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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Kultur und Wissen
Vortrag zum 35jährigen Bestehen des Bundesverbands Arbeiterfotografie
Enteignung von 99 Prozent der Menschheit – Teil 1
Von Klaus Hartmann

Unter dem Motto „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“ fand anlässlich des 35jährigen Bestehens des Bundesverbands Arbeiterfotografie am 21. September 2013 in Werder an der Havel eine Vortrags- und Kultur-Veranstaltung statt. Zu den Vortragenden gehörte Klaus Hartmann, Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbands und Vizepräsident der Weltunion der Freidenker. Wir geben seinen Vortrag „Enteignung von 99 Prozent der Menschheit – und die Methoden ihrer Absicherung“ in zwei Teilen wieder – nachfolgend zunächst Teil 1.


Klaus Hartmann bei seinem Vortrag in Werder am 21.9.2013
Foto: arbeiterfotografie.com

Zunächst bedanke ich mich für die Einladung, dem Bundesverband Arbeiterfotografie zu seinem Ehrentag eine Rede halten zu dürfen.

Aufklärung: Hauptaufgabe der Freidenker

Für manche muss ich vielleicht deutlich machen, dass ich mich dazu nicht auf fremdes Gelände begeben muss. Daher vorweg ein Paar Worte zum Freidenkerverband. Freidenker und Arbeiterfotografen haben Vieles gemeinsam, in ihrer Geschichte wie bei ihren Anliegen heute. Die Freidenker verstanden sich bei ihrer Gründung 1881 als Organisation für Aufklärung und Bildung, bei den 1905 und 1908 gegründeten Verbänden als Kulturorganisationen der Arbeiterbewegung, als sozialistische Organisationen. Im Unterschied zu den bürgerlichen Atheisten sahen sie nicht im Gottesglauben den Hemmschuh für den Fortschritt, sondern in der auf Unterdrückung beruhenden Klassengesellschaft.

Auch die Freidenker wurden 1933 gleich nach den Kommunisten verboten, ausgeraubt, verfolgt. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde die antifaschistische Losung „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ zur bis heute gültigen Richtschnur unseres Handelns.

Heute versteht sich der Deutsche Freidenker-Verband als Weltanschauungsgemeinschaft, Interessenvertretung konfessionsfreier Menschen und Kulturorganisation. Zur Klarstellung: Weltanschauungsgemeinschaft heißt konkret: auf der Grundlage des philosophischen Materialismus, der Dialektik und einer darauf gegründeten Erkenntnistheorie und Geschichtsauffassung. Kulturorganisation bedeutet, wir verstehen unter Kultur den geistig-sozialen und politischen Entwicklungsstand der Menschen sowie die Gesamtheit ihrer materiellen und geistigen Errungenschaften auf gesellschaftlicher, künstlerischer und humanitärer Ebene. Darauf gründet sich unser Eintreten für eine andere, eine sozialistische Gesellschaftsordnung.

Schließlich ist Freidenkern und Arbeiterfotografen in ihrer Arbeit der hohe Stellenwert von Aufklärung gemeinsam. Der Freidenkerverband betrachtet Aufklärung als die Hauptaufgabe seiner weltanschaulichen Tätigkeit.

Die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts war die Grundlage für die Entstehung einer Freidenkerbewegung diente mit ihrer Kritik der feudalen Ideologie und des religiösen Denkens der Emanzipation von den Fesseln der feudalabsolutistischen Ordnung. Die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) wollte Licht in die überkommene Dunkelheit der Unwissenheit, der Vorurteile und des Aberglaubens bringen.

Sie kämpfte gegen Mystik und jede Autoritätsgläubigkeit, für die Freiheit des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Denkens. Die Gesellschaftsordnung wurde nicht mehr als „gottgewollt“ hingenommen, sondern der Kritik der Vernunft unterzogen.

Betrachtet man die Situation heute, in der so genannten Informationsgesellschaft, klingen diese Worte nicht nur hochaktuell, sie sind es auch. Die heute auf der Welt herrschenden Zustände sprechen den Anliegen und Zielen der historischen Aufklärung Hohn.

Früher kämpften die Freidenker hauptsächlich gegen die Kirche, der im Zeichen der „Ehe von Thron und Altar“ die Aufgabe zufiel, für brave Untertanen zu sorgen. Heute hat die Kirche das Monopol für die Volksverdummung längst eingebüßt, verglichen mit der Wirkung der Massenmedien muss sie vor Neid erblassen.

Die Enteignung der Mehrheit und der Meinungsfreiheit

Ich soll über die „Enteignung von 99 Prozent der Menschheit – und die Methoden ihrer Absicherung“ sprechen, da musste ich den Einlader natürlich fragen, was er sich darunter vorstellt. Wie ich erwartet habe, ist bei der Enteignung an die Enteignung der Meinungsfreiheit gedacht. Dann soll ich nur noch eine Antwort geben, was man dagegen tun kann. Leicht gesagt.

Natürlich erinnert der Titel auch an das Motto „Wir sind die 99 Prozent“, das im Herbst 2011 anlässlich der Proteste von Occupy-Wall-Street entwickelt wurde und heute in vielen Protestbewegungen präsent ist. Jüngste Beispiele sind die Blockupy- und Umfairteilen-Proteste. Die 99% sollen darauf verweisen, dass es nur 1% der Bevölkerung ist, das ein Viertel aller Vermögenswerte besitzt, ein Umstand mit unmittelbaren Konsequenzen für die Lebensbedingungen der anderen 99 Prozent. Die „Enteignung von 99 Prozent“ führt uns also zu nächst zur ursprünglichen, nämlich materiellen Wortbedeutung.

In der Gesellschaft und weltweit verschärft sich die Spaltung zwischen Arm und Reich. Immer größerer Reichtum sammelt sich in den Händen Weniger, ein kleiner Teil der Weltbevölkerung verbraucht den Löwenanteil der weltweiten Ressourcen. Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut, haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und leiden an Hunger.

Die ökonomische Macht der größten 200 Konzerne ist fast doppelt so groß ist wie die von vier Fünfteln der Weltbevölkerung, der Reichtum von weltweit 587 Milliardären übersteigt das Bruttoinlandsprodukt der 135 ärmsten Länder der Welt.

Wirtschaftskrisen sind gekennzeichnet durch Entlassungswellen und steigende Massenarbeitslosigkeit, durch die Zunahme der Verelendung breiter Bevölkerungskreise und die rücksichtslose Bereicherung der Besitzenden. Armut betrifft besonders Kinder und Alleinerziehende, Armut trotz Arbeit und Armut im Alter sind nicht zuletzt durch die nach dem Kriminellen Hartz benannten Gesetze an der Tagesordnung.

Abschiebung in die Mülltonne der Demokratie

Holdger Platta, Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist, beschreibt diese Situation so: „Hartz IV hat millionenfach Mitmenschen abgeschoben auf einen fernen elenden Kontinent. Es stellt insofern nur noch eine optische Täuschung dar, dass diese Menschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen. In Wirklichkeit leben sie längst schon anderswo: in der Mülltonne unserer Demokratie, dort, wo längst schon unsere Verfassung gelandet ist.“ (1)

Die kapitalistische Gesellschaft grenzt immer mehr Menschen von der schöpferischen Gestaltung der Gesellschaft und des eigenen Lebensweges aus. Sie werden als „Überflüssige“ an den Rand gedrängt, aber zugleich als disziplinierende Konkurrenz gegen die noch Arbeitenden genutzt. Damit wird die Menschenwürde verletzt, die Solidarität untergraben und das Individuum zum ökonomischen Kostenfaktor, zum Objekt fremdbestimmter und fremdgesteuerter Verhältnisse degradiert.

Immer noch ist es die überwiegende Tendenz in der verbreiteten öffentlichen Meinung, Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit als individuelles Schicksal darzustellen, die Betroffenen als „selbst schuld“, als Versager zu diffamieren, damit sie bloß nicht auf die Idee kommen, dass an diesem System etwas faul sein könnte, und es in Frage zu stellen. Das ist eine typische „Methode der Absicherung“ der Verhältnisse – mittels Gehirnwäsche.

In dieser Situation wird gerne das Hohe Lied von der Eigenverantwortung gesungen, die modernisierte Variante von „jeder ist seines Glückes Schmied“, und die verlogene Parole vom „Fördern und Fordern“. Die andere Seite derselben Medaille ist die Denunzierung der DDR als vorsorglichen, vulgo bevormundenden Staat. So sind antikommunistische Reflexe wohlfeil und eine weitere „Methode der Absicherung“, wenn der vom Grundgesetz vorgeschrieben Sozialstaat entsorgt werden soll.

Unter der falschen Flagge von vermeintlichem ‚Individualismus‘ wird das Individuum entwertet. Aufklärung muss zeigen, dass man sich kollektiv wehren muss, um zur tatsächlichen Emanzipation des Individuums zu gelangen.

Allzweckwaffen aus der zionistischen Propagandaküche

Zu den Absicherungsmethoden gehört auch eine spezielle Art von Kritik, die uns bei den Occupy-Protesten, aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten begegnet, und mit der sowohl die Arbeiterfotografie wie die Freidenker konfrontiert sind. Sie wird beispielhaft durch den Alex Feuerherdt vorgetragen, Betreiber des zionistischen Internet-Blogs „Lizas Welt“, Autor bei „konkret“, dem Berliner „Tagesspiegel“, der „Jüdischen Allgemeinen“ und dem antideutschen Zentralorgan „Jungle World“. In letzterem schreibt er am 1. Dezember 2011 angesichts der Losung der „99%“: die Auffassung, die Welt werde „von einer kleinen Minderheit beherrscht“, trage verschwörungstheoretische und an antisemitische Theorien erinnernde Züge: “Der Antisemitismus der »Occupy«-Bewegung ist keine Randerscheinung, sondern ihr fest eingeschrieben – sowohl ihren Aktionen wie ihren Denkweisen.“ (2)

Die Vorwürfe der „Verschwörungstheorie“ und des „Antisemitismus“ haben sich in den letzten Jahren fast zu Allzweckwaffen entwickelt, um antikapitalistischen und systemkritischen Protest zu diffamieren und mundtot zu machen.

Zurück zu der entstehenden Protestbewegung selbst. Die occupy-Bewegung entstand 2011 und viele Beteiligte waren motiviert von dem im Oktober 2010 veröffentlichten Aufruf „Empört Euch!“ des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel. (3) In den ersten vier Monaten wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft.

Auch dieses Pamphlet wurde kritisiert – in Frankreichs „Libération“, weil „die Empörung eine folgenlose Form der Auflehnung und nur von kurzer Dauer sei“, im deutschen „Freitag“, weil – man ahnt es schon – Hessel im Sommer 2010 zum Boykott israelischer Waren aufgerufen habe. (4)

Kapital: Weltregierung ohne jede Kontrolle und Legitimation


Das Genre der Aufrufe zur Empörung ist seit einigen Tagen um ein Werk reicher –Konstantin Wecker und Prinz Chaos II haben einen “Aufruf zur Revolte” verfasst. Darin heißt es:

„In der wirklichen Welt regiert das Kapital der Konzerne. Die Anlageform öfter als die Schuhe wechselnd, kennt es keine dauerhafte Bindung an Länder, Völker, Staaten. Wo es sich in der realen Welt behindert sieht, nutzt es heute dieses, morgen jenes staatliche Gebilde für die ewig gleichen Zwecke eines weltweiten Klassenkampfs von oben. Denn heutzutage kontrollieren 147 Konzerne (viele Banken darunter) etwa 50 Prozent der Weltwirtschaft. Diese sind zum Teil auch noch wechselseitig miteinander verflochten. Angesichts der Tatsache, dass im Grunde alle Unternehmen wie auch Banken hierarchisch bis autoritär geführt werden, haben wir es mit einer sehr überschaubaren Anzahl von Menschen zu tun, die kaum den deutschen Bundestag füllen würde. Die globalen Top-Unternehmer stellen damit eine demokratisch völlig unkontrollierte Weltregierung ohne jede Legitimation dar!“

Diesem neuen Aufruf ist zu wünschen, dass er viele Menschen neu oder erneut in Bewegung bringt. Aber Die Frage ist und wird bleiben, ob die Proteste sich wieder erschöpfen und leerlaufen oder sich entwickeln und stärker werden. Das wird vor allem von der Zielgenauigkeit, und die von der Klarheit der Vorstellungen der Akteure abhängen.

Deshalb betrachten wir es als die Aufgabe von Aufklärung, grundlegende Kenntnisse über die Ursachen der empörenden Missstände und Krisenerscheinungen zu vermitteln.

Ausbeutung: eine Gesetzmäßigkeit im Kapitalismus

Damit komme ich noch mal auf den ursprünglichen Begriff der Enteignung zurück. Dabei handelt es sich nicht um einen Eigentumswechsel durch Raub oder Erpressung. Es handelt sich auch nicht um eine Forderung der 99% gegen das eine Prozent. Es handelt sich, wie die Marx’sche Formulierung von der „Expropriation der Expropriateure“ schon anzeigt darum, dass die ursprüngliche Enteignung durch das eine Prozent stattfindet. Genauer gesagt, durch die Eigentümer der Produktionsmittel.

Und die tun dies nicht, weil sie Sadisten, Nimmersatte oder sonst wie schlechte Menschen sind, sondern weil sie durch Notwendigkeit dazu getrieben werden. Notwendigkeit heißt: durch ökonomische Gesetzmäßigkeit. Auch das Wort „Ausbeutung“ ist im allgemeinen Sprachschatz weit verbreitet, sogar Päpste haben keine Scheu, es zu gebrauchen.

Nur als wissenschaftlichen Begriff der politischen Ökonomie scheuen sie, Kapitalismus-Apologeten wie Päpste, die Ausbeutung wie der von selbigen erfundene Teufel angeblich das Weihwasser. Ausbeutung ist halt eben keine verwerfliche Tat, gegen die man sich moralisch empören müsste. Auch sie ist eine Gesetzmäßigkeit, ohne die der Kapitalismus eingehen würde.

Von der Theorie des Mehrwerts zum Casino

Daher ist es unser Anliegen im Zusammenhang mit der Aufklärung, grundlegende Kenntnisse über ökonomische, gesellschaftliche und historische Kategorien zu vermitteln, wie eben auch die Theorie des Mehrwerts: Die Ausbeutung bedeutet die Aneignung unbezahlter Arbeit, und sie ist die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise.

Der Kapitalist kauft nicht die „Arbeit“ des Arbeiters, sondern dessen Arbeitskraft. Er kauft sie (durchschnittlich) zum vollen Wert, den die Arbeitskraft als Ware auf dem Warenmarkt hat. Ihr Wert bestimmt sich nach dem zu ihrem Unterhalt Notwendigen. Die Arbeitskraft und nur die Arbeitskraft hat die Fähigkeit, Mehrwert zu schaffen – indem das hergestellte Produkt mehr Wert repräsentiert, als der Kapitalist für Ware Arbeitskraft bezahlt hat. Durch Verkauf der Produkte wird der Mehrwert realisiert, und dieser Gewinn heißt Profit. Und der häuft sich in den Händen der Kapitalisten, die damit neue Maschinen kaufen, um Arbeiter entlassen zu können, oder aber die Produktion zu erweitern. Oder wenn sich mangels lohnender Absatzmöglichkeiten keine lohnenden Anlagemöglichkeiten finden, trägt man das Geld eben an die Börse, wettet auf sinkende Kaffee- und steigende Weizenpreise oder sonst was, das keine Wert repräsentiert.

Dann sprechen die Einen von Casino und die anderen von einer chronischen Überproduktions- und Überakkumulationskrise.

Der Illusion vorbeugen, Krisen seien das Ergebnis von Fehlern

Sie müssen schon entschuldigen, aber das mir vorgegebene Stichwort „Enteignung“ war zu verführerisch, als dass ich daran hätte vorbeigehen können, ohne zu verdeutlichen, was wir mit Aufklärung meinen. Hier geht es um eine Grundfrage freidenkerischer Weltanschauung. Frühere, so genannte ‚bürgerliche’ Freidenker waren der Überzeugung, man müsse nur die Naturgesetze propagieren, schon stürze das Dogmengebäude der Kirche zusammen, und der Mensch könne befreit einer hellen Zukunft entgegenstreben. Bei den sozialistischen Freidenkern lautet die Aufgabe, neben den Naturgesetzen anzuerkennen, dass es auch gesellschaftliche, geschichtliche Gesetze gibt. Sie wirken nicht automatisch, sondern die Menschen müssen sie erkennen und bewusst anwenden, um nach der Naturbeherrschung auch die gesellschaftliche Selbstbeherrschung zu erreichen.

Warenproduktion, Preisbildung, Produktivität, Wertgesetz und Profitrate müssten wie bei den sprichwörtlich „lesenden Arbeitern“ (das gab’s mal, bevor wir in der Informationsgesellschaft gelandet sind) wieder zu den selbstverständlichen Kenntnissen gehören. Nebenbei bemerkt: In den Gewerkschaften auch, aber halt eben auch bei den empörten Demonstranten.

Genauso kann man das Problem der Vertreibung der Mieter aus den letzten bezahlbaren Wohnungen nicht verstehen, ohne das Gesetz der kapitalistischen Grundrente begriffen zu haben. Insbesondere kann man keine grundlegende Lösung vorschlagen und umsetzen, wenn man nicht gegen dieses ökonomische Gesetz angeht.

Das betrifft auch das oft beklagte Übel der Verödung der Städte: Nur noch 99-Cent-Läden, Vodafone und Döner, Fielmann- und Kik-Filialen, aber keine handwerklichen Bäcker, Metzger oder Fachgeschäfte, die sich die Mieten noch leisten könnten.

Auch muss der Illusion vorgebeugt werden, bei den allgegenwärtigen Krisen handele es sich nur um das Ergebnis von Fehlern oder schlechter Politik. Wiederkehrende Finanz- und Spekulationskrisen gehören zur Geschichte und zum Alltag des Kapitalismus. Wirtschaftskrisen haben ihre Ursache im kapitalistischen Wirtschaftssystem, sie sind zugleich Ausdruck der tief greifenden historischen Krise des imperialistischen Herrschaftssystems.

Staat: Komplice bei der Vergewaltigung der Gesellschaft

Bis zu solchen Einsichten ist es für einen nennenswerten Teil der Bevölkerung noch ein weiter Weg. Als Beispiel möchte ich die Illusion über die Rolle des Staates nennen, die weit verbreitet ist. Dessen vermeintliche Neutralität hat Reinhard Opitz (1934-1986) in „Liberale Integration“ glänzend beschrieben:

„... Somit aber erweist sich auch der auf Nichteinmischung in die ökonomische Konkurrenz festgelegte liberale Staat gerade in dieser Enthaltsamkeit als Gewaltstaat, als die bloße politische Abschirmung oder als der bloße politische Komplice der Vergewaltigung der ganzen Gesellschaft durch das Lebensprinzip der kapitalistischen Klasse und damit durch diese selbst.

Derjenige Staat, der die Konkurrenz schützt und als eine ihm selbst unzugängliche, verbotene autonome Sphäre respektiert, respektiert die Ergebnisse der Konkurrenz als verbindlich für sich selbst und ist also auch von vornherein das Produkt der Sieger dieser Konkurrenz. Die Weigerung des liberalen Staats, korrigierend in die Konkurrenz einzugreifen und vor allem denjenigen Klassen, die mangels Kapitals nie von selbst etwas in ihr ausrichten können, Hilfestellung zu geben und ihnen die Herausbildung eigener Kampfformen zu gestatten, deren Perspektive in der allgemeinen Außerkraftsetzung des kapitalistischen Konkurrenzprinzips läge, kann nur der Widerschein der Zufriedenheit mit den tatsächlichen Ergebnissen der kapitalistischen Konkurrenz, also in die aktive Politik umgesetzte Auffassung der Sieger der Marktkonkurrenz selbst, somit der unmittelbare politische Ausdruck ihres und nur ihres Interesses sein.

Gerade in seiner Nichttätigkeit, seinem versteckten Respekt gegenüber der Autonomie des Marktes, auf den alle Klassen zusammengetrieben werden wie Viehherden, die zum Verkauf stehen und auf dem auch noch die marktfernste Klasse sich ihren Marktpreis um den Hals hängen und sich dem Kapital feilbieten muß, aber aufgesplittert in ihre einzelnen Mitglieder, ein jeder sein einzelner Verkäufer, enthüllt der liberale Staat seinen bis zu blutsaugerischer Grausamkeit gehenden Charakter als aktiver Gewaltstaat im Dienste der kapitalistischen Klasse.

Oder ist es nicht aktive Gewalttätigkeit, wenn die Arbeiter in den Tuchfabriken des einstigen Manchester oder die schlesischen Weber oder die Bergleute von Nordengland über Belgien und zu Lothringen bis zum Rheinlande mit ihren Familien vor Hunger verrecken, der Staat sich aber darauf ‚beschränkt’, das Gesetz zu schützen, nach dem diese Menschen hungern?“

Wie lässt sich für das Ausbeutungssystem eine Massenbasis erzeugen?

In „Liberalismus, Faschismus, Integration“ (Edition in drei Bänden. Herausgegeben von Ilina Flach und Rainer Rilling. Band I, Marburg: BdWi-Verlag 1999, S. 239.) sind aber auch weitere uns hier berührende Fragen aufgeworfen, z.B.: „Wie bekommt man für das Ausbeutungssystem eine ausreichende politische Massenbasis im eigenen Landes“?

Ausgehend von der Feststellung „Kapitalistische Integration ist Formierung“ folgert Opitz: „alle bürgerlichen Parteien sind … unbedingt auf die Gefolgschaft der nichtbesitzenden Klassen angewiesen“, und „Erst im Monopolkapitalismus, nachdem alle Relikte des noch für die liberale Phase des Kapitalismus kennzeichnenden Klassenwahlrechts beseitigt sind, behaupten sich die Unterdrücker dadurch, dass sie sich von den unterdrückten Klassen selbst wählen lassen“.

Leider lässt uns Opitz mit dem Problem, wie falsches Bewusstsein entsteht, allein, da er das Werk nicht vollendet hat. An dieser Stelle die Rolle der Bewusstseinsindustrie zu negieren, weil ja der Satz richtig bleiben muss „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, liegt m. E. daneben. Erstens dürfte es dann streng genommen überhaupt kein falsches Bewusstsein geben, und zweitens übersieht es ein Phänomen der marxistischen Entfremdungstheorie: Nach dem schon zur Frage der Ausbeutung beschriebenen Mechanismus wird das Arbeitsprodukt entfremdet, aber damit entfremdet sich auch der Produzent von sich selbst und auch von seinen Mitmenschen.

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom

Hier spätestens tritt die Bewusstseinsindustrie in Funktion mit der Aufgabe der Enteignung der Meinungsfreiheit und dem systematischen Abtrainieren des selbstständigen Denkens. Dabei macht man sich trickreich eine menschliche Eigenschaft zu nutze, nämlich jene, nicht mutwillig im Widerspruch und Konflikt mit seiner Umwelt und den Mitmenschen leben zu wollen. Dem kann man aber nur entgehen, wenn man dem Mainstream folgt. Hier setzt unsere schwierige Aufgabe ein zu vermitteln, dass nur tote Fische mit dem Strom schwimmen. (PK)


Fussnoten:

1 http://hinter-den-schlagzeilen.de/2013/07/11/hartz-iv-elend-und-ausburgerung-im-eigenen-land/
2 Das Volk gegen 1%, http://jungle-world.com/artikel/2011/48/44440.html
3 Stéphane Hessel: »Indignez-vous!« Indigène éditions; 28 S., 3€
4 http://www.zeit.de/2011/03/Stephane-Hessel


Hinweise:

Vortrag "Enteignung von 99 Prozent der Menschheit"
Teil 1: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19848
Teil 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19867

Vortrag "Fotografie als Waffe" von Anneliese Fikentscher
Teil 1: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19673
Teil 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19697
Teil 3: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19722
Teil 4: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19747
Teil 5: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19792
Teil 6: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19818

Vortrag "Die Medienkrieger" von Jürgen Rose
Teil 1: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19618
Teil 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19623

NRhZ zur Ausstellung "Wacht auf, Verdammte dieser Erde"
Fotogalerie 1: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19347
Fotogalerie 2: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19375

Dokumentation der Aktivitäten zum 35jährigen Bestehen des Bundesverbands Arbeiterfotografie: http://www.arbeiterfotografie.com/35jahre

Online-Flyer Nr. 438  vom 25.12.2013



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