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Aktueller Online-Flyer vom 23. November 2024  

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Inland
Symposium „Der vergessene Whistleblower Léon Gruenbaum (1934-2004)“ Karlsruhe
Geschichtswerkstatt gegen das Vergessen
Von Peter Kleinert

Das Symposium „Der vergessene Whistleblower Léon Gruenbaum (1934-2004)“ des „Forum - Ludwig Marum" am Samstag, den 19. Oktober, im vollbesetzten großen Versammlungsraum des ver.di-Hauses in Karlsruhe mit mehr als achtzig TeilnehmerInnen hatte den Charakter einer inspirierenden Geschichtswerkstatt. Fünf konzentrierte Lernstunden über die Zivilcourage eines französischen Wissenschaftlers aus einer von den Nazis verfolgten jüdischen Familie und dessen zweite Verfolgung durch einen Atom-Manager am Kernforschungszentrum, einem der beiden Vorläufer des Karlsruher Instituts für Technologie KIT.

Gruenbaum-Symposium: Harald Denecken, Rolande Tordjman-Gruenbaum, Joachim Radkau, Manja Altenburg, Wolff Geisler, Dietrich Schulze, Christof Müller-Wirth, Andrea Hoffend, Nadja Brachmann (v.l.n.r) 
Foto: Sandra Jacques
 
Harald Denecken, Vorsitzender des Forums, begrüßte die Bundestagsabgeordnete der Linken Karin Binder, den Landtagsabgeordneten der Grünen Alexander Salomon und den Stadtrat der Karlsruher Liste Lüppo Cramer als Gäste. Moderiert wurde das Symposium von Jürgen Stude, Ev. Landeskirche in Baden – Arbeitsstelle Frieden.
 
Ein bewegender Höhepunkt gleich zu Beginn, der Beitrag von Léon Gruenbaums in Paris lebender Witwe Rolande Tordjman-Gruenbaum, die ebenfalls einer jüdischen Familie entstammt. Sie sprach über das Nazi-Verbrechen an der aus Polen geflohenen deutschen Familie, deren größter Teil in Auschwitz umkam und über die psychischen Langzeitfolgen für Léon. Sie erklärte: „Léon ist unter uns.“
 

Karlsruher Oberbürgermeister Frank Mentrup
Foto: Sandra Jacques
Frank Mentrup, dem Karlsruher Oberbürgermeister, wurde für sein ermutigendes und engagiert vorgetragenes Grußwort, dass die mit dem Ausgrabungsprojekt des Symposiums zusammen-hängenden Probleme einer Lösung zugeführt werden mögen, von den Teilnehmer- Innen nachdrücklich gedankt. Zu diesen Problemen gehören die vor einem Jahr gut begründete Forderung nach Annullierung der KIT-Ehren-senator-Würde für den NS-belasteten Verfolger und Atom-Manager Greifeld, aber ebenso die unverzügliche Beendigung der KIT-Atom-reaktorforschung in Verbin- dung mit dem Atombomben-Rohstoff Plutonium, die von der Bundesregierung entgegen Atomausstiegs-Beschluss weiter unterstützt und von der Grün-Roten Landesregierung gebilligt wird. Über die aktuelle und die geschichtliche Dimension dieser Probleme sprachen Dietrich Schulze, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender am Forschungszentrum (jetzt KIT Campus Nord), und Wolff Geisler aus Köln, Arzt und Autor, aktiv in der früheren Anti-Apartheid-Bewegung.
 
Wolff Geisler dokumentierte deutsche Nuklear-Exporte an Südafrika, Argentinien, Brasilien, Pakistan, Iran u.a. mit Technologie des KIT-Vorläufers, die eine Atombomben-Herstellung auf fremdem Boden ermöglichte. Als Zeitzeuge konnte er Léon Gruenbaum portraitieren, mit dem er gegen diese illegalen Exporte eng zusammen gearbeitet hatte. Dazu und zur internationalen Vorgeschichte hat Léon Gruenbaum später eine tiefschürfende geschichtswissenschaftliche Monographie unter dem Titel „Die Genese der Plutonium-Gesellschaft“ vorgelegt. Der Atomlobby sind Person und Wirken Léon Gruenbaums nach wie vor ein Dorn im Auge.
 
Serge und Beate Klarsfeld aus Paris, die zu den Initiatoren des Symposiums zählen, aber leider nicht teilnehmen konnten, hatten in einer schriftlichen Botschaft an das Symposium den Beginn der von ihnen unterstützten spannenden Spurensuche nach dem Nazi-Täter Greifeld niedergelegt. Am Vorabend des Symposiums hatte der Arbeitskreis Kultur und Kommunikation der Studierenden am KIT den französischen Film „La Traque“ („Die Hetzjagd“) gezeigt, wie die beiden Nazi-Jäger Serge und Beate Klarsfeld unter Lebensgefahr den „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie vor das Gericht gebracht hatten. Wie Dietrich Schulze zu Beginn seines Beitrags schilderte, hatte der Autor Robert Jungk die persönliche Bekanntschaft von Léon Gruenbaum in Paris gemacht und in seinem Buch „Der Atomstaat“ die ihm aufgrund seiner Aufdeckungen drohenden Gefahren beschrieben, ebenso wie die autoritären und antisemitischen Machenschaften am Kernforschungszentrum.
 
Manja Altenburg von der Jüdischen Kulturvermittlung in Heidelberg erläuterte anhand von Folien das Juden-Vernichtungs-Programm im besetzten Frankreich und Formen des kulturellen Widerstands am Beispiel des Konzentrationslagers Gurs. Andrea Hoffend, Historikerin aus Karlsruhe, vertiefte die Fakten über die NS-Vergangenheit Greifelds mit Informationen über die bewusste Integration von Nazi-Tätern und deren Karrieren im Nachkriegs-Deutschland unter dem Vortragstitel „Braunfäule“, die bis heute fortwirke. Joachim Radkau, Historiker aus Bielefeld und bekannter Buch-Autor über die Atomwirtschaft, rundete die Sachvortragsreihe mit einem Beitrag unter dem Titel „Plutonium-Politik und Atomwaffen“ ab.
 
Den Schlusspunkt des Symposiums setzten Studierende mit Überlegungen zum „Lernen aus der Geschichte“. Vier Studierende der Universität Heidelberg vom dortigen Historischen Seminar berichteten über bekannte und weniger bekannte Nazi-Karrieren und über die Schlussfolgerungen daraus. Nadja Brachmann, Präsidentin des Studierendenparlaments am KIT, sprach über die konkrete Verantwortung der Wissenschaften. Lernen von Whistleblower und Aufklärer Léon Gruenbaum bedeute vor allem „genau hinsehen“ statt „wegschauen oder vergessen“. In diesem Sinne gelte es, endlich die Zivilklausel am KIT zu verwirklichen, d.h. den Verzicht auf jegliche Militärforschung. Die dagegen ins Feld geführten Ethik-Leitlinien seien kein Ersatz.
 
Christof Müller-Wirth, Verleger und Journalist, Ehrenmitglied des Fördervereins „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte“ und die stellvertretende Forums-Vorsitzende Monika Pohl fassten im Schlusswort thematisch zusammen, dass in den Vorträgen und der Diskussion anhand der Vergangenheit über die Zukunft geredet worden sei, unter Benennung von vier handfesten und dringenden Vorhaben: Erstellung einer gründlichen Biographie von Léon Gruenbaum, Annullierung der KIT-Ehrensenator-Würde für Greifeld, Veröffentlichung der Monographie von Léon Gruenbaum sowie Beendigung der illegitimen Atomreaktorforschung „Transmutation“ am KIT vor dem Hintergrund der jetzt schon für den Steuerzahler aufgelaufenen Kosten von zwei Milliarden € für die Atommüll-Verglasung.
 
Ein Wermutstropfen: Die Zielgruppe Studierende war nur marginal vertreten, obwohl am Dienstag vor den Veranstaltungen vor der Uni-Mensa über 300 Einladungsflyer verteilt worden waren. Sehr erfreulich hingegen die Teilnahme vieler jüdischer MitbürgerInnen. Last but not least: Zum Erfolg des Symposiums haben die dankenswerte finanzielle Unterstützung durch „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“, die Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg, die Ev. Landeskirche in Baden - Arbeitsstelle Frieden und private Spender beigetragen. Nicht unerwähnt bleiben sollten die schmackhafte kulinarische AWO-Unterstützung, die funktionierende elektronische ver.di-Raumausstattung und der für die Dokumentation wichtige Audio-Mitschnitt des Freien Radios „Querfunk“.
 
Es ist geplant, eine Dokumentation über das Symposium heraus zu bringen. Mehr Informationen und Presseberichte in der Webseite des Forums unter http://www.forum-ludwig-marum.de/veranstaltungen/symposium-gruenbaum/ (PK)
 
Dieser Text wurde aus der Presse-Mitteilung des „Forum – Ludwig Marum" vom 21. Oktober 2013 über das Ergebnis des Symposiums übernommen: http://www.forum-ludwig-marum.de/site/assets/files/1012/pm_3.pdf . Die Neue Rheinische Zeitung hatte vorab mehrfach über die Themen des Symposiums berichtet.
 


Online-Flyer Nr. 429  vom 23.10.2013



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