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Kultur und Wissen
"Im Namen der Freiheit" - Leben und Philosophie des Albert Camus
Mythen um Camus
Von Patrick Spät

Um Albert Camus, der am 7. November 2013 hundert Jahre alt geworden wäre, ranken sich viele Mythen: Er soll ein Existentialist, ein Philosoph allenfalls für Abiturklassenund ein harmloser Sozialdemokrat gewesen sein. Doch nichts von alledem trifft zu. Es ist dem französischen Philosophen Michel Onfray zu danken, dass er in seiner soebenerschienenen Biographie die wahre Haltung Camus’ bloßlegt und so implizit mit den meisten Mythen um Camus aufräumt.
 

Albert Camus 1957
Quelle: wikipedia
Bereits 1945 sagte Camus klipp und klar: „Nein, ich bin kein Existentialist. Sartre und ich, wir wundern uns immer, unsere Namen miteinander verbunden zu sehen.“ Und 1953 fügte er hinzu: „Die beiden üblichen Irrtümer: die Existenz gehe der Essenz oder aber die Essenz der Existenz voraus. Die eine wie die andere aber gehen im gleichen Schritt.“ Für Camus stehen sich, anders als für Sartre, Mensch und Natur nicht diametral entgegen, denn der Mensch ist immer schon Teil der Natur – und hat somit auch natürliche Eigenschaften. Würde und moralische Werte waren für Camus keine bloßen Gedankenkonstrukte, sondern Teil der menschlichen Natur.
 
Für den Existentialisten Jean-Paul Sartre dagegen ist der Mensch „nichts anderes als das, wozu er sich macht.“ Hier geht die Existenz der Essenz voraus. Das Wesen der Natur kann uns nach Sartre nicht einmal einen Fingerzeig für irgendeinen Wert geben. Die Natur ist einfach da; sie will nichts, sie gibt nichts. Diese Abblendung der Natur – bis zur Naturverachtung – war für Sartre keineswegs nur theoretische Schaumschlägerei, sondern sein Lebensentwurf und seine Lebenspraxis: Keineswegs zufällig pumpte er seinen Körper  mit Whiskey und der Aufputschdroge Corydran voll – und mit täglich zwei Schachteln Zigaretten.
 
Im Gegensatz zu Sartre betonte Camus stets, kein Philosoph zu sein. Einfach deshalb, weil er nicht „an ein System glauben könnte“. Camus betrachtete die Philosophie lediglich als Werkzeug, um „eine Lebenskunst für Katastrophen-zeiten“ zu finden. Während Sartre hochkomplexe Werke für die akademische Welt schrieb – sein ein Kilogramm schweres Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ soll Gerüchten zufolge den Pariser Markthändlern zum
Wiegen von Gemüse gedient haben –, stellte Camus die alte Frage nach dem guten Leben. Die bunte Wirklichkeit in das Korsett grauer Begriffe zu zwängen, war Camus ein Graus: „Die größte Ersparnis, die sich im Bereich des Denkens erzielen lässt, besteht darin, die Nicht-Verstehbarkeit der Welt hinzunehmen – und sich um den Menschen zu kümmern.“
 
Als Sohn einer Analphabetin und eines Feldarbeiters, der im Ersten Weltkrieg fiel, wuchs Camus unter ärmsten Verhältnissen in Algerien auf. Diese Erfahrungen prägten ihn ein Leben lang: Paris war ihm verhasst, mit dem Heischen nach Prestige und akademischer Hirnakrobatik konnte er ebenso wenig anfangen wie mit dem naturentfremdeten Leben der Großstädter. Camus liebte die Sonne, das Meer, gebräunte Körper; Roland Barthes sprach denn auch treffend von einer „solaren Philosophie“.
 
„Wer dunkel schreibt, hat Glück: er wird kommentiert. Die anderen bringen es nur zu Lesern, was anscheinend verächtlich ist“, notierte Camus mit einem deutlichen Seitenhieb Richtung Sartre. Sartre, Absolvent der Elite-Universität ENS, hatte Camus zuvor als „algerischen Gassenjungen“ und als „Philosophen für Abiturklassen“ abgekanzelt. Doch die einfache, mitunter karge Sprache Camus‘ war keineswegs dessen Naivität geschuldet, sondern bewusst gewählter Ausdruck seines ganz unmittelbaren Lebens, auf der Straße und in der Natur. Camus wollte verstanden werden. Über seinen bis heute wohl bekanntesten Essay, „Der Mythos des Sisyphos“ (1942), bemerkte er mit fast antiphilosophischen Worten: „Wenn ich hier eine Morallehre schreiben müsste, würde das Buch hundert Seiten umfassen, und davon wären 99 leer. Auf die letzte würde ich schreiben: ‚Ich kenne nur eine einzige Pflicht, das ist die Pflicht, zu lieben.‘ Und zu allem übrigen sage ich nein.“
 
Nein, der Boxer Sartre und der Fußballer Camus fanden nie zum gemeinsamen Spiel. 1952 kam es zum endgültigen Spielabbruch, als Sartre ein schweres Foul beging und Camus‘ antifaschistisches, aber eben auch antitotalitäres Buch „Der Mensch in der Revolte“ verriss. In dem Buch wandte sich Camus gegen alle Spielarten eines totalitären Sozialismus – und damit auch gegen Sartre, der über Stalins Gulag bereitwillig hinwegsah, um die Ideale des Kommunismus zu verwirklichen. Camus entgegnete dem, „dass die menschliche Person über dem Staat steht“. Zeitlebens rief Camus zur Revolte der Humanität auf. Er engagierte sich in der Résistance, prangerte den Terror Stalins an und forderte nur einen Tag nach den Nürnberger Prozessen die weltweite Abschaffung der Todesstrafe, während allerorten Blut mit Blut vergolten wurde. In seiner Rede zum Empfang des Nobelpreises 1957 betonte Camus: „Jede Generation sieht zweifelsohne ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern.“
 
Camus also „nur“ ein Konservativer, gar ein Reaktionär? Keineswegs, auch wenn ihn das Nobelpreiskomitee als einen gutbürgerlichen Sozialdemokraten hinzustellen versuchte, um ihn im Kalten Krieg zu instrumentalisieren. Zwar verließ Camus bereits 1937 die Kommunistische Partei, doch schlug sein Herz stets links: Camus plädierte für einen libertären Anarchismus – eine Verbindung, die der Mainstream selbst zu Camus‘ 100. gekonnt ignoriert. Allein Michel Onfray hat Camus' politische Haltung in seiner aktuellen Biographie herausgearbeitet. Und Lou Marin hat die anarchistischen Artikel, Interviews und Reden Camus‘ herausgegeben und damit erstmals für das deutschsprachige Publikum zugänglich gemacht (1).
 
Für Camus war klar: „Kein Mensch besitzt so viel Festigkeit, dass man ihm die absolute Macht zubilligen könnte.“ Jede Herrschaft von Menschen über andere Menschen war für Camus ein Angriff auf die Freiheit – was sowohl für den Totalitarismus als auch für den Kapitalismus gilt. Unweigerlich geriet Camus mit dieser Haltung zwischen die Fronten – von konservativen Republikanern einerseits und totalitären Sozialisten andererseits. Er bemerkte dazu: „Die bürgerliche Moral stößt uns durch ihre Heuchelei und ihre mittelmäßige Rohheit ab. Der politische Zynismus, der einen großen Teil der revolutionären Bewegung dominiert, widert uns an. Und was die sogenannte unabhängige Linke anbetrifft, so ist sie in Wirklichkeit von der Macht des Kommunismus fasziniert und klebt an einem Marxismus, der sich vor sich selber schämt: Sie hat daher bereits abgedankt. Wir müssen also in uns selbst, im Zentrum unserer Erfahrung, das heißt im Innern des Denkens der Revolte, die Werte finden, die wir brauchen.“
 
Was von Wert ist: Jeder einzelne Mensch und die Solidarität
 
Was also ist für Camus von Wert? Jeder einzelne Mensch – und die Solidarität unter ihnen. Menschenleben dürfen niemals einer politischen Idee geopfert werden. Zwar strebte auch Camus ein sozialistisches Paradies auf Erden an, nur eben mit anderen Mitteln. Denn Camus erkannte schnell, dass die politische Macht nicht cäsarisch (top-down), sondern libertär (bottom-up) organisiert werden muss. „Aber“, so Camus, „der Kampf zwischen dem libertären Sozialismus und dem cäsarischen Sozialismus ist nicht beendet, und es kann keinen Kompromiss des einen im Hinblick auf den anderen geben. Sagen wir jedenfalls, dass die Revolutionen mit den Maschinengewehren an den Straßenecken zu Ende sind.“
 
Dennoch glaubte Camus nicht an die parlamentarische Demokratie und war somit auch nicht der „naive Sozialdemokrat“, als den ihn Sartre bezeichnete. Fakt ist: Camus unterhielt enge Kontakte mit Anarchisten aus aller Welt, er hielt Reden vor anarchistischen Gewerkschaften und einen Großteil seiner Nobelpreisprämie spendete er an spanische Exil-Anarchisten, die auf der Flucht vor Franco waren. Sein ganzes Werk ist durchtränkt von libertären Ideen. Schon 1944 wünschte er sich eine „internationalistische Ökonomie, in der die Rohstoffe verstaatlicht werden, der Handel kooperativ organisiert und die kolonialen Absatzmärkte allen zugänglich gemacht werden und das Geld selbst Kollektivstatus erhält.“ Wenig später forderte er die „Vereinigten Staaten der Welt“, die „Abschaffung der Lohnarbeit“ und, „die Gewerkschaften an der Verwaltung des Volkseinkommens zu beteiligen“, um dann 1951 zu betonen: „Meine Sympathien gelten den libertären Formen des Syndikalismus“.
 
Unklar ist, welche Rolle genau Camus dabei dem Staat zuspricht: Wollte er ihn gänzlich abschaffen oder setzte er doch auf einen demokratischen Sozialismus, etwa in Form einer föderalen Räterepublik? Fest steht jedoch: Camus’ Ziel war nicht der Parlamentarismus, sondern ein Anarchosyndikalismus, bei dem die Produktionsmittel in den Händen der basisdemokratisch organisierten Gewerkschaften liegen: Der „Syndikalismus ist wie die Gemeinde die Negation des bürokratischen und abstrakten Zentralismus zugunsten der Wirklichkeit.“
 
Camus wusste um die Heuchelei der KP-Anhänger, die ihn in die bürgerliche Schublade stecken wollten: „Lügnerisch ist es auch, wenn man – wie übrigens alle Welt – meine explizite Bezugnahme auf den freien Syndikalismus verschweigt. Denn zum Glück gibt es noch eine andere revolutionäre Tradition als die, der meine Kritiker anhängen.“ Anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 100. Geburtstag würden wir Camus daher das größte Geschenk machen, wenn wir den Mythos vom harmlosen existentialistischsozialdemokratischen Philosophen für Abiturklassen endgültig vom Tisch räumten. (PK)
 
(1) Albert Camus – Libertäre Schriften, 1948–1960, Hamburg, Laika Verlag, 2013.
 
Michel Onfray, "Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus", aus dem Französischen von Stephanie Singh, München, Albrecht Knaus, 2013, 22,99 Euro.
Die Rezension haben wir mit Dank von der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" übernommen -www.blaetter.de


Online-Flyer Nr. 433  vom 20.11.2013



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