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Aktueller Online-Flyer vom 22. Dezember 2024  

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Inland
Ein notwendiger Klartext: Euro - um jeden Preis? Oder:
Euro - bis zum bitteren Ende? - Teil III
Von Hans Fricke

Die letzten Wochen und Monate zeigen eindrucksvoll, dass die sozialen Unruhen in der Euro-Zone dramatisch zunehmen und bereits die Besorgnis geäußert wird, es bestehe die Gefahr von Bürgerkriegen. Innerhalb einer Woche erlebten wir zornige Griechen, Portugiesen und Spanier in heftigen Gefechten mit Polizeieinheiten. Auffallend an der aktuellen Situation ist, dass es sich dabei zunehmend um "normale", aber verzweifelte und bis aufs Blut gereizte Bürgerinnen und Bürger handelt, darunter besonders viele junge Menschen, die sich zu Recht um ihre Zukunft betrogen fühlen.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
 
Sarah Nagel, Mitglied im Bundesvorstand von DIE LINKE.SDS, erklärte dazu: "In Südeuropa hat sich eine 'Generation Widerstand' entwickelt, die um ihre Zukunft kämpft." - Erinnern wir uns: In Italien hatten am 27.Oktober nach Angaben der Organisatoren 150.000 Menschen gegen die Kürzungspolitik der Regierung Mario Monti und gegen die von Kanzlerin Merkel und der Troika weitgehend bestimmte EU-Politik protestiert. "Vereint mit einem rebellischen Europa - jagen wir die Regierung Monti davon", skandierten die Teilnehmer. Auch am 14.November, dem Tag des ersten länderübergreifenden Generalstreiks in Südeuropa, demonstrierten in allen italienischen Großstädten Zehntausende Menschen mit Streiks, Protestaktionen und Großkundgebungen gegen die Kürzungspolitik der EU und der Regierung in Rom.
 
Als historischen Moment in der europäischen Gewerkschaftsbewegung hat der Europäische Gewerkschaftsbund (EWB) die jüngsten Proteste von Millionen Beschäftigten in Portugal, Spanien, Italien, Griechenland und Belgien gegen die EU und den Internationalen Währungsfonds bezeichnet. In Frankreich gingen mehr als zehntausend Menschen ebenfalls gegen die Kürzungsmaßnahmen auf die Straße. Auch in der Bundesrepublik Deutschland fanden an diesem geschichtsträchtigen Tag vielerorts kleinere Demonstrationen zur Unterstützung der politischen Streiks in den o.g. Ländern statt. Linksparteichef Bernd Riexinger begrüßte die Streiks als "Signal der europäischen Einigung von unten" und meinte, dieser erste internationale Streik gegen die Euro-Politik werde nicht der letzte sein. Er sei "froh und stolz, dass sich auch in Deutschland die Gewerkschaften den Protesten anschließen und solidarisch mit den europaweiten sozialen Kämpfen sind". Auf den südeuropäischen Generalstreik "muss und wird eines Tages ein europäischer Generalstreik folgen".
 
Der Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo erklärte, seine Stadt sei de facto bankrott. Wegen der explosiven Mischung aus der Verzweiflung vieler Familien und dem Würgegriff der organisierten Kriminalität könnte sogar ein Bürgerkrieg ausbrechen, erklärte er im Wirtschaftsblatt. Was der Bürgermeister von Palermo für Süditalien befürchtet, prognostiziert der Zukunftsforscher Klaus F. Zimmermann nicht nur für ganz Südeuropa.
 

Klaus F. Zimmermann
Noch vor ein paar Jahren hätte man nicht im Traum an einen Bürgerkrieg in Ländern wie Italien, Griechenland oder Spanien gedacht. Jetzt aber kämen auf einmal solche Warnungen aus mehreren Quellen, und sie erschüttern den festen Glauben an eine friedliche Zukunft Europas. Nach Meinung von Experten stünden wir kurz davor, dass es in den genannten Ländern zum Bürgerkrieg kommt.
 
Klaus F. Zimmermann ist Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn und Berater der Europäischen Kommission und der Weltbank zu Beschäftigungsfragen. Er hält soziale Unruhen infolge einer weiteren Zuspitzung der Euro-Krise für ein realistisches Szenario. Im Interview mit Handelsblatt-Online teilte er ausdrücklich die Einschätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (Ilo), dass eine womöglich steigende Erwerbslosigkeit, Unruhen in der Euro-Zone auslösen könne.
 
Auch der griechische Ministerpräsident Samaras zeichnet im Falle eines Ausscheidens seines Landes aus der Euro-Zone ein Szenario, wie es düsterer nicht sein kann. Der griechische Lebensstandard sei in den vergangenen drei Jahren um etwa 35 Prozent gesunken und eine Rückkehr zur Drachme würde diesen sogar noch um weitere 70 Prozent herabsetzen. Dies würde die griechische Demokratie vor eine Zerrreisprobe stellen. "Am Ende wäre es wie in der Weimarer Republik", sagte er.
 
In dem am 31.10. im Athener Parlament eingereichten Haushalt für 2013 rechnete das Kabinett mit einem Staatsdefizit von 5,2 Prozent. Im vorläufigen Budgetentwurf war die Regierung noch von einem Fehlbetrag von 4,2 Prozent ausgegangen. Angesichts der revidierten Zahlen dürfte die Gesamtverschuldung im kommenden Jahr von 175,6 Prozent auf 189,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. Damit erhöht sich der Schuldenstand auf 346,2 Milliarden Euro - und das BIP schrumpft stärker als zunächst prognostiziert.
 

Sahra Wagenknecht
Foto: Arbeiterfotografie
"Was derzeit in Südeuropa passiert, geht uns alle an", erklärte Sahra Wagenknecht, erste Stellvertre- tende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Insbe-sondere Griechen- land werde als Versuchskaninchen benutzt, um zu testen, wie weit man bei der Zer- störung sozialer und demokratischer Rechte gehen kann. Die Palette des von der EU geforderten und von der Regierung in Athen gehorsam befolgten sozialen Kahlschlags sei breit: Kürzung der Renten und Löhne um ein Drittel und mehr, Sechstagewoche und Rente erst mit 67, Vernichtung von Hunderttausenden Arbeitsplätzen bei Halbierung der Abfindungszahlungen, Reduzierung der Gesundheitsausgaben um zwölf Prozent jährlich, Entmachtung der Gewerkschaften durch Vorrang betrieblicher Tarifvereinbarungen, Schleifung des Kündigungsschutzes und Förderung prekärer Beschäftigung, Anhebung der Mehrwertsteuer um vier Prozentpunkte und Erhöhung weiterer Verbrauchssteuern um 33 Prozent. "Diese und weitere Maßnahmen", so Sahra Wagenknecht weiter, "haben der griechischen Wirtschaft das Rückgrat gebrochen und zu einer humanitären Katastrophe geführt. Es glaubt niemand mehr ernsthaft, dass Griechenland seine Verschuldungsquote aus eigener Kraft bis zum Jahr 2020 auf 120 Prozent der Wirtschaftsleistung drücken kann. Doch Schäuble und Merkel wollen die Öffentlichkeit für dumm verkaufen. Dabei ist auch ihnen klar, dass Athen weitere Schuldenerlasse braucht und auf deutsche Steuerzahler Milliardenverluste zukommen. Doch das will man erst nach der nächsten Wahl zugeben."
Die im Euro-Raum laut Statistik bereits zweithöchste Arbeitslosigkeit nimmt weiter zu. Erst im Juli hatte deren offizielle Quote in Griechenland mit 25,1 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. Informationen zufolge formieren sich in Griechenland bereits erste bewaffnete Bürgerwehren. Einige wollen die Bekämpfung der dramatisch steigenden Kriminalität in die eigenen Hände nehmen, wozu auch die Anschaffung automatischer Waffen durch besorgte Hauseigentümer gehört. Andere sprechen ganz offen davon, dass ihr Ziel der gewaltsame Aufstand gegen die Regierung ist.
 
In diesem Zusammenhang verdienen das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. August über die Zulassung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Inland sowie der Artikel bei
euro-police vom 25.Oktober, wonach das in Ulm stationierte Bundeswehrkommando in Potsdam den Ernstfall einer EU-Militärmission trainiert, besondere Aufmerksamkeit und Wachsamkeit aller Demokraten. (1) Dieses Bundeswehrkommando ist als Führungsmannschaft vorgesehen und spielt im Auftrag der EU die Krisenreaktionsübung "Multi Layer 2012" durch. Die Ulmer Truppe bildet das einzige Kommando in Europa, das voll besetzt auf einen Einsatzbefehl wartet, von der EU, vielleicht auch bald von der NATO, und abgesegnet vom Bundestag. Lange war hinter den Kulissen darüber nachgedacht worden, ob ein solches Hauptquartier nicht zentral bei der EU in Brüssel angesiedelt werden müsste. Darauf konnten sich die Staaten nicht einigen. Deshalb steht das Kommando Gewehr bei Fuß in Ulm für den Fall, dass die EU ruft.
 
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, Kampfeinsätze der Bundeswehr im Inland zuzulassen, kennzeichnet einen Wendepunkt in der Geschichte der BRD, vergleichbar mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968. Nach dem Karlsruher Urteil darf die Bundeswehr schon im Inland eingesetzt werden, wenn ein "Schadenseintritt von katastrophischen Dimensionen" droht. Dieses Kriterium ist derart schwammig, dass es sich von der Exekutive beliebig dehnen und auf jeden sozialen und politischen Protest anwenden lässt. Das Urteil öffnet die Tür für blutige Militäreinssätze gegen die eigene Bevölkerung, wie sie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik stattgefunden haben.
 
Peter Schwarz wies auf den Unterschied der Verhältnisse von 1968 zu heute hin und schrieb am 23. August auf der World Sozialist Web Site: "Diesmal stehen die Dinge anders. Die Gesellschaft ist heute weit tiefer gespalten als 1968. Damals waren in der Bundesrepublik durchschnittlich 323.000 Menschen arbeitslos und die Wirtschaft wuchs um 7,2 Prozent. Heute sind in Deutschland 2.876.000 Menschen ohne Arbeit und die Wirtschaft stagniert. Zu den offiziellen Arbeitslosen kommen viele Millionen, die aus der Statistik herausgefallen sind oder in prekären Arbeitsverhältnissen am Rand des Existenzminimums leben. Anders als 1968 lässt die internationale Wirtschaftslage auch keine sozialen Zugeständnisse mehr zu, um die sozialen Spannungen zu dämpfen. Die gesellschaftlichen Gegensätze sind zum Zerreißen gespannt und werden nur deshalb nicht offen ausgetragen, weil ihnen keine große Partei oder Gewerkschaft politisch Ausdruck verleiht.

Widerstand in Griechenland
NRhZ-Archiv
 
In Griechenland statuiert die Europäische Union unter deutscher Federführung ein Exempel und wirft den Lebensstandard der Arbeiterklasse um Jahrzehnte zurück. Sie setzt damit Maßstäbe für ganz Europa. In Portugal, Irland, Spanien und Italien sind bereits ähnliche Sparprogramme in Kraft. Auch Deutschland bildet keine Ausnahme. Trotz boomender Exportindustrie hat sich hier ein gewaltiger Niedriglohnsektor entwickelt. Gleichzeitig ist die Exportabhängigkeit die Achillesferse der deutschen Wirtschaft. Die sich abzeichnende Rezession der Weltwirtschaft zieht unweigerlich weitere Angriffe auf Einkommen und Arbeitsplätze nach sich. In diesen Zusammenhang muss das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesehen werden. Es dient der Vorbereitung zukünftiger Klassenkämpfe. Wie die Notstandsgesetze von 1968 richtet es sich gegen rebelliernde Arbeiter und Jugendliche... Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Schritt zu einer Militarisierung der Innenpolitik, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik katastrophale Folgen hatte. Es zeigt, dass die Verteidigung demokratischer Rechte nicht auf den Staat und seine Institutionen gestützt werden kann. Sie erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen, sozialistischen Programms, das die Abschaffung des Kapitalismus, der Ursache der gesellschaftlichen Krise, zum Ziel hat."(2)
 
Auf noch etwas Wesentliches weisen Experten heute schon hin: Wenn in Südeuropa Unruhen ausbrechen, würden sie über ganz Europa hinwegfegen wie ein Feuer-Tornado. Die kleinen Brutherde würden zuerst durch die vielen Migranten aus dem afrikanischen Magreb mit dem Brandbeschleuniger des "Arabischen Frühlings" zum Lodern gebracht. Dann springen sie auf Frankreich hinüber und von dort weiter. Angesichts der Starrköpfigkeit europäischer Politiker, die auch weiterhin genau das Gegenteil von dem tun, was sie tun müssten, um die Krise hinter sich lassen zu können, würden die sozialen Unruhen noch viel heftiger werden. Und sie würden sich dann wie ein Ölteppich in Richtung Norden ausbreiten.
 
Dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, ist zuzustimmen, wenn er sagt: "Unruhen sehe ich nicht." Wenn es der Bundesregierung aber nicht gelinge, mit ihrem Konjunkturprogramm zugleich ein deutliches Zeichen für soziale Gerechtigkeit zu setzen, werde Politikverdrossenheit einsetzen. In diesem Fall würden sich die Menschen vom demokratischen System abwenden und sich von radikalen Kräften einfangen lassen. Dann könne es zu einer politischen Krise kommen. "Diese Gefahr ist weitaus größer und gefährlicher, als Unruhen auf den Straßen", sagte Schneider. (Es ist nicht zu übersehen, dass die Neo-Nazis und ihre Hintermänner in Nadelstreifen sich systematisch und planmäßig auf eine solche innenpolitische Entwicklung vorbereiten.)
 
Auch wenn es in der BRD derzeit noch keine konkreten Anzeichen für soziale Unruhen gibt, mehren sich die Widerstandsaktionen der deutschen Bevölkerung gegen die Regierungspolitik in fast schon dramatischer Weise. Streiks, Demonstrationen, entschlossene Gegenwehr von Demonstranten gegen eingesetzte Polizeieinheiten, Unterschriftensammlungen, Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und Kampagnen der verschiedensten Art zeugen von der wachsenden Unzufriedenheit und Wut sehr vieler Bundesbürger.
 

IGM-Chef Berthold Huber
Quelle: wikipedia
Wenn wir, wie beispielsweise in Frankreich, kämpferische Gewerkschaften hätten, deren führende Funktionäre als Mitglieder von Aufsichtsräten und Geschäftsleitungen von Konzernen und Betrieben nicht immer wieder beruhigend auf die Stimmung in den Betrieben einwirken würden, dann hätten sich bestimmt schon Millionen Bundesbürger an einem Generalstreik beteiligt.
 
Der Sprecher des Berliner Griechenland-Solidaritätskomitees, Michael Prütz, bringt die Sache auf den Punkt, indem er in einem Gespräch mit der Zeitung junge Welt am 14.November dazu kritisch feststellte, dass die deutschen Gewerkschaften voll auf Sozialpartnerschaft orientieren. Erst kürzlich habe der Vorsitzende der IG-Metall, Bertold Huber, die Kolleginnen und Kollegen im Süden öffentlich wegen zu hoher Lohnabschlüsse kritisiert und sich gegen ihre Aufrufe zum Generalstreik gestellt. Durch jahrzehntelanges Paktieren mit dem Kapital sei in Deutschland eine Situation entstanden, in der die Gewerkschaften erst wieder lernen müssten zu kämpfen. Es fehle eine Kultur des Widerstands. (PK)
 
(1) http://euro-police.noblogs.org/
ulmer-bundeswehrkommando/trainiert/in/potsdam/den/ernstfall
(2) http://www.wsws.org/de/articles/2012/aug2012/pers-a23.shtml
 
Hans Fricke ist Autor des 2010 im GNN-Verlag erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft" - Jubiläumsjahre und ihre Tücken - 1949 bis 2010, 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2
Der vierte und letzte Teil seiner Serie erscheint in einer Woche.


Online-Flyer Nr. 381  vom 21.11.2012



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