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Inland
Die Winfried-Kretsch-Maus-Wende in Baden-Württemberg
Olivgrün gewendeter Landespatriarch
Von Dietrich Schulze

DemokratInnen, die grundehrlich gegen sich selbst und andere sind, können häufig nicht verstehen, wie bestimmte Personen - an die politischen Schalthebel gelangt - ihren in der Jugend gegen undemokratische Verhältnisse gerichteten Protest verdrängen und dann ausgerechnet in die Attitüden und Positionen derer schlüpfen können, die sie früher von Herzen bekämpft haben. Diese bekannte Konvertiten-Problematik sei in einem aktuellen Fall anhand von drei konkreten Handlungssituationen nachgezeichnet in der Hoffnung, damit sie die demokratischen Abwehrkräfte anregen zu können. Nennen wir das Exemplar Winfried Kretsch-Maus.
 

Winfried Kretschmann bekommt von der
GEW in Sindelfingen eine Anti-Duckmaus
übergeben
Foto: Dietrich Schulze
I. Im November 2011, ein halbes Jahr nach seiner Inthronisierung als gefühlte erlösende Alternative nach 58-jähriger CDU-Herrschaft in Baden-Württemberg, gab Winfried im Karlsruher Rathaus einen sogenannten Bürger-empfang. Auf die Verweige-rungshaltung des Karlsruher Instituts für Technologie KIT (Zusammenschluss von Uni und Forschungszentrum Karlsruhe) bezüglich der in Grün-Roten Wahlprogrammen versprochenen Friedensbindung in Form einer Zivilklausel (keine Forschung und Lehre für militärische Zwecke) von einer Studentin angesprochen, erklärte Winfried im CDU-Originalton: „Forschung und Lehre sind nach dem Grundgesetz frei“. Die Studentin gab sich damit nicht zufrieden, verwies auf ein Gutachten des Verfassungsrechtlers Denninger, wonach die Zivilklausel vereinbar mit dem Grundgesetz ist, führte die 2010 rechtskräftig gewordene Zivilklausel der Uni Tübingen an und erinnerte an die bewährte Zivilklausel-Praxis des Forschungszentrums. Nun meinte Winfried, es gehe gar nicht um verfassungsrechtliche Bedenken, sondern darum, dass die Institute das selber entscheiden sollen. Außerdem müsse beachtet werden, dass wir eine Bundeswehr haben, die für ihre Friedenseinsätze Unterstützung brauche. Erschwerend kommt hinzu, dass die frühere Grüne Landtags-Oppositionsfraktion im Juli 2009 zum KIT-Gesetz eine Zivilklausel beantragt hatte, mit Fraktionschef Winfried an der Spitze. Und Ende März 2011, kurz vor der Landtagswahl, hatte Winfried zusammen mit 450 z.T. prominenten Persönlichkeiten eine entsprechende Petition an das KIT-Präsidium persönlich unterschrieben.
 
II. Im April 2012 wurde Winfried bei der Landesdelegiertenkonferenz der GEW Baden-Württemberg in Sindelfingen eine Anti-Duckmaus übergeben, an den Handlungsbedarf zum Thema "40 Jahre Radikalenerlass" erinnert und um Unterstützung bei der Rehabilitierung der Berufsverbote-Opfer nachgesucht. Zur Erinnerung: Winfried war als Student der Uni Hohenheim aufgrund seiner KBW-Mitgliedschaft selbst vom Berufsverbot betroffen. Der frühere Kommunist und AStA-Vorsitzende Winfried (Spitzname Kretsch) heute im swr wörtlich „Aber dass wir jetzt nicht Kommunisten in den Staatsdienst lassen, daran hat sich sicher nichts geändert.“ Heutige und zeitweilige politische Weggefährten haben das mit Empörung zur Kenntnis genommen. Seine Vergangenheit stuft Winfried heute staatsmännisch als linksradikale Verirrung ein und die 68-er-Proteste, die sich gegen Obrigkeitsmief und Nazi-Professoren an den Unis, gegen den Vietnam-Krieg und gegen die Chile-Diktatur richteten, betrachtet er heute jovial als „kulturrevolutionären“ Anspruch. Abgerundet wird die Winfried-Kretsch-Maus-Wende mit dem Fakt, dass auch unter der Grün-Roten Landesregierung die Observierung eines 81jährigen Kommunisten und hoch angesehenen Kommunalpolitikers aus Tübingen munter weitergeht. Im Rahmen einer GEW-Protestaktion gegen die Sparpolitik bei der Bildung haben Berufsverbote-Betroffene beim Landesparteitag der SPD Baden-Württemberg im September in Wiesloch die Auflösung des "Verfassungsschutzes" gefordert.
 
III. Vom 30. November bis 2. Dezember tagte der Grüne Landesparteitag in Böblingen. Mit breiter öffentlicher Unterstützung und knapper Mehrheit wurde beschlossen „BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Baden-Württemberg fordern die Landesregierung auf, die 2009 zwischen dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg und dem Wehrbereichskommando IV (Süddeutschland) der Bundeswehr geschlossene Kooperationsvereinbarung spätestens zum Ende des Schuljahrs zu kündigen.“ Nachdem kurz danach Innenminister Gall (SPD) geäußert hatte „Auch in Zeiten internationaler Militärmissionen sollten Jugendoffiziere mit Schülern über Friedenssicherung und Bundeswehreinsätze diskutieren können“, setzte Winfried noch einen drauf und erklärte „Wir müssen schauen, ob wir diesen Kooperationsvertrag belassen oder ob wir ihn etwas ändern, aber an der Grundtatsache wird sich nichts ändern.“ Als neuer olivgrüner Landespatriarch stellt er damit klar, dass ihn Mehrheiten in der eigenen Partei nicht interessieren. Ebenfalls um konkrete Friedenspolitik im Bildungsbereich ging es in einem Antrag von Grüner Jugend, Campus­Grün und mehreren Abgeordneten. Die von ihnen beantragte Zivilklausel für das Landeshochschulgesetz wurde knapp abgelehnt. Wissenschaftsministerin Theresia Bauer hatte im Vorfeld presseöffentlich und auf dem Parteitag massiv gegen die Friedensbindung der Hochschulen Stimmung gemacht mit der eingangs zitierten Position der angeblich verletzten Freiheit der Wissenschaft. Im Grünen Wahlversprechen zur Landtagswahl heißt es hingegen wörtlich: „Frieden statt Waffen exportieren. …. Nachhaltige grüne Friedenspolitik setzt vor allem auf zivile und diplomatische Mittel und hat Abrüstung zum Ziel. Forschungseinrichtungen, Universitäten und Hochschulen des Landes sollen ausschließlich friedliche Zwecke verfolgen. Um dies deutlich zu machen, befürworten wir die Einführung von Zivilklauseln in den Satzungen aller solcher Einrichtungen.“ Ministerin Bauer hatte bereits kurz nach ihrer Bestellung in der Presse recht unverblümt verkündet: "In der Hochschulpolitik waren wir Grünen meist näher an den Schwarzen als an der SPD.“
 
Es wird vermutlich noch etwas dauern, bis die Grün-Rote Parteibasis und die Öffentlichkeit wirklich nachvollziehen, dass Winfried Kretsch-Maus die 58-jährige CDU-Herrschaft abgelöst hat, um diese schlicht im oliv­grünen Gewand fortzuführen. Wenn Regierende ihre Wahlversprechen verleugnen, autoritäre Attitüden demonstrieren und Militarisierung statt Abrüstung befördern, gibt es nur einen Weg, den demokratischen Protest zu verstärken, hier an Schulen, Hochschulen und auf der Straße.
 
Auf zwei Konferenzen an den Unis Göttingen und Kassel parallel zum Grünen Landesparteitag sind die wahren weltpolitischen Herausforderungen erörtert worden. Dazu ein wunderbares Wort von Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung): „Die Initiative »Jetzt Entrüsten!« wirbt für ein ziviles Gemeinwesen – also für eine Zivilklausel an den Hochschulen.... Die sogenannten, die angeblichen Realpolitiker nennen das Naivität. Damit haben sie vielleicht sogar recht. Ohne diese Naivität hat man nicht die Kraft, gegen den Jahrtausend-Mainstream anzutreten. Aber diese angeblich Naiven sind die wahren Realpolitiker, weil sie die richtigen Konsequenzen aus der Jahrtausend-Realität ziehen: »Jetzt Entrüsten!«“ Das Zitat entstammt dem Vorwort zur Streitschrift über den Karlsruher Kongress gegen Kriegsforschung mit dem Titel „Jetzt entrüsten! Hochschulen: Zukunftswerkstätten oder Kriegs»Dienstleister?«“ (ISBN 978-3-944137-01-8) AnStifter-Verlag, Stuttgart 2012.

Nachtrag des Autors:

Nachdem dieser Text an die Medien geschickt wurde, veröffentlichte die Frankfurter Rundschau am 14. Dezember einen Leitartikel mit der Schlagzeile „Gnadenlos geschmeidig“ über den baden-württembergischen Landesvater, der zu ähnlichen Schlussfolgerungen über dessen Politik kommt. Stephan Hebel schließt seinen Beitrag mit den Worten: „Niemand weiß, ob Trittin und Co. in einer Bundesregierung genauso überzeugungslos geschmeidig handeln würde wie Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Aber eine Warnung, ihnen nicht blind zu vertrauen, sollte dessen Entwicklung schon sein.“ (PK)



Online-Flyer Nr. 385  vom 19.12.2012



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