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Aktueller Online-Flyer vom 23. November 2024  

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Inland
Plazebo-Demokratie oder Demokratie der Zukunft?
Anspruch und Wirklichkeit der Piratenpartei
Von Jo Menschenfreund

Derzeit findet ein heftiger Kampf zwischen den letzten aufrechten Basisdemokraten und einem immer stärker um sich greifenden Geist von „Plazebo-Demokratie“ innerhalb der Piratenpartei statt. Einige Beispiele sollen das nachfolgend aufzeigen. Während sich Mitglieder und Wähler enttäuscht abwenden, weil sie immer weniger von den Ideen realisiert sehen, die sie zu der Piratenpartei Deutschland brachten, wollen die Verteidiger der derzeitigen innerparteilichen Politik, oft sogar in gutem Glauben, nicht zulassen, dass ihre Werkzeuge, Verfahren und Verhaltensweisen reformiert bzw. zivilisiert werden, wie wir hier von einem ihrer Mitglieder unter Pseudonym erfahren.


Piratenpartei-Demo mit dem ehemaligen SPD-Bundesstagsabgeordneten Jörg Tauss (links), der 2010 aus der PP wieder austrat und nun nicht mehr wieder rein darf.
Quelle: wikipedia

Sie wollen auch nicht einsehen, dass die von ihnen vertretene Interpretation des „Ankommen in der Realität“ teilweise zu noch intransparenteren und nebulöseren Vorgängen führt, wie die herkömmlichen Verfahren der repräsentativen Demokratie in „Alt“-Parteien. Anspruch und Wirklichkeit in der Piratenpartei klaffen immer deutlicher auseinander und für engagierte Mitglieder, die politische Willensbildung und nicht Pöstchenjagd betreiben wollen, wird es immer schwerer, sich zur Mitarbeit zu motivieren.

Die Macht der Admins
 
Als Partei, die aus einem Kern von fortschrittsgläubigen Technikfreaks hervor gegangen ist, nehmen sich die Administratoren der diversen Piraten-Werkzeuge das Recht, absolutistisch zu entscheiden, ohne aber demokratisch dazu legitimiert worden zu sein. Da werden Beiträge blockiert, von einem Forum in ein anderes verlegt, Themen unterdrückt oder es wird mit Beleidigungen, Beschuldigungen und Verleumdungen gearbeitet. Ein Beispiel für diese weitgehend unbekannte und verschleierte Machtausübung findet sich in dem Blogbeitrag „Mein persönlicher Piraten-Blog“ vom 2. Februar 2013 (1)
 
...„Am Anfang kamen ein paar Spaßvögel in den Raum, die wohl leicht angetrunken waren, aber sonst einen friedlichen Eindruck machten. … Diese wollten dann von sich aus weiterziehen, wurden dann aber, weil sie sich woanders daneben benommen haben sollen, von einem “Root-Admin” des NRW-Mumbleservers gekickt. … Das war der Beginn einer fast eineinhalbstunden langen Diskussion, dass die “Root-Admins” das Hausrecht auf dem Server haben, und rausschmeißen können, wen sie wollen. … Dieses Rumgeeiere und Ausnutzen von “Macht-Positionen” hinterlässt bei mir einen ziemlich faden Beigeschmack.“…
 
Natürlich muss es eine ordnende Hand geben. Aber das können die Mitglieder z.B. im Mumble auch selbst, z.B. indem sie sich vereinbaren, einen Teilnehmer, sollte der ausschließlich stören, jeweils individuell stumm zu schalten. Es wäre eine Aufgabe der Administratoren dies zu erklären. Wenn aber Administratoren, wie Kritiker behaupten, systematisch „auf die Jagd“ nach unbequemen Fragestellern oder „Störern“ gehen, die gerne auch mit dem entmenschlichenden Begriff „Troll“ belegt werden, ist das durchaus fragwürdig. Ganz besonders, wenn sie nicht gewählt wurden und sie sich niemandem, außer ihrer eigenen Vorstellung gegenüber, verantwortlich fühlen.
 
Ein aktuelles Beispiel: Die Rezension meines Buches wurde vom Autor in die Mailinglisten der Piratenpartei gepostet, worauf fast unmittelbar eine Löschung erfolgte. Begründung: Verstoß gegen Copyright. Dabei hat der Autor ausdrücklich sein Recht am Text erklärt und es steht auch unter der Rezension in der „Quelle“ (24), dass das Veröffentlichungsrecht beim Autor (!) der Rezension liegt. Und das Ziel der Rezension ist auch unter by-nc-sa veröffentlicht worden. Ein Administrator der Piratenpartei begreift das nicht? Wenn ein Admin das ignoriert, was soll man dazu sagen?
 
Die Partei hat sogar eine Arbeitsgemeinschaft mit dem Namen Inklusion, (15) die überaus interessante und wichtige Anträge erarbeitet hat. Wenn es aber in der Praxis darum geht, Inklusion auch zu leben, wenn es weh tut, gilt nicht mehr das, was lautstark auf Parteitagen verkündet wird: ...„Eine Gesellschaft, in der sich Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Nationalität sowie körperlichen, psychischen, geistigen und sonstigen Unterschieden, frei von Diskriminierung und Stigmatisierung mit den gleichen Chancen entfalten können. … Die gesellschaftliche Inklusion ist hierbei als generelles und dauerhaftes Angebot an jeden zu verstehen. … Dies bedeutet, dass Individualität gewollt ist, und mögliche Hilfestellungen zur Entfaltung des eigenen Potentials angeboten werden. …“ (16)
 
Offensichtlich gelten andere Meinungen nicht zu den „geistigen und sonstigen Unterschieden“, denn sonst würden weder solche Störer, die vielleicht auch manchmal über ein gestörtes Sozialbewusstsein verfügen, noch Esoteriker, Menschen die sich mit Homöopathie beschäftigen, oder bestimmte religiöse Überzeugungen ausgegrenzt, ja bekämpft. Und auch der in der Partei zum Schmähbegriff gewordene Ausdruck „VT“ oder „Verschwörungstheoretiker“ (19), für jeden, der auch nur eine neutrale Untersuchung über das Attentat 9/11 fordert und unbeantwortete Fragen stellt, würde sicher nicht in dieser Form zum politischen innerparteilichen Kampf missbraucht werden, wenn man Inklusion ernst nehmen würde.
 
Alles andere als Inklusion hat auch der Autor des Artikels „Als Sozi bei den Piraten“ erlebt. (23) Zwar handelt es sich im Prinzip um eine verkappte Werbung für die SPD, jedoch bestätigt der Artikel doch viele Dinge, die ich in meinem Buch und in diesem Artikel beschreibe. Schade nur, dass der Autor die falschen Konsequenzen zieht, indem er zurück zu den Konzepten von Gestern geht, und sich nun dort sogar bestätigt fühlt. Haben die Piraten vielleicht teilweise sogar das Gegenteil von dem erzeugt, was sie einst bewegen wollten?
 
„Freiheit statt Angst“
 
Dass viele so genannte Piraten das Banner der „Freiheit“ vor sich her tragen und in Diskussionen als Totschlagargument benutzen, ohne zu begreifen was Freiheit überhaupt bedeutet, habe ich bereits beleuchtet. (25) Aber der pervertierte Freiheitsbegriff mancher Protagonisten in exponierten Positionen steht auch im krassen Gegensatz zu dem zu beobachtenden Mobbing. Denn Mobbing ist eine der extremsten Einschränkungen der Freiheit von anderen. Und was der Autor des o.g. Artikels (23) erlebte, war nicht erwähnenswert im Vergleich zu dem, was Mitglieder erleiden mussten und müssen, die sich politisch im Bereich umstrittener Themen engagieren. Da wurde ein Parteitag aufgestachelt, um einen harmlosen Intellektuellen als Nazi auszugrenzen, indem die Mitglieder aufgefordert wurden, bei seiner Rede aus dem Saal zu gehen, obwohl die Beschuldiger offensichtlich nur nicht bereit waren die bemängelten Aussagen anzuhören bzw. nicht in der Lage waren intellektuell zu begreifen, was das Mitglied überhaupt gesagt hatte (28). Und wie Lemminge waren die Mitglieder gefolgt, ohne sich wirklich ein eigenes Bild zu machen, und hatten es sogar als „Starkes Signal gegen Nazis“ gefeiert. Aber zu dem Punkt dass Mitgliederversammlungen viel leichter manipulierbar sind als Delegiertenversammlungen komme ich später noch. Während sich die wahren Neo-Nazis die Hände gerieben haben, wird doch gerade durch solche Aktionen die Notwendigkeit und Ernsthaftigkeit des Kampfes gegen Faschismus in Gefahr gebracht.
 
Ein anderes Beispiel ist die Twitter-Mitteilung von @coraxaroc: „…wer otla vor silvester 2012 aus der partei drängt kriegt von mir ne halbe kiste hövels. (26) ... Sie führte zu einer Welle von beleidigenden und ausgrenzenden Tweets, die genau das Gegenteil von dem dokumentieren, was die Piratenpartei als „Freiheit“ und „Toleranz“ auf den Fahnen stehen hat. Dieses Beispiel eines Trauerspiels über Toleranz und fehlenden gegenseitigen Respekts, hatte ich bereits vor einigen Wochen beschrieben (27), aber es geht unvermindert weiter. Tatsächlich wird die darin beschriebene Rufmordkampagne von Klaus Peukert, einem Mitglied des Vorstandes der Piratenpartei, auch heute noch weiter geführt. Nach wie vor wird wahrheitswidrig behauptet, dass das Mitglied, das Ziel der Mobbing-Aktion ist, den Holocaust relativieren bzw. leugnen würde oder dass es den von Israel besetzten Gaza-Streifen mit einem Vernichtungslager im Dritten Reich verglichen hätte. Was von Medien von der Jüdischen Allgemeinen über Jungle World bis hin zum Kölner Stadt-Anzeiger ohne kritische Überprüfung wiederholt wurde. Man darf gespannt sein, welches Urteil die inzwischen eingeschaltete Justiz zu dieser Kampagne fällen wird.
 
Abgesehen davon, dass es traurig ist, dass ein Mitglied der Piratenpartei die Justiz einschalten muss, um sich Gehör zu verschaffen, sagt folgender Tweet eines Piraten-Abgeordneten der Berliner Landtagskammer vom 9.2.2013 viel über sein Verständnis des Rechtsstaates aus:
„ …. Wenn mir manche Juristen nicht dauernd versuchen würden, ihre Scheiße dann wieder als "Sachpolitik" zu verkaufen. … 21h Oliver Höfinghoff ‏@Riotbuddha …“ Ein Schlag ins Gesicht der vielen aktiven Basismitglieder, die gerade eben diesen Rechtsstaat und den Geist des Grundgesetzes aus den Gründertagen wieder in den Vordergrund rücken wollen. Damals war von Mitbestimmung, Frieden und Verbot von Angriffskriegen, Versöhnung und Sozialstaat die Rede. Nicht von Bankenrettung, „Auslandseinsätzen“ der Bundeswehr, Harz IV und Erhöhung des Rentenalters. Und das, obwohl es der damaligen Bundesrepublik wirtschaftlich wesentlich schlechter ging als heute.
 
Die Mitgliederversammlungen
 
Das Establishment der Piratenpartei beharrt darauf, dass für Mitgliederversammlungen keinerlei Delegationen, also Stimmvertretungen vergeben werden dürfen. Nicht einmal eine einzige Stimmen-Delegation ist zulässig, obwohl die meisten Anwesenden ja zwei Arme hätten, um abzustimmen.
 
Nun gibt es, außer dem oben bereits erwähnten Beispiel, inzwischen viele andere Fälle, die zeigen, wie leicht Mitgliederversammlungen manipuliert werden können. (2) Schließlich ist jedes Mitglied nur sich selbst gegenüber verantwortlich, kann also seine Meinung leicht ändern und ist außerdem leicht verunsicherbar, wenn Fakten erwähnt werden, die es nicht nachprüfen kann. Fazit: Das Mitglied der Piratenpartei wählt im Zweifel mit der Masse oder gegen den Antrag.
 
Während in anderen Parteien deutlich sichtbar ist, welcher Kandidat zu welcher Strömung gehört oder von wem unterstützt wird, erweckt die Piratenpartei gerne der Eindruck, dass alle gleiche Chancen hätten, gleich behandelt werden würden. Was natürlich nicht der Fall ist. Wenn auf einer Kandidatenpräsentation eine Kandidatin von dem Mitglied einer Landtagsfraktion zur Seite genommen wird und man ihr erklärt, dass man sie gerne als Spitzenkandidatin sehen und entsprechend unterstützen würde, ist das den wenigsten Mitgliedern in der Aufstellungsversammlung bewusst. Auch nicht, wenn sie „vollkommen überraschend“ dann Spitzenkandidatin für die Bundesliste wird. Das Vorgehen ist keineswegs verwerflich, solange nicht am Wahltag während der Abstimmung mit Twittermeldungen versucht wird, auf Wahlen Einfluss zu nehmen. Aber es sollte mindestens so transparent sein wie bei den so genannten Altparteien. Wo jeder weiß, wer die Gunst von wem genießt.
 
Auch nicht gerade die Qualität der Entscheidung fördernd ist das Wahlverfahren, wenn Listenkandidaten der Piratenpartei gekürt werden. Gewählt wird regelmäßig das Akzeptanzverfahren, bei dem jeder Kandidat, der unter 50% der Stimmen erhalten hat, durch das Raster fällt. Andererseits besteht aber dadurch die Gefahr, dass zu wenig Kandidaten überhaupt gewählt werden. Und so liest man denn regelmäßig auf Twitter die verzweifelte Aufforderung „Bitte gebt ALLEN akzeptablen KandidatInnen ein Ja“.
 
So werden solche Bewerber bevorzugt, die keine kontroversen Ideen vertreten, die aber bei möglichst vielen Mitgliedern bekannt sind. So genannte „Würstchenwender“. Das sind verdiente Parteisoldaten, die auf jedem Stammtisch zu sehen sind und durch die Republik reisen, von Veranstaltung zu Veranstaltung. Meist mit möglichst vielen Worten, möglichst wenig Umstrittenes aussagend. (29) Der Aufforderung des Spiegels aus dem Jahr 2008, nicht die glattgebügelten und systemakzeptablen Politiker zu nominieren, ist demnach auch die Piratenpartei in der Mehrheit nicht nachgekommen. In NRW ist die Spitzenkandidatin auf der Bundestagsliste der Piraten eine Steuerfachfrau. Unter den 7 aussichtsreichen Plätzen finden sich ansonsten 3 Rechtsanwälte und ein weiterer Verwaltungsfachmann und einer der Gründer der Piratenpartei. (30) Letzterer wollte eigentlich für das Europaparlament kandidieren, hatte es sich aber offensichtlich doch anders überlegt.
 
Liquid Feedback - Elektronische Abstimmung im Internet
 
Es handelt sich beim Liquid Feedback (11) um die ursprünglich hervorragende Idee, Diskussionen und Meinungsbildung über politische Themen im Internet durchzuführen, und dabei das Stimmrecht nach Themen sortiert an Spezialisten weiter geben zu können, wenn man nicht selbst abstimmen will. Es wurden schätzungsweise in den letzten 2 Jahren über ein Dutzend wissenschaftliche Arbeiten dazu veröffentlicht. (21) Ich halte die Diskussion teilweise für sehr technokratisch und noch längst nicht erschöpfend besprochen, aber die Grundidee durchaus für bemerkenswert. Ermöglicht sie doch endlich, die starren Rahmen der repräsentativen Demokratie an den Rändern zu erodieren. Aber was machte die Piratenpartei daraus?
 
Zunächst hat auch nach Jahren nur ein Teil der Mitglieder einen Zugangsschlüssel zu dem System, das abgekürzt LQFB genannt wird. Und dann wurde es im Laufe der Zeit so kompliziert, dass selbst diejenigen, die Kurse für die Bedienung des Systems abhalten, schon mal selbst bei den Spezialisten nachfragen müssen. Und so kommt es, dass auch nach einem Benutzerkurs die meisten Neulinge dann doch lieber einfach die Stimme z.B. auf den netten Tutor delegieren, statt sich selbst zu beteiligen.
 
Die Einsicht, dass etwas schief läuft, begann bei mir, als ich Anfang 2012 plötzlich, wie anscheinend 400 andere Piraten auch, ohne Angaben von Gründen, ohne Entschuldigung, für 90 Tage ohne Liquid-Feedback-Zugang war. Als ich ihn dann schließlich kommentarlos wieder erhielt, stellte ich mit Erstaunen fest, dass das Quorum, also die Mindestanzahl an Unterstützern um zu einer Abstimmung zu gelangen, sehr stark angestiegen war. Dies machte nun eine Individual-Initiative unmöglich. Das Quorum, das eine Initiative haben muss, berechnet sich nach der Anzahl der vergebenen Zugangsrechte, nicht nach Wahlbeteiligung oder Interesse. Gleichzeitig aber waren so genannte „Super-Delegierte“ (14) teilweise mit hunderten von Stimmrechten, zu mächtigen Meinungsmultiplikatoren geworden. Ohne sie hatte kein Antrag mehr Aussicht, überhaupt über das Quorum zu kommen, geschweige denn positiv verabschiedet zu werden. Lustigerweise wurde dann über die Abschaffung der Superdelegationen zwar abgestimmt, aber im System selbst und unter Teilnahme der Superdelegierten. Mit voraussagbarem Ausgang.
 
Anfangs war ich der Meinung, dass solche Anhäufungen von Delegationen durch Netzwerke, auch Seilschaften genannt, verursacht wurden. Später sollte ich lernen, dass die Antwort teilweise einfacher war. (Wobei ich die Behauptung von einigen Kritikern, dass sich Mitglieder „Sockenpuppen“(20), also Scheinmitgliedschaften besorgen würden, da die Partei keine wirkliche Identitätsprüfung vornimmt, als unhaltbares Gerücht bezeichnen möchte. Zumindest würden erhebliche „kriminelle“ Energie und pro Mitglied ca. 36 Euro eingesetzt werden müssen, nur um ein stärkeres Stimmrecht in LQFB zu haben?)
 
Obwohl die Zahl der LQFB-Zugänge explosionsartig gestiegen war, sah man bei den Abstimmungsergebnissen nach wie vor nur eine minimale Anzahl an Individuen, die dort über die Anträge entschieden. Zwischen 50 und 400 Personen mit 300 bis 700 Stimmen hatten bei den von mir beobachteten Abstimmungen ihr Votum abgegeben. Fast immer aber waren die Stimmen der Superdelegierten, also jener Personen, die gerne auch über verschiedene Stufen Stimmrechte akkumuliert hatten, entscheidend. Was auf Twitter zu Bettelaktionen führte wie „Kannst du mal bitte meiner Ini über das Quorum helfen?“
 
Eine ausführliche und kenntnisreiche Auswertung des Bloggers mit Spitznamen „streetdog“ zeigte dann im Jahr 2012 sehr schön die Einflussnahme von verschiedenen Individuen und Gruppen auf bestimmte Themen. (3) Sein fundiertes und begründetes Urteil fiel demzufolge auch vernichtend für die Umsetzung des Liquid-Democracy-Gedankens in der Piratenpartei aus. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Ergebnisse der Abstimmungen nach wie vor in keiner Weise repräsentativ sind. Und wenn 1% bis 5% der Mitglieder an den Abstimmungen im Internet teilnehmen und dann eine Mehrheit von 10 oder 100 Stimmen die Abstimmung entscheidet, ist es unredlich, dies unter den genannten Bedingungen als Meinungsbild der Piratenpartei darzustellen. Trotzdem werden diese Abstimmungen als wichtiges Entscheidungskriterium für die Rangordnung auf der Tagesordnung herangezogen. Und regelmäßig wird dann auf Parteitagen mit dem Abstimmungsergebnis geworben, um eine Stimmung vorzugaukeln, die so überhaupt nicht repräsentativ ist.
 
Liquid Feedback ist also in dieser Form (12) meiner Meinung nach nicht ein Meinungsfindungs-, sondern ein für das Normalmitglied intransparente MeinungsMACHER-Werkzeug. Und um den Gedanken der stärkeren Beteiligung der Menschen an der Politik wieder in den Vordergrund zu bringen, müsste man einige entscheidende Veränderungen vornehmen. (4)
 
Statt aber die wichtigsten Kritikpunkte auszuräumen (5) wird beabsichtigt, Liquid Feedback sogar als „permanenten Parteitag“ zu missbrauchen. D.h. Abstimmungen in diesem System sollen dann zwischen den Parteitagen den gewählten Vertretern die gleiche Legitimation geben wie Entscheidungen eines Parteitages. Die gewählten Amtsinhaber der Piratenpartei können sich dann auf ein Abstimmungsergebnis in Liquid Feedback berufen, und das als Parteimeinung verbreiten. Ohne dass das Zustandekommen für Außenstehende oder das normale Mitglied transparent wäre, und ohne dafür persönliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Denn es war ja „die Meinung der Basis“.
 
Da stellt man sich sofort die Frage, ob ein solches Vorgehen auf Grund der angeschnittenen Gründe a) transparent ist und b) etwas mit Basisdemokratie zu tun hat. Ob nicht vielmehr das Wählen von Repräsentanten transparenter und demokratischer ist, Repräsentanten, die dann in voller Anerkennung ihrer Verantwortung und Rechtfertigungsnotwendigkeit die Aussagen treffen, die sie als die der Partei ansehen?
 
LQFB in der derzeitigen Form in der Piratenpartei ist weder repräsentativ noch barrierefrei für alle zugänglich, und selbst diejenigen die einen Zugang haben, wenden sich oft auf Grund der komplizierten Bedienung wieder ab. Die Grundidee ist gut, aber die Umsetzung wegen der auf technische Details fixierten Denkweise leider falsch. Typisch für die Entwicklung des Systems ist, dass Fragen elektronisch an Benutzer geschickt werden, statt analog an neue Mitglieder, um die Wünsche und Möglichkeiten zu erfragen. Statt die potentiellen Benutzer das Tempo der Entwicklung bestimmen zu lassen, taten es Computer-„Freaks“.
 
Die Transparenz
 
Es werden alle möglichen Veranstaltungen gestreamt und stundenlange Dateien ins Netz gestellt. Aber wer findet sich in diesem Datengrab überhaupt noch zurecht? Was in der Regel nicht veröffentlicht wird: Wie über Absprachen und Twitterwellen intransparent Meinung verbreitet wird, siehe weiter oben. Die Piratenpartei wirbt für die Transparenz von Mandatsträgern, aber selbst nehmen es einzelne Mandatsträger nicht so ernst. (9) Auch wenn die Landtags-Fraktion der Piratenpartei NRW ein sehr positives Beispiel demonstriert. Was aber fehlt, ist auf Grund des missbräuchlich verwendeten Begriffs Freiheit (17) eine institutionalisierte Verpflichtung der Abgeordneten, wie sie z.B. in der Linkspartei seit 15 Jahren besteht. Transparenz ist also keineswegs eine neue Forderung oder exklusiv eine der Piratenpartei. Und im Rahmen der „Professionalisierung“ wurde ein großer Teil des Anspruchs längst aufgegeben.
 
„Basisdemokratie"
 
Immer wieder wird mit dem Argument „Basisdemokratie“ geworben. Jeder könne sich einbringen. Tatsächlich aber wird der Begriff gar nicht im Grundsatzprogramm erwähnt. Und ein entsprechender Antrag wurde nie behandelt. (6) Auf einem Parteitag der Piraten in Bayern war klar ausgesprochen worden, dass es einen Dissens zwischen der Förderung von Liquid Democracy, also der Idee einer flexiblen repräsentativen Demokratie, und direkter Demokratie gäbe, der einfach nicht auflösbar wäre. Logische Schlussfolgerung: Eine Mitgliederversammlung an der vorwiegend die Mitglieder aus drei Bundesländern teilnahmen, an Stelle einer Delegiertenversammlung mit repräsentativer Vertretung der Mitglieder aus ganz Deutschland, macht noch keine Basisdemokratie.
 
Ein kurzer Auszug aus dem Piratenwiki (7) belegt dies ebenfalls: ...“Die Basisdemokratie ist nicht in den Statuten der Piratenpartei verankert. Ihre Aspekte sind aber Bestandteil unserer Ideologie und Struktur: durch die angestrebte Offenheit und direkte Partizipationsmöglichkeiten soll Mündigkeit und Basisnähe gestärkt werden.” …
 
Weder die derzeit praktizierte Form der Beteiligung über Liquid Feedback, noch die Beteiligung über Online-Umfragen hat etwas mit neuer und „echterer“ Basisdemokratie zu tun. Die Beteiligungshürden sind einfach zu hoch. Im Fall von Umfragen erhält das Mitglied die Aufforderung, sich einen „Schlüssel“ zu holen, will er denn teilnehmen. Wo und wie wird nicht oder falsch erklärt (8).
 
Eine Partei, die behauptet, Beteiligung und Basisdemokratie fördern und fordern zu wollen, muss diese Beteiligung a) barrierefrei und b) intellektuell für jeden Durchschnittsbürger verständlich und c) wahlweise auf elektronischem oder analogen Wege ermöglichen. Mit anderen Worten. Eine Partei, die eine Briefumfrage an ALLE Mitglieder startet, erscheint mir dem Gedanken der Basisdemokratie stärker verpflichtet zu sein als eine Partei, die einer gewissen Schicht von Parteimitgliedern die Möglichkeit eröffnet, sich mit viel Zeit und Lernaufwand auf ausschließlich elektronischem Wege mit Hilfe eines Computers zu beteiligen. Statt die Mitglieder durch Kurse (die auch dazu dienen sollen, Delegationen zu „fischen“, wie mir ein Mitglied vertraulich seine Meinung erklärte) für LQFB fit zu machen, müssten das Abstimmungssystem und die Fragen für die Mitglieder fit gemacht werden. D.h. zunächst einmal muss mit allen Mitgliedern, und insbesondere mit denen, die nur wenig mit Computer zu tun haben, gesprochen werden, wo die Grenzen ihrer Möglichkeit liegen. Dann müsste das System diesen Mitgliedern angepasst werden. Oder die Piratenpartei erkennt sich als Lobbyist der erfahrenen Computer-Nutzer und führt auch Tests auf „Mitgliedsreife“ ein. Aber dann bitte transparent.
 
Fazit
 
Die Piratenpartei befindet sich in einer Sinnkrise. Ihre Werbeargumente entblößen sich in der Praxis als im Widerspruch zum eigenen Verhalten oder immer häufiger als weit entfernt von der gesellschaftlichen Praxis. Viele Mitglieder sind demotiviert. Die Partei benötigt dringend eine Reform, um ihrer Rolle als „über 5% Partei“ gerecht zu werden. Dabei müssen Grundsatzdiskussionen geführt werden, wie z.B. die, ob Basisdemokratie oder / und Liquid-Democracy als Modell verfolgt werden sollen, oder wie diese beiden Modelle miteinander versöhnt werden, wie Freiheit zu definieren ist, und ob die Partei den Mandatsträgern zuarbeiten soll, oder die Mandatsträger die Politik der Partei in den Parlamenten vertreten müssen. Und schließlich: Die Altparteien haben sich längst der „Kern-Themen“ der Piratenpartei angenommen. Ein großer Erfolg der Piratenbewegung. Das heißt aber andererseits, dass die Piratenpartei klären muss, welche realen Alleinstellungsmerkmale die Partei gegenüber „Alt-Parteien“ denn noch hat.
 
Denn das mit der Alleinstellung ist heute ein Problem. Es kann nicht sein, dass man sich brüstet, z.B. ACTA verhindert zu haben, während eine im Bundestag vertretene Partei von Anfang an mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln dagegen gekämpft hat, ohne dafür von den Piraten gewürdigt zu werden. Es kann nicht sein, dass man behauptet Whistleblower unterstützen zu wollen, aber bei einem Politik-Workshop Teilnehmer zwar Interesse an Steuerfragen, aber außer einem einzigen Mitglied niemand Interesse an Whistleblower-Fragen hatte - auch wenn zwar auf Grund einer Einzelinitiative konkrete Vorschläge bis ins Wahlprogramm der Piratenpartei NRW gelangten (22), aber keine konkreten Schritte oder Interesse an dem Thema zu erkennen sind.
 
Neben der Grundsatzdiskussion über das Selbstverständnis der Piraten muss dringend gefragt werden, ob es, wie der Vorsitzende Bernd Schlömer sagte, das Ziel der Piratenpartei ist, Mandatsträger in den Bundestag zu entsenden, oder ob nicht vielmehr das Ziel der Piratenpartei ist, eine wirklich alternative Politik für Deutschland zu verfolgen, ein Sprachrohr der Bürger zu sein, eine „Mitmachpartei“. Wenn die Piratenpartei keine echten Politik-Alternativen anbietet, (10) wird sie, nach dem Protesthype des letzten Jahres, kaum vom Wähler über die 5% gehoben werden.
 
Als Bernd Schlömer das Ziel der Piratenpartei mit „wir wollen in den Bundestag“ (mit 6,x%) definierte, war dies sicher professionell. Aber es ist nicht richtig zu glauben, dass es nur auf die einheitliche und richtige Kommunikation ankommt. Die Wähler, die die Piraten wählten nutzten die Partei als Projektionsflächen für ihre Hoffnungen. Dazu braucht man sich eigentlich nur etwas umzuhören, aber es wird auch durch „tiefenpsychologische Interviews“ untermauert. (18) Wenn diese Hoffnungen auf grundsätzliche Veränderungen nicht erfüllt werden, werden sie wieder ins Lager der Nichtwähler oder zu den Parteien zurück finden, die sie ursprünglich einmal gewählt hatten. Die Piratenpartei tut aber in den letzten Monaten alles um „professionell“, realpolitisch und „koalitionsfähig“ zu werden, statt eine echte Alternative. Doch von dieser Art gibt es schon genug Parteien. (PK)
 
(1) https://derpinnebergerpirat.wordpress.com/2013/02/02/und-das-zanken-geht-weiter/
 
(2) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/11/der-sieg-der-extremistischen.html  
http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/07/neue-piraten-wichtigere-piraten-und-das.html
http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/04/sind-die-ideen-der-vater-des.html 
http://www.wiwo.de/politik/deutschland/undercover-in-der-piratenpartei-mein-leben-als-pirat/6527914.html
 
(3) http://streetdogg.wordpress.com/2012/11/11/spqp/ 
 
(4) http://jomenschenfreund.blogspot.de/search/label/LQFB 
 
(5) http://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2012.2/Antragsportal/X009 
 
(6) http://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2012.2/Antragsportal/PA387 
 
(7) http://wiki.piratenpartei.de/Basisdemokratie 
 
(8) E-Mail vom 08.02.2013 von der Piratenpartei an … Mitglieder:
„Hallo zusammen,
möchtet ihr an Umfragen des Bundes teilnehmen? Dann schaut mal hier! … Jedes Mitglied hat die Möglichkeit, an Umfragen des Bundesverbandes teilzunehmen, sich für Aktionsmails anzumelden oder den Versand des Newsletters anzufordern. … Hierfür hat jedes Mitglied einen eigenen sogenannten Token, einen Zugangsschlüssel, zu den Umfragesystemen bekommen.“
Der Versuch den Zugangsschlüssel zu erhalten war bis zur Verfassung dieses Artikels jedoch erfolglos geblieben.
 
(9) http://www.tagesspiegel.de/berlin/abgeordneter-alexander-morlang-der-letzte-pirat-legt-nebenverdienste-offen-aber-nur-teilweise/7502680.html 
 
(10) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18635 
 
(11) http://de.wikipedia.org/wiki/LiquidFeedback
 
(12) https://lqfb.piratenpartei.de/
 
(13) http://wiki.piratenpartei.de/Liquid_Democracy 
 
(14) https://liquid-services.de/index.php?mode=initiative&id=5206&region=1 
 
(15) http://wiki.piratenpartei.de/2012-09-25_-_Protokoll_AG_Inklusion
 
(16) http://wiki.piratepartei.lu/wiki/Programm%C3%A4nderung/Inklusion
 
(17) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2013/02/freiheit-statt-angst.html
 
(18) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18635
 
(19) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/06/verschworungstheorien.html
 
(20) http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Sockenpuppe
 
(21) Beispiele:
http://www.sebastianjabbusch.de/wp-content/uploads/2011/10/Liquid-Democracy-in-der-Piratenpartei-Eine-Neue-Chance-fur-die-innerparteiliche-Demokratie-im-21-Jahrhundert-By-Sebastian-Jabbusch.pdf http://opendatalabs.org/adhocracy/Bachelorarbeit%20Friedrich%20Lindenberg.pdf
 
(22) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2013/02/dummheit-oder-zensur-in-der.html
 
(23) www.zeit.de/politik/deutschland/2013-02/sozialdemokrat-piraten-buch
 
(24) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18745 Siehe am Fuß des Artikels
 
(25) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2013/02/freiheit-statt-angst.html
 
(26) http://de.favstar.fm/users/coraxaroc/status/253993014689681409
Wiederholt und damit verstärkt von Fotios Amanatides, dem Koordinator der AG Außenpolitik, eine Position die er keineswegs in einer geheimen Personalwahl erhielt.
 
(27) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18586
 
(28) Mein Leben in der Piratenpartei 2012, Jo Menschenfreund, 2012, Xinxii (e-book) oder epubli (Druck), Seite 182 ff
 
(29) http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-58485875.html
 
(30) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2013/01/die-landesliste-nrw-zur-btw-2013.html
 
 


Online-Flyer Nr. 394  vom 20.02.2013



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