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Globales
Palästinensische Autorin Sumaya Farhat-Naser auf Deutschlandtournee
Mädchen steh auf!
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

„Wir bleiben im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Aber dieses Rezept ist falsch“, lautet die fundamentale Äußerung der 64jährigen Biologieprofessorin, Friedens- und Versöhnungspreisträgerin und Buchautorin Dr. Dr. hc Sumaya Farhat-Naser aus Bir Zeit/Palästina. Ihre 1995 erschienene Autobiographie "Thymian und Steine“ wurde vom Verein Literaturhaus Köln und dem Kölner Stadt-Anzeiger als „Buch für die Stadt“ 2012 ausgewählt. In all ihren überfüllten Veranstaltungen in Köln und Umgebung erfuhren die Menschen Unfassbares aus dem alltäglichen Leben der Menschen unter israelischer Besatzung.


Sumaya Farhat-Naser
alle Fotos: arbeiterfotografie.com

„Wir fordern alle Freunde Israels und Palästinas auf der ganzen Welt, die Juden in der Diaspora und die Palästinenser im Exil zum Handeln auf. Das Überleben der einen Seite ist an das Überleben der anderen Seite gebunden. Friede und Sicherheit haben nur dann eine Chance, wenn sie für beide Völker gelten.“, so lautet die Botschaft der temperamentvollen Frau in ihrem autobiographischen Buch „Thymian und Steine“. Talitha Kumi, die Schule, ein Diakonissen-Internat, das sie als Kind trotz Armut besuchen konnte, trägt den Namen mit der viel sagenden Bedeutung: „Mädchen steh auf!“ So steht es in der Bibel: Jesus „erweckte“ das Mädchen zum Leben. Sumaya ist aufgestanden, hat (in Hamburg) studiert und bis heute ein streitbares Leben – auch um Frauenrechte – geführt.


Veranstaltung mit Sumaya Farhat-Naser am 8.11.2012 in der Kölner Melanchton-Akademie

Angst, Angst, Angst – vor der Wahrheit

70 Reiseorte, teilweise mehr als ein Termin pro Tag. Abends noch in Kempten im Allgäu, am nächsten Morgen – wie zwei Tage zuvor – wieder in Köln, diesmal in der Bahnhofsbuchhandlung mit Moderation von Rupert Neudeck, am selben Abend im Rathaus von Bergisch Gladbach. Seit über 30 Jahren ist sie an jährlich 60 bis 80 Veranstaltungen (und manchmal mehr) im deutschsprachigen Raum beteiligt, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, um die Europäerinnen und Europäer in die Lösung des Problems der Dauerbesatzung Palästinas einzubeziehen, das zunehmend ein Problem für die israelische Bevölkerung darstellt. Überfüllte Säle, gebannt lauschende Menschen mit staunend aufgerissenen Augen, hier und da eine Träne, Kopfschütteln, Fassungslosigkeit... Dabei hatte der erneute „Krieg gegen ein wehrloses Volk“ – wie es die Israelin Gila Svirsky und langjährige Mitwirkende in der Völker übergreifenden Frauen- und Friedensbewegung 2001 in ihr Tagebuch schrieb, die „Säule der Verteidigung“ mit den bereits bekannten asymmetrischen Bombardements gegen die Zivilbevölkerung noch nicht einmal begonnen. „Wir weigern uns, Feinde zu sein“, war die Konsequenz einer langjährigen Frauenfriedensarbeit von Israelinnen und Palästinenserinnen, zusammengeschlossen in Jerusalem Link.

Die Besatzung will nicht, dass Menschen sich begegnen

Was macht Jerusalem Link heute? „Es war einmal. Leider.“ Nach 2001 sei ein schärferer Kurs gekommen. Der Mauerbau begann und mit ihm weitere Verbote. „Seit drei Jahren ist es den israelischen Menschen verboten, zu uns zu kommen. Früher kamen sie, haben uns mitgenommen, geschmuggelt, und wir haben vieles Gemeinsames gemacht. Jetzt dürfen sie nicht. Ich darf nicht in einem Auto mit gelber Nummer (israelisches Kennzeichen) fahren. Wenn ich erwischt werde, selbst im Taxi, muss der Taxifahrer 20.000 Schekel zahlen, sein Führerschein wird für einen Monat weggenommen und er kann auch für sechs Monate im Gefängnis landen. Früher haben uns die Frauen mitgebracht. Jetzt dürfen wir auch nicht mehr in ihre Autos einsteigen. Die Besatzung will nicht, dass Menschen sich begegnen.“ Erschrecken, ja Entsetzen darüber, dass die Friedensarbeit vor Ort systematisch verunmöglicht wird. Menschen sollen sich nicht kennen lernen. „Sie sollen nicht die Kultur, das Schöne, das Verbindende“ miteinander erleben. Aber, so Farhat-Naser: „... das muss geändert werden.“


Veranstaltung mit Sumaya Farhat-Naser am 10.11.2012 in der Kölner Bahnhofsbuchhandlung – mit Rupert Neudeck

Auf welcher Seite stehen wir

In den 90er Jahren habe es im Rausche des Friedensprozess-Beginns nur so gewimmelt von gemeinsamen Projekten. Dazu gehörte auch Jerusalem Link. Über 280 gemeinsame Projekte habe es gegeben mit Dichtern, Autoren, Künstlern – aber auch innerhalb politischer Parteien. Arbeiter, Ärzte, Akademiker „haben israelische Studenten geschmuggelt zu uns nach Bir Zeit. Für zwei, drei Stunden konnten sie kommen. Die Militärs haben Sperren errichtet.“ In der Zeitung wurde das Treffen für Jerusalem angekündigt. Stattgefunden habe es aber in Bir Zeit. Und die Militär-Blockaden waren an der falschen Stelle platziert. „Und der andere Weg war frei. Und die Studenten blieben nicht drei Stunden. Sie schlossen sich ein in den großen Sälen und sie blieben sieben, acht Stunden. Dann kamen sie raus (draußen warteten die Militärs), und haben geweint und gesagt: auf welcher Seite stehen wir überhaupt. Warum kommen sie und wollen unser Zusammentreffen verhindern? Wir sind doch Studenten.“ Doch Sumaya Farhat-Naser berichtet auch von einer hoffnungsvollen Jugendbewegung, die sich den andauernden Attacken der Siedler entgegenstellt, um die Zerstörung der Ernte und Schlimmeres noch (Schüsse auf die Bauern) zu verhindern.

Jugend ohne Zukunft?

Sumaya liest Passagen aus ihrem „Buch für die Stadt“ und antwortet auf zahlreiche Fragen, die heutige Situation betreffend: „Israel zieht das Programm durch. In aller Härte und Entschlossenheit wie nie zuvor. Unsere Existenz ist bedroht wie nie zuvor. Siedlungsbau, Landkonfiskation, Menschen ins Gefängnis, das Leben schwer machen. Wir haben eine Mauer um unsere Dörfer herum. Die Mauer ist nicht zwischen Israel und besetzten Gebieten, sondern sie geht tief in die besetzen Gebiete, ummauert die palästinensischen Dörfer. Es gibt 78 Eisentore wo die Menschen am Tag nur dreimal rein und raus dürfen. Morgen, Mittag und Abend nur zehn Minuten oder eine halbe Stunde. Und wenn man in der Zwischenzeit kommt, muss man warten. Und vor allem: die Mauer ist um die Häuser herum. Das gesamte Hinterland für Agrarwirtschaft ist schon alles von Israel einverleibt. Und deshalb gehen wir auch wirtschaftlich ein. Das ist sehr, sehr schwer. Auch weil Siedler jetzt, in den letzten zwei Jahren, unsere Olivenbäume zersägen, mit Bulldozern entwurzeln, die Ernte verhindern oder wegnehmen, auf die Bauern schießen. Noch gestern ist das passiert. Natürlich nimmt das die Lebensgrundlage der Menschen.“ Vom Raub des Wassers, der Quellen durch die illegalen Siedler ganz zu schweigen. Von Häuserzerstörungen und den ethnischen Säuberungen in Ost-Jerusalem ebenfalls.


„Für Amerikaner verboten! – Was würden Sie tun, wenn die Welt fordern würde, dass wir das Recht eines anderen Staates, 78% unseres Landes zu erobern, anzuerkennen hätten?“

Vom Euphrat bis zum Nil

Auf eine Frage aus dem Publikum, wie es um die gegenseitige Anerkennung stehe, gibt Sumaya die Position der Hamas-Partei wieder. Abgesehen von dem Dilemma, dass eine Partei schwerlich rechtswirksam einen Staat anerkennen könne, sei deren Haltung: „Wir werden gerne Israel anerkennen. Wir würden aber gerne von Israel wissen, welche Grenzen sollen wir anerkennen? Nach dem Teilungsplan von 1967 der UNO, also die Grenze von 1967, oder ist es die Grenze vor der Mauer oder nach der Mauer?“ Sumaya: „Israel hat kein Grundgesetz. Hat Pakete von Verordnungen, weil sie ausweichen, die Gesetze zu benennen, denn in den meisten Parteibüchern von Israel steht: von Euphrat bis Nil. Aber diese Mauer wird von den Israelis so betrachtet, als wäre sie die Grenze. Aber damit bleibt nur neun Prozent des historischen Lands von Palästina übrig. Und diese neun Prozent sind Enklaven. Nicht zusammen hängend. Total von Mauer umbaut. Und Israel hat Kontrollen überall. Niemand darf rein und raus gehen, niemand bekommt eine Geburtsurkunde, wenn Israel nicht ja sagt.“

Die Demokratie Israel leistet sich einen GULAG

Die gespaltene Demokratie Israel erscheint als Willkürgebilde unter fortwährender Missachtung des Völker verbindenden Rechts – eine Besatzungsdemokratie, die die Parlamentarier der besetzten „autonomen“ Gebiete im Gefängnis festhält und damit demokratische Wahlen manipuliert. Rupert Neudeck stellt klar, dass es in den besetzten Gebieten keine Regierung gibt, sondern nur eine Show von so genannten Staatsbesuchen bei einem so genannten Präsidenten Abbas für die deutschen Abendnachrichten. Er berichtet von einem befreundeten Dichter in der Region, der es ironisch zuspitzt: „Wir sind das regierungsreichste Volk der Erde. Wir haben nicht nur eine Regierung. Wir haben drei Regierungen. Wir haben eine in Ramallah. Wir haben eine in Gaza. Und wir haben eine in Israel im Gefängnis.“ Sobald die Menschen unter Dauerbesatzung eine öffentliche Stimme erhalten, weht ein scharfer Wind – immer wieder auch aus Deutschland. Sumaya fordert ihre ZuhörerInnen auf, sich an die deutsche Regierung zu wenden, wenn sie (wie im Oktober 2011) den Friedensprozess behindert: „Und wir waren bei der UNESCO, und das war toll. Wir sind aufgenommen. Auch hier hat die Bundesrepublik dagegen gestimmt, obwohl die UNESCO zuständig ist, Kulturerbe zu wahren, Frieden und Versöhnung zu stiften. Auch das hat uns die Bundesrepublik nicht gegönnt. Warum? Weil die Bundesrepublik ihre Souveränität verloren hat, ihre eigenständige Beschlussnahme verloren hat.“


Veranstaltung mit Sumaya Farhat-Naser am 10.11.2012 in der Kölner Bahnhofsbuchhandlung

Politik der totalen Trennung

Wenn die Völker zu einem tragfähigen Frieden finden wollen, sei es unumgänglich, zusammenzuwirken: „Wenn wir mit Israelis sprechen, lernen wir ihre Ängste und Sorgen kennen, und wir suchen gemeinsam einen Weg und das wollen sie (die Politiker) nicht. Totale Trennung, das ist die Politik. Barak hat vor sechs Jahren gesagt: die Hauptsache ist, wir erhalten den Zustand des Krieges aufrecht, dann können wir vieles tun, was in Friedenszeiten nicht möglich ist. Genau das passiert: Das Schüren der Ängste, die Trennung, die Sperrung... Alle schimpfen auf Netanjahu. Ich sage ihnen: Barak ist schlimmer. Und noch einmal. Es ist nicht eine Person. Netanjahu kommt und geht. Barak kommt und geht. Es ist das System... Sie kümmern sich nicht um Menschenrechte.“

Gewalt und Miniröcke – Krieg ist Party

Die „Säulen der Verteidigung“ – wie der jüngste Angriff auf Gaza verharmlost wird, sind an vorderster Front die Medien. „Tel Aviv ist Berlin“ schwärmt Martin Lambeck in der Springer Presse „Bild am Sonntag“, zwei Tage nach dem erneuten militärischen Überfall auf Gaza, indem er unrealistische Feindbilder bewirbt: „Statt Burka-Frauen flanieren selbstbewusste Mädchen in Miniröcken am Strand. Am Wochenende gibt es in Tel Aviv so viel Party wie in Berlin. Israel ist das einzige Land im Nahen Osten, in dem Demokratie herrscht und es eine offene, freiheitliche Gesellschaft gibt.“ Das sieht eine junge Generation von Israelis offenbar anders. Sumaya: „Die (jungen Leute) sind satt von der Verlogenheit der Politik. Die haben es auch schwer. Sie merken dass die Aggressivität so stark ist. In Sachen Gewalt steht Israel an erster Stelle in der Welt. Auf der Straße schlagen sich die Leute. Und wie oft im Bus. Sie schlagen sich, weil der eine vor dem anderen auf den Sitz will. Um Parkplätze, das ist bekannt in Israel: viele erschießen sich gegenseitig wegen einem Parkplatz. Aber irgendwo muss das rauskommen. Es ist wie eine schizophrene, wie eine kaputte Gesellschaft. Ich weiß von meinen Freunden, wie deprimiert sie sind, wie in einem Koma, die können nicht mehr denken. Und sie warten auf ein Wunder – genauso wie wir.“

Auf das Wunder, dass marktschreierische oder sich seriös gebende Medien sich in Friedensengel wandeln, hofft man allerdings vergebens. Das bewies gerade Jauch, der seiner Kollegin Anne Will in nichts nachsteht. Deren Redaktion hatte sich im Zuge des GAZA-Krieges 2008/2009 herausgenommen, eine mit Sumaya Farhat-Naser geplante Diskussion aus dem Programm zu nehmen. „Israels Erfolge im Propagandakrieg“ titelte die Neue Rheinische Zeitung zu diesem Skandal. Wer die Propagandisten trainiert, „und zwar mit Kampagnen, die von keinem Geringeren als dem Reut-Institute ersonnen werden,“ erfährt der interessierte Leser ebenfalls in der NRhZ.

Aus dem Koma herausgefunden haben israelische Soldaten, die zu der unverhältnismäßigen Gewalt gegen die Menschen in den besetzten Gebieten nicht schweigen konnten: „Breaking the Silence“ – das Schweigen brechen, ist druckfrisch in deutscher Übersetzung erschienen.


„Thymian und Steine“ - Veranstaltung mit Sumaya Farhat-Naser am 10.11.2012 in der Kölner Bahnhofsbuchhandlung

Für ihre Friedensperspektive ist Sumaya Farhat-Naser, deren Vorname zu deutsch „Kleiner Himmel“ bedeutet, mit Friedens-, Versöhnungs- und Menschenrechtspreisen ausgezeichnet worden. Geheimagentin für den Frieden wurde sie genannt. Ihr Geheim-Rezept liegt darin, vorgegebene Feindbilder nicht zu akzeptieren: „Und deshalb: wenn wir diese Wut haben und Ärger, und ich so hart bin, denke ich an Hannah, an Gila, an viele israelische Freunde. Und ich sage: Mein Gott, auch wir müssen immer wieder differenzieren und schauen, dass wir zueinander finden.“ (PK)


Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann sind Mitglieder des Aachener Friedenspreis e.V. und des Bundesverbands Arbeiterfotografie


Sumaya Farhat-Naser: Thymian und Steine



Eine palästinensische Lebensgeschichte
Herausgegeben von Rosmarie Kurz und Chudi Bürgi
Mit einem historischen Abriss von Arnold Hottinger
Sonderausgabe »Ein Buch für die Stadt« 2012
Lenos Verlag, 294 Seiten, broschiert
€ 9.50, sFr. 15.–
ISBN 978 3 85787 429 1


Lesungen mit Sumaya Farhat-Naser:

28. November 2012; 19:30 Uhr
Kirchengemeinde Alt-Pankow, Breite Strasse 38, Berlin

29. November 2012; 17:00 Uhr
Universität, Bielefeld

02. Dezember 2012; 19:30 Uhr
Ev. Johanneskirchengemeinde Lichterfelde, Ringstrasse 36, Berlin

03. Dezember 2012
Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Volksdorf, Hamburg

04. Dezember 2012
Evang.-luth. Kirchengemeinde, Buchholz in der Nordheide

06. Dezember 2012
Albertinen-Haus, Sellhopsweg 18–22, Hamburg


Hinweise:

Breaking the Silence

Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten
2012 (deutsch) Econ Verlag Berlin, 19,90 Euro, ISBN 978-3-430-20147-6

Anne Will wollte eigentlich, durfte dann aber am Sonntag wohl nicht
Israels Erfolge im Propagandakrieg
Von Peter Kleinert
Online-Flyer Nr. 179  vom 12.01.2009
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13337

Erfolgreiche Kampagnen gegen Juden, die Israels Überleben sichern wollen
Ist das Antisemitismus?
Von Peter Kleinert
Online-Flyer Nr. 238  vom 24.02.2010
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14833

aktuelle Informationen
http://www.palaestina-portal.eu/index.html
 

 



Online-Flyer Nr. 382  vom 28.11.2012



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