bedeutung eines Menschen unmittelbar miteinander verbunden sind und wir können gar nicht anders, als das als unabänderliche Normalität zu akzeptieren. Eine scheinbare Ausnahme in diesem ehernen Überzeugungsgerüst stellen vielleicht die frommen Zitate des Pastors aus der Bergpredigt dar, der, um die Wahrheit dieser Aussagen zu besiegeln, allerdings auch nicht sein Gehalt opfern möchte und selbst lieber schnelle Autos fährt als mit dem Bus... Diese biblischen oder anderen Geschichten von Menschen, die sich entschieden anders zu leben, bestärken uns im Grunde darin, dass solche Versuche in der Fiktion besser aufgehoben sind, zählen in unserer Wirklichkeit doch eher die handfesten Vorteile und schlichte materielle Überlegenheit gegenüber anderen.
Das finden wir, wenn nicht schon im Kindergarten, spätestens in der Grundschule heraus.
Wir gewöhnen uns daran, dass Chancen sehr ungleich verteilt sind, dass diese Ungleichheit normal ist und die daraus resultierenden, für Millionen von Menschen mörderischen Ungerechtigkeiten eben zum Lauf der Dinge gehören, es schon immer so war und immer so sein wird. Wir lernen auch, das sich doch nicht ganz zum Schweigen zu bringende Gewissen (soweit vorhanden) durch kleine, weitgehend schmerzlose Maßnahmen wie Spendenaktionen in der Vorweihnachtszeit oder bei etwas empfindsameren Naturen das Ehrenamt bei der "Tafel" zu beruhigen, Gewissenskissen also, die ansonsten die kannibalische Weltordnung, in der wir uns eingerichtet haben, gänzlich unberührt lassen.
Noch viele andere Dinge lernen wir auf dem Weg zu dem, was als Erwachsenwerden bezeichnet wird: dass nur der ein gutes Leben haben sollte, der zu schuften bereit ist und der Erwerbsarbeit alle anderen Bedürfnisse unterordnet; dass die, die viel haben, noch mehr bekommen, weil sie es verdienen, sonst wären sie ja schließlich nicht so reich; dass jene, die keinen Erfolg haben (und kein Geld und kein Ansehen) letztlich selber schuld sind und wir in erster Linie darauf achten müssen, nicht zu ihnen zu gehören; dass es schon immer Arme und Reiche gegeben hat und sich daran auch gar nichts ändern lässt und eine besondere Freiheit unserer Gesellschaft eben genau darin besteht, dass man sich ja gewissermaßen entscheiden kann, reich oder arm zu sein (was auch heißen kann, dass man sich eben die richtigen Umstände seiner Geburt aussuchen sollte) und dass die Forderung nach Überwindung dieser Unterschiede automatisch in Zwang und Unfreiheit enden. Und wenn es jemand so klug angeht wie etwa unser Bundespräsident, der große Freiheitskämpfer, dann hat er seinen "Ehrensold" doch wohl verdient, oder?
In Schule und Sportverein, im Elternhaus und von den bürgerlichen Medien, von Pastor und Nachbar, Tante und Lehrerin, von Nachrichtenkommentator und Lokalreporter, von Kollegen und Freunden werden uns diese Wahrheiten vermittelt, und die paar Sonderlinge, die anders denken und leben, haben es ja meistens selbst zu nichts gebracht (da sieht man, wohin das führt!).
Auf diesem ideologischen Nährboden entwickeln sich unsere Überzeugungen und werden täglich neu unterfüttert. Deshalb ist auch die Stimmungsmache gegen Erwerbslose, gegen alte Menschen, gegen Flüchtlinge und auch gegen Behinderte (Menschen also, die angeblich nichts "leisten") so einfach; deshalb lassen sich ganze Völker als "faul" abqualifizieren. Wir werden schließlich immer wieder geimpft gegen Versuche, das Konkurrenzprinzip und den Primat des Profits in Frage zu stellen und wollen lieber zu jenen gehören, die erfolgreich aus dem Kampf der Oberen gegen die Unteren hervorgehen.
"Wir"... dazu gehören allzu oft auch wir, die wir nicht dazu gehören wollen.
Die fatale Auswirkung des neoliberalen Impfserums, das in die Gehirne eindringt und die Seelen besetzt, macht sich selbst in der Partei DIE LINKE bemerkbar, die sich als pluralistisches Sammelbecken links bewegter Menschen versteht, die bei allen Unterschiedlichkeiten immerhin die Überzeugung eint, dass der neoliberale Spätkapitalismus ein Monster sei, das es auf allen Ebenen zu bekämpfen und überwinden gelte. Ja, auch dort wird konkurriert und intrigiert, wird sortiert, hierarchisiert und ausgegrenzt, werden Ellenbogen und SMS eingesetzt, um dem vermeintlichen innerparteilichen Gegner zu schaden, werden Fronten und Feindschaften hochstilisiert und versöhnende Gesten inszeniert, um im Hintergrund umso eifriger Zwietracht zu säen, während die eigentlichen Feinde sich ins reich bewaffnete Fäustchen lachen und Kraft für die nächste Runde im Klassenkampf sammeln können.
Zwischen ihnen, den Profiteuren des Systems herrscht nämlich weitaus größere Einigkeit (weshalb ja auch die PolitikerInnen der etablierten schwarzgelbgrünrosa Parteien kaum voneinander zu unterscheiden sind) als zwischen seinen erklärten Gegnern, die sich zur Freude der zynischen Beobachter an falschen Fronten erschöpfen. Jene, die glauben, für eine bessere Welt zu kämpfen, die sozialen Unterschiede, die Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten überwinden zu wollen, zementieren diese oft noch und zerstören manchmal schon die kleinen Inseln eines tatsächlich gelingenden Anderslebens in ihren Reihen, ehe sie noch richtig aufgetaucht sind.
Ist dies nun das alte Prinzip des "homo homini lupus“ (der Mensch ist des Menschen Wolf) und damit eine unabänderliche anthropologische Konstante, gern auch zitiert von den Apologeten des skandalösen Ist-Zustandes dieses Planeten mit den Worten „Der Mensch ist eben schlecht“?
Oder ist es, abgesehen davon, dass sich gewisse grundlegende unsympathische Züge dieses zum Egoismus neigenden Säugetiers ja nicht ganz leugnen lassen, in erster Linie die unausweichliche Konsequenz einer schleichenden und wie Radioaktivität in alle eindringenden Vergiftung des Denkens und Fühlens, das die kannibalisch-kapitalistische Gesellschaftsordnung ausdünstet? Das Tragische daran ist nämlich, dass diese giftigen Dämpfe auch GenossInnen benebeln können, die meinen, sie seien gewissermaßen qua ihrer politischen Berufung immun dagegen.
Manchmal bricht sich das vergiftete Denken plötzlich Bahn und verdinglicht sich in Begriffen, die direkt aus dem Waffenarsenal der Klassengegner zu kommen scheinen, tatsächlich aber zeigen wie dünn der revolutionäre Firniss auf dem Bewusstsein der "eigenen" Leute ist... Ein Ausdruck dessen ist etwa die vergiftete Beschimpfung eines Hartz4-betroffenen Genossen durch einen anderen als „Sozialschmarotzer“ und jemand, der ja „gar nicht arbeiten will“.
Ein Ausfluss dieses Gifts, das Verätzungen bis zum Rufmord anzurichten droht, ist etwa auch das Paktieren eines Ratsmitglieds der LINKEN mit der bundesdeutschen Klassenjustiz und der bürgerlichen Presse, um einem Genossen zu schaden, der überhaupt nur auf dem Grund des auf die Spitze getriebenen Unrechtssystems Hartz4 zum Ziel einer Strafanzeige wurde. Das auf den Lippen getragene Bekenntnis zur Solidarität, die mantra-artig wiederholte Forderung „Weg mit Hartz4!“ - das alles war schlagartig zweitrangig, als es darum ging, eine Gelegenheit zu nutzen, um einem missliebigen Genossen zu schaden und ihn noch tiefer in die Fänge der geifernden spätkapitalistischen Vernichtungsmaschinerie zu treiben, in die er unverschuldet geraten war. Beispiele dieser Art gibt es leider noch zahlreiche weitere, Enttäuschung, Verbitterung, Rückzug der so aus den eigenen Reihen schwer Getroffenen ist die Folge und es überrascht nicht, dass es ausgerechnet die ehrlichen KämpferInnen trifft, denen es tatsächlich um das geglaubt gemeinsame Ziel der Systemveränderung und nicht ihr eigenes Fortkommen und das Erklimmen der parteiinternen Karriereleiter möglichst bis in die warmen Parlamentssitze geht.
Sie rechnen nicht damit, von eigenen Kampfgefährten mit den Waffen der Gegner angegriffen zu werden und wenn sie sich von ihrer Erschütterung erholt haben, müssen sie sich entscheiden, ob sie ihren Weg allein oder in einem ganz kleinen verlässlichen Kreis fortsetzen (immer mit der Angst des gebrannten Kindes im Nacken) oder tatsächlich vor dem schleichenden, scheinbar unaufhaltsamen Gift des Kapitalismus resignieren und den Kampf aufgeben. Das freut dann jene, die schon immer wussten, dass der Mensch eben schlecht ist und damit gute Geschäfte machen. (PK)
Elisabeth Umezulike ist Lehrerin an der Hannah-Arendt-Gesamtschule Soest, Literaturwissenschaftlerin, Vorstandsmitglied DIE LINKE. Kreis Soest, Sachkundige Bürgerin im Ausschuss für Schule und Sport des Kreises Soest, aktiv in der Erwerbslosenhilfe und attac-Mitglied. Ihren Beitrag hat uns das Kritische Netzwerk zur Verügung gestellt:
Kontakt:
Elisabeth Umezulike
Am Tiergarten 27
59581 Warstein-Sichtigvor
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