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Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

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Inland
Rede zur Verleihung des Bremer Kultur und Friedenspreises der Villa Ichon 2013
„Seid unbequem, seid Sand im Getriebe der Welt.“
Von Rolf Gössner

Zunächst möchte ich dem Vorstand des Vereins der Villa Ichon ganz herzlich für die Verleihung des Kultur- und Friedenspreises danken, für die Unterstützung und das Vertrauen, das Sie damit in mich und meine Bürgerrechtsarbeit setzen. Bei meinem Anwaltskollegen Bernhard Docke, den ich besonders wegen seines bewundernswerten Einsatzes für die Freilassung von Murat Kurnaz aus dem US-Foltercamp Guantànamo schätze, möchte ich mich ganz herzlich für seine einfühlsame und facettenreiche Laudatio bedanken – und auch bei Pago Balke für seine engagierten Musikbeiträge.
 

Rolf Gössner
Bernhard Docke hat auf meine frühen Erfahrungen und Prägungen im Kalten Krieg hingewiesen, auf meine Ost-West-Jugendliebe zu einer Polin Ende der 60er Jahre – eine höchst verdächtige Liebe, die rasch ins Geheimdienst-Visier hüben wie drüben geriet, mit Observationen, Drohungen, Briefkontrollen und -zensur. Nicht zu vergessen: als Deutscher in Polen die Konfrontation mit der deutschen Nazi-Vergangen- heit, mit Auschwitz und Majdanek, mit polnischen Familien, die extrem unter deutscher Nazi-Herrschaft zu leiden hatten. Dann die Konfrontation der Systeme: als Gast aus dem kapitalistischen Westen im kommunistischen Polen, in das ich erst einreisen konnte, als Ende der 60er Jahre Willy Brandts neue Ostpolitik den deutsch-polnischen Grundlagenvertrag (1970) ermöglichte. So beeinflusste und belastete das Politische diese damals ungewöhnliche Liebesbeziehung hautnah und beflügelte mich, den politischen Erstarrungen und Denkzwängen des Kalten Krieges etwas entgegenzusetzen und mich für Bürger- und Menschenrechte zu engagieren. Bitte nehmen Sie mir’s also nicht übel, dass ich heute - für mich eher ungewohnt -überwiegend persönlich bleibe und einige wenige Schlaglichter werfe auf die Reaktionen,
die mein bürgerrechtliches Engagement im Laufe meines Arbeitslebens auslösten.
 
Heute also wird dieses „Engagement für die Einhaltung der Grund- und Bürgerrechte“ gewürdigt. Jahrzehntelang gegen den Strom schwimmen im Hardcore-Segment „Innere Sicherheit“ und Bürgerrechte ist, ich gestehe es, ganz schön anstrengend und nur mit einer gehörigen Portion Humor und Gelassenheit zu ertragen. Umso mehr freue ich mich, dass ich seit geraumer Zeit ein wenig politische Ernte meiner Bürgerrechtsarbeit einfahren kann - nach recht mühsamen Jahren und Jahrzehnten des Aneckens und Überwachtwerdens. Und ich freue mich als Bremer mit schwäbischem Migrationshintergrund auch darüber, dass dieses Engagement nun auch in meiner Wahlheimat gewürdigt wird – denn das war keineswegs immer so.
 
                                                     I.
 
So sah ich mich etwa am Ende meiner Ausbildung als Rechtsreferendar, zu der ich aus Süddeutschland nach Bremen gezogen war, zum Abschied jäh mit dem Ausspruch eines meiner Ausbilder konfrontiert, immerhin eines ranghohen Bremer Richters: „Mag er seinen Platz außerhalb dieser Gesellschaft finden“. Dieser richterliche Platzverweis gab mir doch zu denken – nicht wegen des impliziten Vorwurfs mangelnder Anpassungsfähigkeit und allzu starker Abweichung von der „herrschenden Meinung“, sondern wegen seines ausgrenzenden Zungenschlags. Das war Ende der 70er Jahre. 

Bremer Lehrstueck 1980                                                              
 
1. Solchermaßen aufs Arbeitsleben vorbereitet, musste ich gleich zu Beginn der 80er Jahre erkennen, dass mein Referendar-Ausbilder doch irgendwie Recht behalten sollte. Was ich thematisch auch anfasste, führte zu heftigsten Reaktionen mit durchaus ausgrenzenden Tendenzen. Ich arbeitete damals zusammen mit meinem Kollegen, dem damaligen Wallraff-Mitarbeiter Uwe Herzog, an unserem ersten Buch "Der Apparat. Ermittlungen in Sachen Polizei“, das später zum Bestseller geriet und bundesweit reichlich Furore machte. Erst vor wenigen Tagen konnte ich von Polizeipräsident Lutz Müller und dem früheren Staatsanwalt für politische Strafsachen, Hans-Georg von Bock und Pollach, erfahren, welche vehementen Reaktionen dieses Enthüllungsbuch damals innerhalb der Bremer Polizei und Staatsanwaltschaft auslöste – vielfach waren es wohl Abwehrreaktionen. Tatsächlich musste ich, als dieses Buch erschien, wegen massiver Drohungen Bremen vorübergehend verlassen.


Gössners Presse-Sonderausweis
der Panzer-Grenadierbrigade 32 für
die Rekrutenvereidigung im
Weser-Stadion
Archiv Rolf Gössner
Noch während unserer Recherchen tobte in Bremen gerade, wie zur Anschauung, der 6. Mai 1980. Unvergessen, der Protest von 15.000 Menschen gegen das öffentliche Rekrutengelöbnis der Bundeswehr im Weser-Stadion – ein militanter Protest gegen Militarisie-rungstendenzen, der als „Bremer Krawalle“ in die Geschichte der Stadt einging. Gewaltsame Auseinander-setzungen mit vielen Verletzten, Steine flogen auf Polizeibeamte, Bundeswehr-fahrzeuge gingen in Flammen auf – und ich mittendrin: nicht als Demonstrant, sondern als Journalist, damals in meiner Funktion als erster Bremer Redakteur der „Tageszeitung“ (taz). Ausgestattet mit einem offen getragenen Presse-Sonderausweis der Panzergrenadier-brigade 32 ging ich direkt im Weser-Stadion meiner journalistischen Arbeit nach. Doch es dauerte nicht lange, da umringten mich drei mausgraue Bundeswehr-Feldjäger und ein Zivilpolizist und ermahnten mich eindringlich. Mein Vergehen: Ich hatte die Falschen fotografiert – nicht Demonstranten, die Steine auf mit Helmen und Plastikschilden geschützte Polizisten warfen, sondern Polizisten, die innerhalb des Stadions die Steine aufgriffen und sie in die ungeschützte Menschenmenge zurückschleuderten. Nachdem ich trotz Ermahnung auf die Pressefreiheit pochte und weiter fotografierte, stürzten sich Feldjäger unter „so, jetzt reicht’s“-Rufen auf mich, führten mich im Armdrehgriff an einem Spalier gewaltbereiter Feldjäger vorbei, stießen mich die Treppe hinunter und übergaben mich außerhalb des Weser-Stadions der Polizei. Nun hoffte ich auf bessere Behandlung, doch jetzt ging’s erst richtig los: Die Beamten hatten ein Spalier gebildet, um mit mir – wie auch mit vielen anderen – eine Art
Spießrutenlauf zu veranstalten: Ich wurde durch die Reihen gejagt, mit Tritten und Schlagstöcken traktiert und an den damals noch langen Haaren gezogen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich am Ende des Spaliers liegen blieb und Demonstranten mich in Sicherheit brachten.

2. Dieses durchaus prägende Erlebnis und die Erfahrungen vieler anderer Demonstranten mit Polizeigewalt, stellten sich rasch als Bremer Lehrstück heraus – und zwar für einen Volkshochschul-Kurs, den ich just in jener Zeit leitete. Titel: „Vom Rechtsstaat zum Polizeistaat? (Fragezeichen)“. Darin ging es um eine prekäre Polizeientwicklung in der Bundesrepublik - Stichworte: Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, Aufrüstung und Militarisierung sowie Legalisierung des gezielten Todesschusses. Dieser Kurs geriet mitsamt der Volkshochschule sehr schnell in die parteipolitische Schusslinie, insbesondere der CDU, so dass sich der damalige SPD-Wissenschaftssenator Horst-Werner Franke veranlasst sah, meinen Kurs überprüfen zu lassen und die VHS zu disziplinieren. So schickte er eines Tages einen Staatskommissar in den Kurs, den wir mit selbst gebastelten Maulkörben überraschten. Nach vergeblichen Versuchen, uns etwas Verwertbares zu entlocken, musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Von den maulkorbtragenden Kursteilnehmern entstand ein Foto, das via „Stern“-Illustrierte und andere Medien durch die ganze Republik geisterte.


Deckblatt einer Dokumentation mit
Maulkorbfoto zu der Kontroverse
um den VHS-Kurs "Vom Rechts-
staat zum Polizeistaat?"
Archiv Rolf Gössner
Die Aktion entfachte eine rege öffentliche Debatte und Solidaritätsarbeit gegen diese „Gefährdung der Meinungs- und Lehrfreiheit in Bremen“. Die hitzige Debatte reichte bis in die Bürgerschaft, wo die CDU den Wissenschaftssenator aufforderte, dem Kurs ein sofortiges Ende zu bereiten. Doch unsere bundesweite Öffentlichkeitsarbeit und die vielen Solidaritätsbekundungen konnten dies verhindern. Der Folgekurs, den ich ein Semester später trotz alledem anbieten konnte, musste umbenannt werden. Er hieß nun: „Die Schere im Kopf“ und handelte von Zensur und Selbstzensur.
 
3. Meine Erlebnisse mit der Polizei im Weser-Stadion beschäftigten unterdessen, dank Rechtsanwalt Heinrich Hannover, Presserat und Staatsanwaltschaft – allerdings ohne Resultat, denn die gewalttätigen Polizisten in Uniform und unter Helmen konnten nicht namhaft gemacht werden. Wegen dieser Erfahrungen mit Polizeigewalt und mangelnder Kontrolle polizeilichen Fehlverhaltens, aber auch als Konsequenz aus unseren „Ermittlungen in Sachen Polizei“, die wir 1982 in dem Buch „Der Apparat“ vorlegten, riefen wir öffentlich dazu auf, Bürgerinitiativen „Bürger kontrollieren/beobachten die Polizei“ zu gründen. Das ist in zwölf Städten gelungen – so auch in Bremen. Wir wollten Opfer von Polizeigewalt stärken, beraten und begleiten, damit sie sich gegen eine anonym wirkende staatliche Übermacht besser zur Wehr setzen konnten. Auch wenn sich im Polizeibereich seit jener Zeit viel verändert hat – zum Besseren, aber leider auch zum Schlechteren -, so müssen wir feststellen, dass noch heute die Kontrolle von Polizeihandeln bundesweit mit gravierenden strukturellen Mängeln behaftet ist. Deshalb fordern Bürger- und Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder die Internationale Liga für Menschenrechte zu Recht: 1. die Einrichtung von unabhängigen Kontrollinstitutionen, 2. die Kennzeichnung von PolizeibeamtInnen und 3. verstärkte Menschenrechtsbildung in der Polizeiausbildung. Übrigens: Endlich ist die Geschichte der Bremer Polizei aufgearbeitet worden und gegenwärtig in zwei interessanten Ausstellungen des Innensenators in der Unteren Rathaushalle zu sehen: zur Rolle der Polizei in den Jahren der NS-Diktatur und in der Zeit von 1945 bis heute, die lange von nazibelasteten Anfängen und einem antidemokratischen Geist geprägt war.
 
                                                             II.
 
Ich komme zu einem anderen Kapitel – und wiederum handelt es sich um ein Problem mit der demokratisch-öffentlichen Kontrolle von staatlichem Handeln, das mich ebenfalls hautnah beschäftigt. In der Begründung zur heutigen Preisverleihung spielt der Inlandsgeheimdienst mit dem euphemistischen Tarnnamen „Verfassungsschutz“ eine zentrale Rolle. Nachdem Ende 2011 die NSU-Mordserie ohne Zutun von „Verfassungsschutz“ und Polizei aufgedeckt geworden war, sah ich mich plötzlich einem gesteigerten medialen Interesse ausgesetzt – dieses Mal als „Geheimdienstexperte“ mit intimen Kenntnissen über die klandestine Verfassungsschutzarbeit, der lange vor Bekanntwerden der Mordserie die heillosen Verflechtungen des „Verfassungsschutzes“ in gewaltbereite Neonaziszenen enthüllt hatte und der das V-Leute-Unwesen als unkontrollierbar und demokratiewidrig kritisierte. Tatsächlich hatte ich schon vor zehn Jahren Vieles von dem aufgedeckt und in meinem Buch „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates“ dokumentiert, was nun so großes Erstaunen und Entsetzen verursachte.
 
Mehr als ein Jahrzehnt lang waren die staatlichen Sicherheitsbehörden nicht in der Lage, den rechtsterroristischen Mördern auf die Spur zu kommen, obwohl sie über ihre zahlreichen V-Leute aus der Naziszene dem NSU und seinem Umfeld doch sehr, sehr nahe waren. Stattdessen zogen sie in geradezu rassistischer Weise die Mordopfer und ihre Angehörigen in Verdacht. Und nach der unfassbaren Nichtaufklärung des rassistischen Hintergrunds der Taten sind die Versagerbehörden mit geradezu krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihrer Unfähigkeit und Pannen, ihrer Ignoranz und ideologischen Fehlsichtigkeit zu verdunkeln und zu vernichten. Lassen Sie es mich recht verdichtet so ausdrücken: Der im Kalten Krieg geprägte, antikommunistische, skandalgeneigte, intransparente Inlandsgeheimdienst hat seine eigene altnazistische Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet, hat im Kampf gegen Nazismus versagt, gefährdet Verfassung und Demokratie und ist demokratisch nicht kontrollierbar. Die Vertuschungs- und Aktenschredder-Aktionen, wie wir sie geballt erleben mussten, sind systembedingte Verdunkelungsstrategien, wobei der sog. Quellenschutz offenbar auch vor Mordaufklärung rangiert. Für mich war wirklich erschreckend: wie sich Neonazis und rechter Terror fast unbehelligt entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen konnten, während der „Verfassungsschutz“ – neben vielen anderen linken Gruppen und Antifaschisten – einen linksorientierten Anwalt, Journalisten und Bürgerrechtler mit ideologischer Verbissenheit jahrzehntelang beobachtete, seine Bürgerrechtsarbeit in einer dicken, über 2.000seitigen geheimen Personenakte registrierte und als „verfassungsfeindlich“ einstufte.
 
Bernhard Docke hat schon etliches zu meiner geheimdienstlichen Überwachungsgeschichte und dem Gerichtsverfahren erzählt, so dass ich nur noch ein paar persönliche Eindrücke und Empfindungen nachtragen möchte:
 
1. Diese 38jährige Langzeitüberwachung betrifft mein gesamtes bewusstes Leben - beziehungsweise das, was der „Verfassungsschutz“ mit seiner selektiven Wahrnehmung aus diesem Leben gemacht hat: Er zeichnet in Personenakten und Schriftsätzen ein aus zeitgeschichtlichen Zusammenhängen herausgerissenes Bild und konstruiert abstruse Anschuldigungen. Heraus kommt ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild, in dem ich mich nicht wieder erkenne und vor dem ich, auf den ersten Blick zumindest, selbst erschrecken würde. Der Dienst hatte sich mit seiner obsessiven Gesinnungskontrolle und seiner amtlichen Interpretation, oder besser: Fehlinterpretation, meines politischen Lebens und meiner sozialen Kontakte bemächtigt. Ich möchte nur an einem Beispiel aufzeigen, mit welch perfiden Methoden der „Verfassungsschutz“ meine Schriften einem „Extremismusverdacht“ aussetzt. Da heißt es etwa in einem Text von mir – ich darf mich mal selbst zitieren: „Was dieses Land dringend nötig hätte, sind tiefgreifende politische und ökonomische Veränderungen... Wir brauchen einen konsequenten Ausbau demokratischer Strukturen, die Verbesserung von Transparenz und demokratischer Kontrolle in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sowie eine Stärkung und Absicherung der Bürgerrechte statt deren Aushöhlung.“
 
Wenn Sie, meine Damen und Herren, diese Forderungen beklatschen würden, dann hätten Sie womöglich ein Problem. Denn was sagt der „Verfassungsschutz“ dazu: „Diese auf den ersten Blick unverfängliche, ja als ein Bekenntnis zur Demokratie erscheinende Passage ist tatsächlich ein Aufruf zur Etablierung eines sozialistischen Staats- und Gesellschaftssystems. Die vom Kläger verwendeten Stichworte der ‚tiefgreifenden politischen und ökonomischen Veränderung’ und der ‚demokratischen Kontrolle’ von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind Signalwörter der kommunistischen Doktrin….“ Woher weiß der „Verfassungsschutz“ das?
Aus dem „Kleinen Politischen Wörterbuch“ der DDR, Baujahr 1983, Lieblingslektüre des Geheimdienstes. Danach bedeute grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft: „Revolution“ – und das ist verfassungswidrig. Der „Verfassungsschutz“ maßt sich also eine Deutungshoheit über meine Texte an und übt sie in geradezu inquisitorischer Weise aus. Meine Maxime lautet demgegenüber: Bürger- und Menschenrechrechtsarbeit ist ohne Staats- und Gesellschaftskritik nicht denkbar!
 
2. Nun musste ich versuchen, mir Zweidrittel meiner Lebensgeschichte wieder anzueignen, um die Deutung politischer Vorgänge und persönlicher Entwicklung nicht einem kaum kontrollierbaren Geheimdienst zu überlassen. Ein anstrengender Prozess, der mich weit in die Vergangenheit zurückführte, tief hinein in die unseligen Zeiten des Kalten Krieges. Ich musste mich dabei auch der bangen Frage stellen, was das Wissen um meine Beobachtung und die Negativbewertung durch den „Verfassungsschutz“ mit und aus mir gemacht hat, ob sich mein Verhalten etwa verändert, ob ich mich womöglich schleichend anpasse, Themen oder Kontakte meide – ob also die Schere im Kopf seitdem klammheimlich ihr zerstörerisches Unwesen treibt. Meine Erfahrung ist: Nur ein ganz bewusster Umgang mit dieser Problematik kann davor schützen.
 
3. Besonders fürchten musste ich den Geheimdienstschatten beim Umgang mit Mandanten und eigenen Informanten, denn unter Beobachtungsbedingungen gibt es keine Vertraulichkeit mehr. Um als Publizist meine Informanten und Whistleblower im Zuge meiner oft heiklen Recherchen dennoch so gut wie möglich zu schützen, bedurfte es anstrengender, aufwändiger Klimmzüge. In Einzelfällen mussten Kontakte unterbleiben oder abgebrochen werden. Das gilt auch für meine Anwalts-, Parlaments- und Menschenrechtsarbeit. Das Mandatsgeheimnis und der Informantenschutz waren jedenfalls so nicht mehr durchgängig zu gewährleisten, meine Berufsfreiheit und berufliche Praxis damit mehr als beeinträchtigt. All das hat mein berufliches und soziales Umfeld erheblich irritiert. Zu Recht, wie sich später herausgestellt hat. Denn es gab ein ganzes Netzwerk von V-Leuten und Zuträgern, die den „Verfassungsschutz“ offenbar mit Informationen über mich und meine persönlichen Kontakte versorgt haben.
 
4. Dass ein Geheimdienst wie der „Verfassungsschutz“ über vier Jahrzehnte unkontrolliert und grundrechtswidrig eine unabhängige Einzelperson, zudem einen Berufsgeheimnisträger beobachten, personenbezogene Daten erfassen, sammeln, auswerten und übermitteln kann und dass er dann auch noch den größten Teil der Personenakte geheim halten darf, beweist anschaulich meine These, dass es sich dabei letztlich um eine demokratieunverträgliche Institution handelt, für die das Prinzip demokratischer Transparenz und Kontrollierbarkeit nicht gilt. Sie gehört allein schon deshalb aufgelöst. Im Übrigen ist diese Überwachungsgeschichte über Beamtengenerationen hinweg auch ein Fall für den Bundesrechnungshof – wegen Verschwendung öffentlicher Gelder. Und wiederum ein brisantes Lehrstück in Staatskunde, in Sachen Bürgerrechte und Demokratie. Gewiss kein Einzelfall, gibt es doch viele andere Fälle skandalöser Überwachung mit oft weit gravierenderen Folgen - und zwar in allen Jahrzehnten seit Bestehen der Bundesrepublik: ob in Zeiten der Kommunistenverfolgung der 50er/60er Jahre, in Zeiten der Berufsverbote und des Deutschen Herbstes der 70er oder erstarkender politisch-sozialer Bewegungen der 80er Jahre; auch nach Ende des Kalten Krieges bis heute werden Parteien, Gewerkschaften und Organisationen politisch verdächtigt, heimlich bespitzelt und infiltriert.
 
5. Ende 2008 stellte das Bundesamt, zumindest offiziell, meine Beobachtung überraschend ein, nachdem es zuvor dem Gericht gegenüber eine Einstellung der Überwachung noch vehement abgelehnt hatte – obwohl ich inzwischen zum stellvertretenden Richter am Bremischen Staatsgerichtshof und zum Mitglied der Innendeputation gewählt worden war. Einer der Gründe, weshalb ich plötzlich nicht mehr beobachtet werden müsse, klingt höchst bemerkenswert: Die Bedrohungslage habe sich geändert und die knappen Ressourcen müssten nun für andere Schwerpunkte eingesetzt werden! Eine glatte Notlüge, um dem drohenden Urteil zuvor zu kommen - ohne Klage wäre das nie passiert. Es war schon ein eigenartiges Gefühl, nach so langer Zeit „fürsorglicher Belagerung“ angeblich nicht mehr unter Beobachtung zu stehen - sozusagen außer Kontrolle und staatsschutzlos.
 
6. Meines Erachtens prallen in diesem Streitfall zwei unterschiedliche politische Kulturen und Grundhaltungen aufeinander: auf der einen Seite die Kultur, eher Unkultur des heimlichen Ausspähens, Stigmatisierens und Ausgrenzens im Namen von Sicherheit und Staatswohl, auf der anderen Seite die Kultur der demokratischen Transparenz, des offenen und kritischen Dialogs im Namen von Demokratie und Freiheit, den ich in allen beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten suche und führe – ohne allzu große politische Berührungsängste, nicht selten gegen Mainstream und gesellschaftliche Ausgrenzungsbereitschaft; gerade auch mit Personen und Gruppen, die ihrerseits unter Beobachtung stehen, und die deswegen in den Augen vieler als geächtet gelten, mit denen man tunlichst nicht diskutiert – etwa bestimmte
sozialistische, kurdische oder iranische Gruppen, islamische Gemeinschaften, Muslime oder sonstige Migranten, die durch den staatlichen Antiterrorkampf ihrerseits unter Generalverdacht geraten sind. Eine offene, liberale Demokratie lebt von Kritik und kontroverser politischer Diskussion auch und gerade mit Andersdenkenden – nichts anderes ist mir letztlich vorzuwerfen. Es ist Gift für eine demokratische Gesellschaft, wenn solches unter geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt wird.
 
7. Nach dem Urteil vom 3.2.2011, das die Dauerüberwachung für grundrechtswidrig erklärte, habe ich bundesweit von vielen Menschen und Bürgerrechtsgruppen ermutigende Solidaritätsschreiben erhalten, für die ich mich von hier aus herzlich bedanken möchte. Dieses Urteil, die erfreulichen Reaktionen darauf, also auch die Verleihung des Kultur- und Friedenspreises, wirken wie eine Art Entschädigung für das über fünf Jahre dauernde, nervenaufreibende Gerichtsverfahren – obwohl das Urteil ja noch nicht rechtskräftig ist, da die Bundesregierung beim Oberverwaltungsgericht Münster die Zulassung der Berufung beantragte, über die immer noch nicht entschieden ist. So könnte aus der unglaublichen Geschichte noch eine unendliche werden. Wird die Berufung zugelassen, kann der Rechtsstreit noch Jahre dauern - bis ins hohe Rentenalter.
 
In den Zuschriften ist viel von Mut, Standfestigkeit und Unbeugsamkeit die Rede und auch davon, dabei nicht bitter und zynisch geworden zu sein. All dies habe ich nicht zuletzt auch meinem persönlichen Umfeld zu verdanken, das mich ermutigt und gestärkt hat - in allererster Linie Dir, liebe Heide. Vielleicht habe ich in dieser Auseinandersetzung so viel Zuspruch und Solidarität erhalten, weil Verfahren und Urteil über den bizzaren Einzelfall hinaus Bedeutung haben. Vielleicht hat die skandalöse Angelegenheit den Nerv einer ganzen Generation von (ehemals) politisch engagierten Menschen getroffen, für die ich, so mein Empfinden, quasi mit geklagt, für die ich mich in gewisser Weise stellvertretend zur Wehr gesetzt habe. 
 
                                                            III.
 
Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss meiner Rede an einen Ausspruch des Schriftstellers und Hörspielautors Günther Eich erinnern, den ich in meinem Abitur 1967 mit Bedacht als Aufsatzthema ausgewählt hatte und der in gewisser Weise zu meinem Lebensmotto wurde: „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“ Oder mit den Worten eines Anwaltskollegen: "Bleibe wild und gefährlich". So wollte mich Bernhard Docke angesichts meines gerichtlichen Sieges über den „Verfassungsschutz“ mit feiner Ironie ermuntern, nicht auszuruhen, nicht nachzulassen in meinem bürgerrechtlichen Engagement. Da werde ich dem Staat also - wie mir die "Süddeutsche Zeitung" mal attestierte - auch weiterhin "gehörig auf die Nerven gehen" müssen. Versprochen - und vielen Dank für Ihre teilnehmende Aufmerksamkeit. (PK)
 
Dr. Rolf Gössner ist Vizepräsident der „Internationalen Liga für Menschenrechte“ (Berlin), lebt als Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater in Bremen. Seit 2007 stellv. Mitglied des Bremischen Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied der staatlichen Deputation für Inneres der Bremischen Bürgerschaft (Landtag). Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestages und diverser Landtage. Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008, dem Kölner Karls-Preis für engagierte Literatur und Publizistik 2012 und nun mit dem Bremer Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon.


Online-Flyer Nr. 397  vom 13.03.2013



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