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"Verfassungsschutz auflösen!" - Kundgebung vor dessen Bundesamt in Köln
"Abschaffung auf die Tagesordnung setzen!"
Von Ulrich Sander
Vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln fand am 10. November 2012 eine Kundgebung und Demonstration von etwa 2.000 TeilnehmerInnen für die Abschaffung des Verfassungsschutzes statt, zu der über 100 Organisationen aufgerufen hatten. Unter den Rednern waren Betroffene der Machenschaften des Geheimdienstes, darunter die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und zahlreiche Migrantenvereinigungen. VVN-BdA-Bundessprecher Ulrich Sander hielt die folgende Rede. Sie wurde wiederholt durch von der Polizei ausgelöste Unruhe gestört. – Die Redaktion
Online-Flyer Nr. 380 vom 14.11.2012
"Verfassungsschutz auflösen!" - Kundgebung vor dessen Bundesamt in Köln
"Abschaffung auf die Tagesordnung setzen!"
Von Ulrich Sander
Vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln fand am 10. November 2012 eine Kundgebung und Demonstration von etwa 2.000 TeilnehmerInnen für die Abschaffung des Verfassungsschutzes statt, zu der über 100 Organisationen aufgerufen hatten. Unter den Rednern waren Betroffene der Machenschaften des Geheimdienstes, darunter die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und zahlreiche Migrantenvereinigungen. VVN-BdA-Bundessprecher Ulrich Sander hielt die folgende Rede. Sie wurde wiederholt durch von der Polizei ausgelöste Unruhe gestört. – Die Redaktion
Kundgebung vor dem VS-Bundesamt in Köln
Quelle: h.hilse (Soko Köln)
Ich danke für die Einladung, hier zu sprechen. Ich bin einer der Bundessprecher der VVN-BdA und 71 Jahre alt. Als ich 17 Jahre alt war, habe ich mit meiner Jugendgruppe "Geschwister Scholl“ in Hamburg versucht, das Andenken an den Widerstand unserer Eltern zu bewahren, bekannt zu machen und die NS-Täter zu benennen. Diese saßen aber in allen Behörden, allen voran im Verfassungsschutz. Deren Chef war beispielsweise ein Hubert Schrübbers, der zahlreiche NS-Terrorurteile gefällt hatte. Somit verbreitete der VS über uns Lügen, nannte uns extremistisch und vom Osten gesteuert. Meine erste journalistische Arbeit galt dem Andenken an den jüngsten zum Tode verurteilten und mit 17 Jahren hingerichteten Widerstandskämpfer Helmuth Hübener. Die Akteneinsicht wurde mir vom Innensenator verweigert, weil ich Leiter einer verbotenen Jugendgruppe sei. Ich beschaffte mir Informationen aus der DDR, und es kann sein, dass es darüber eine Notiz in der Stasi-Unterlagenbehörde gibt. Mit allem was dazu gehört.
Die Fortsetzung meiner Bespitzelung durch den Verfassungsschutz ist mit dem Datum 17. Dezember 1960 verbunden, an dem Tag wurde die Deutsche Friedensunion gegründet, und ich habe zu ihrer Unterstützung aufgerufen. In jenen Tagen verteilte ich auch Flugblätter zur Werbung für den Ostermarsch. Das führte dazu, dass die SPD-Parteigruppe in meinem Lehrbetrieb Auerdruck/Morgenpost in Hamburg versuchte, mich zu entlassen. Die SPD hatte gerade den Nato-Kurs eingeschlagen. Und nun sollten alle ausgeschaltet werden, die noch immer gegen Atomrüstung und in der Friedensbewegung wirkten. Verantwortlich war zur Zeit der versuchten Entlassung der spätere BND-Vize Dieter Blötz, damals SPD-Geschäftsführer.
Ich hatte noch Glück. Ich verlor meinen Arbeitsplatz nicht wie andere tausende Kommunisten und Linke. Ich wurde nicht eingesperrt wie es zehntausend meiner Genossinnen und Genossen erging. Gegen sie wurde mit Hilfe des VS operiert. In den Prozessen wurden Spitzelberichte "vom Hörensagen“ für bare Münze genommen. "Erkenntnisse“ des Verfassungsschutzes führten zu weit über 2.000 Entfernungen von Beamten aus dem öffentlichen Dienst, zu Berufsverboten in den 70er und 80er Jahren. Nach dem "Blitzgesetz“ und 131er Gesetzen Adenauers wurden zuvor schon tausende Antifaschisten entlassen und tausende Faschisten in den öffentlichen Dienst hineingenommen.
In den Verfassungsschutzberichten in Bayern und Baden-Württemberg wurde noch bis vor kurzem mir und meiner Organisation, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/VVN-BdA vorgeworfen, wir seien „linksextremistisch“, denn wir agierten „auf der Basis des klassischen kommunistischen Faschismusverständnisses, das einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus herstellt". Damit komme ich zu der Hauptbeschäftigung des Verfassungsschutzes: Schutz des Kapitalismus auch in seiner verbrecherischsten Form und Verbot seiner Kritik – auch dann wenn damit der Schutz von Faschisten, Sklavenhaltern und Mördern verbunden ist. Der Kapitalismus wird mit dem Grundgesetz gleichgesetzt, was natürlich Unsinn ist.
Ich sage: Der Kapitalismus muss nicht zum Faschismus führen. Aber bei uns ist es geschehen. Und es kann wieder geschehen. Und deshalb müssen wir wachsam sein. Und deshalb müssen wir die Meinungsfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit gegen den Verfassungsschutz erkämpfen.
In der VVN-BdA gibt es unterschiedliche Zugänge zum Antifaschismus. Uns eint das Ringen um Demokratie, um Frieden – im Sinne des „Nie wieder!"
Es ist allerdings historisch durchaus korrekt, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapital als Förderer und Profiteure des Faschismus und des Krieges gab. Dazu haben wir jetzt ein Buch geschrieben; dessen Titel lautet „Von Arisierung bis Zwangsarbeit – Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933-1945“. Und mit diesem Buch werde ich wohl nun wieder ganz groß im Verfassungsschutzbericht bayerischen herauskommen.
Ich bin darauf nicht stolz. Ich bin empört wie am ersten Tag. Denn mir werden Grundrechte genommen, ich wurde beruflich benachteiligt, man hat mich kriminalisiert. Redaktionen, die mir Aufträge geben wollten, wurden verwarnt.
Der Verfassungsschutz spielt sich auf als höchste Instanz in Meinungs- und Gesinnungsfragen. Kritik am Verfassungsschutz stellt er als Angriffe auf die Verfassung dar. Seine Beweise sind absurd. 1964 versuchte man mich unter Druck zu setzen. Wenn ich nicht gesprächswillig sei, wolle man meinem Redaktionsleiter über mich berichten. Kurze Zeit darauf wurde mir richterlich vorgehalten, einzelne Exemplare von Zeitungen aus der DDR erhalten zu haben, für die Deutsche Friedens-Union gearbeitet zu haben, eine Rede auf einer Geschwister Scholl-Gedenkfeier gehalten und gegen die Ermordung des Antifaschisten Julian Grimau durch die Franco-Faschisten protestiert zu haben. Letzterer Protest war dem VS durch die faschistische spanische Polizei zugeleitet worden. So geriet der Protest in "meine Akte“.
Und so hat man seit Jahren dann meine antifaschistischen Aktivitäten als höchst verdächtig eingestuft. Das macht derselbe Verfassungsschutz, der die Meinungsfreiheit der Nazis hoch hält und die Losung „Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen“ für verfassungsfeindlich erklärt. Derselbe Verfassungsschutz, der offenbar seine schützende Hand über Mörder und Verbrecher hält, wie am Fall NSU abzulesen ist. Es wird immer mehr sichtbar, dass das "Amt“ die Nazis gewähren ließ und lässt, wenn sie ihren Terror sowohl gegen Linke als auch gegen sogenannte "Ausländer" richten.
Es gibt übrigens kaum einen Schutz gegen Lügen, die der Inlandsgeheimdienst über demokratische Bürger verbreitet. Als ich einmal beim Bundesamt eine Akteneinsicht erbat, da sandte man mir einen Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis einer "meiner“ Akten zu. Danach soll ich u.a. 1992 an einer DKP-Konferenz in Bielefeld teilgenommen haben. Ich war offenbar von einem Verfassungsschutz-V-Mann verwechselt worden. Nachweislich war ich zu jener Zeit in den USA, und – auf den Irrtum aufmerksam gemacht – teilte man mir mit, man werde die Akten nicht ändern, aber meine Beschwerde zu den Akten nehmen. So wurde ich dann auch noch zum Informanten.
Es kommt immer wieder vor, dass sogar gewerkschaftliche Veranstaltungen vom VS überwacht werden. Das richte sich nicht gegen die Gewerkschaften, erklären dazu VS-Sprecher. Sondern dies diene den Gewerkschaften, die man so vor extremistischer Unterwanderung schütze.
Es wird über die Unverschämtheit des Verfassungsschutzamtes berichtet, der ganz normale Mitgliederversammlungen der VVN beobachtet und dann die Liste der Teilnehmer in deren Akten einträgt.
Meine Eintragungen in die VS-Berichte werden von Nazis mit Behagen aufgenommen. Sie setzten mich auf bedrohliche Schwarze Listen. Diese wurden von VS-Ämtern fahrlässig als verständliche Antwort auf Angriffe von Linken auf Rechte dargestellt. Es hieß, Links sei gleich Rechts, und man schaukele sich gegenseitig hoch, wobei die Initiative von Links ausgehe. Nazis schreiben in der pro-faschistischen "Jungen Freiheit“ über die VVN-BdA, die laut VS „alle nicht-marxistischen Systeme als faschistisch definiert". So werden die Lügen des VS übernommen.
Die Verteidigung der Grundrechte und des Grundgesetzes gehörten und gehören jedoch zu den Wesensmerkmalen der Politik und Praxis der VVN.
Es wird gesagt, die VVN arbeite mit „offen verfassungsfeindlichen Kräften zusammen“, so mit der Deutschen Kommunistischen Partei. Dass die Kommunisten einen erheblichen Anteil am Widerstand gegen den Faschismus hatten und somit auch einen großen Anteil an der Mitgliedschaft einer Verfolgtenorganisation wie der VVN-BdA, lässt der Verfassungsschutz unerwähnt. Eine Widerstandsorganisation kann sich nicht von Widerstandskämpfern distanzieren. Wir können uns nicht von unseren Eltern distanzieren. Wir haben uns immer von den Verfolgern, den Tätern distanziert.
Die VS-Geschichte ist die Geschichte der alten Nazis, die als V-Leute und als offizielle Mitarbeiter ungestört agieren konnten. Sogar die der CDU nahestehende Zeitung „Rheinischer Merkur” schrieb damals über den Schrübbers-VS: „Der Verfassungsschutz scheint das verfassungswidrige Treiben völkischer Ideologen, das auf die Rehabilitierung der Kernstücke des Nationalsozialismus zielt, nicht so wichtig zu nehmen.”
Schuldig machten und machen sich alle, die darauf verzichten, wenigstens zu versuchen, die Sache der Demokratie in die eigenen Hände zu nehmen. Sowohl die Abschaffung der NPD und anderer Nazibanden wie auch die des Verfassungsschutzes sind auf die Tagesordnung zu setzen. (PK)
Online-Flyer Nr. 380 vom 14.11.2012