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Die deutsche Beteiligung am Jugoslawien-Krieg war ein Völkerrechtsverbrechen
Serbien hatte keine Chance
Von Milan Starcevic
Als Deutschland 1999 - seit 1945 zum ersten Mal - in einen völkerrechtswidrigen Krieg einstieg, dessen Begründungen fatal an den von der SS fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz erinnerten, begann der NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Oberstleutnant a.D. Jochen Scholz aus dem Bundesverteidigungsministerium unternahm damals mit anderen Bundeswehrsoldaten einige vergebliche Versuche, die großen Tageszeitungen auf die Widersprüche zwischen der rot-grünen Regierungspropaganda und den offiziellen Papieren des Ministeriums aufmerksam zu machen. Dies blieb ohne Erfolg, wie er im folgenden Interview mit der serbischen Monatsschrift Geopolitika schildert.
Brennendes Ušće-Hochhaus während des
Bombardements der NATO 1999
Ich kann Ihnen kein genaues Datum nennen, zu dem die NATO-Staaten zum Krieg entschlossen waren. Vielmehr hat man sich bereits früh auf diese Option vorbereitet, falls Präsident Milosevic nicht auf die westlichen Bedingungen eingehen würde. Insofern hätte Serbien den Krieg nur vermeiden können, wenn es vor diesen Bedingungen kapituliert hätte. Der ehemalige Staatssekretär und langjährige, erfahrene Außenpolitiker Willy Wimmer (CDU) hat diese Frage bei einer Podiumsdiskussion einmal ganz trocken so beantwortet: „der Krieg war nicht zu vermeiden, weil er geführt werden sollte.“
Online-Flyer Nr. 444 vom 05.02.2014
Die deutsche Beteiligung am Jugoslawien-Krieg war ein Völkerrechtsverbrechen
Serbien hatte keine Chance
Von Milan Starcevic
Als Deutschland 1999 - seit 1945 zum ersten Mal - in einen völkerrechtswidrigen Krieg einstieg, dessen Begründungen fatal an den von der SS fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz erinnerten, begann der NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Oberstleutnant a.D. Jochen Scholz aus dem Bundesverteidigungsministerium unternahm damals mit anderen Bundeswehrsoldaten einige vergebliche Versuche, die großen Tageszeitungen auf die Widersprüche zwischen der rot-grünen Regierungspropaganda und den offiziellen Papieren des Ministeriums aufmerksam zu machen. Dies blieb ohne Erfolg, wie er im folgenden Interview mit der serbischen Monatsschrift Geopolitika schildert.
Brennendes Ušće-Hochhaus während des
Bombardements der NATO 1999
Quelle: wikipedia
Milan Starcevic: Von 1995 bis 2000, in der Zeit, als der Kosovo Krieg ausbrach und beendet wurde, waren Ihnen als Referent des Bundes-ministeriums der Verteidigung viele versteckte Informationen zur diesem Thema zugänglich. Wann hat die NATO beschlossen, Serbien zu bombardieren? Konnte Serbien auf irgendwelche Art den Luftkrieg vermeiden? Vielleicht durch den Rambouillet-Vertrag?
Jochen Scholz: Der NATO-Rat hat am 13. Oktober 1998 die sogenannte „Activation Orders“ für einen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien autorisiert. Diese wurden am 27.10.1998 als Druckmittel gegen Serbien für unbestimmte Zeit aufrechterhalten. Die militärischen Planungen für diesen Luftkrieg waren jedoch bereits im Sommer 1998 abgeschlossen. Zu diesen Planungen gehörte auch die Festlegung der anzugreifenden Ziele. Dies lässt darauf schließen, dass die Führungsmacht der NATO, die USA, bereits wesentlich früher zur Anwendung militärischer Gewalt entschlossen war.
Im Frühjahr und Sommer 1998 gab es in Deutschland in der von Bundeskanzler Helmut Kohl geführten christlich-liberalen Koalition zu einem militärischen Vorgehen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zwei unterschiedliche Positionen. Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) plädierte für ein Eingreifen ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrates, Außenminister Klaus Kinkel hielt ihn hingegen für zwingend erforderlich. Mitte August gab er allerdings seine Position auf und schwenkte auf die Rühe-Position ein.
Jochen Scholz - Oberstleutnant a.D. aus dem Bundesverteidigungsministerium
Jochen Scholz - Oberstleutnant a.D. aus dem Bundesverteidigungsministerium
Quelle: freundschaft-mit-valjevo.de
Ich kann Ihnen kein genaues Datum nennen, zu dem die NATO-Staaten zum Krieg entschlossen waren. Vielmehr hat man sich bereits früh auf diese Option vorbereitet, falls Präsident Milosevic nicht auf die westlichen Bedingungen eingehen würde. Insofern hätte Serbien den Krieg nur vermeiden können, wenn es vor diesen Bedingungen kapituliert hätte. Der ehemalige Staatssekretär und langjährige, erfahrene Außenpolitiker Willy Wimmer (CDU) hat diese Frage bei einer Podiumsdiskussion einmal ganz trocken so beantwortet: „der Krieg war nicht zu vermeiden, weil er geführt werden sollte.“
Sieht man sich den Verlauf und die Art und Weise an, in der die Verhandlungen in Rambouillet geführt wurden, wird klar, dass sie Scheinverhandlungen waren, die auf ein Scheitern angelegt waren. Glasklar wird dies, wenn man den bis zum Schluss der Verhandlungen vor der serbischen Delegation geheim gehaltenen Annex B des Vertragsentwurfs ansieht. Er sollte den Status der zur Implementierung des Vertrages vorgesehenen „Kosovo Forces“ (KFOR) regeln. Die Bestimmungen des Annex wären einer Besetzung Serbiens gleichgekommen. Sie waren für einen souveränen Staat unannehmbar. Nach Kriegsbeginn wurde dieser Teil des Vertragsentwurfs vom Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer (SPD) - einem Kriegsgegner - Anfang April 1999 der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt. Der Journalist Andreas Zumach berichtete darüber in der Tageszeitung „taz“ (1)
Nein, Serbien hatte keine Chance. Erschwerend kam in dieser Zeit hinzu, dass Russland durch drei Dinge geschwächt war: den Preisverfall für Öl, die unter Anleitung der sog. „Chicago Boys“ ruinierte russische Wirtschaft sowie einen Präsidenten, der nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte war.
Fielen die Bomben auf Serbien wegen der Vertreibung der Albaner oder hatte die Internationale Gemeinschaft (besser gesagt die USA) andere Pläne?
Die angebliche Vertreibung der Albaner war lediglich ein Vorwand, ich komme noch darauf zurück.
Die Pläne der USA und in deren Gefolge auch der EU waren und sind bis heute eine Konsequenz aus dem Ende des Ost-West-Konflikts. Ihre Leser werden sich an das triumphale „Ende der Geschichte“ des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama erinnern. Mit dem Zusammenbruch des Systems der Warschauer Vertragsstaaten hatte das stets mit Wohlwollen bedachte blockfreie Jugoslawien aus Sicht des Westens seine geopolitische Rolle erfüllt. Jetzt drohte es jedoch zu einem Hindernis zu werden für beide Erweiterungsvorhaben, die der EU (mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und Interessen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands) und die der NATO. Sein ökonomisches System der Arbeiterselbstverwaltung passte nicht zu dem neoliberalen Wirtschaftskurs, dem sich die EU verschrieben hat. Dieser Kurs deckt sich mit den Bedingungen („Konditionalitäten“), nach denen der Internationale Währungsfond (IWF) Kredite an Staaten vergibt, bekannt unter dem Fachbegriff „Washington Consensus“. Er beinhaltet Kürzung der Staatsausgaben, Abbau von Handelsbeschränkungen zur Marktöffnung für ausländisches Kapital, Abwertung der Währung, Deregulierung, Privatisierung, Subventionsabbau. Diese Schocktherapie begann in Jugoslawien 1990 im Rahmen einer Vereinbarung mit dem IWF und der Weltbank, deren ökonomische Folgen die Grundlage für die Zentrifugalkräfte der jugoslawischen Teilrepubliken legte. Der kanadische Ökonom Michel Chossudovsky hat dies in einem Kapitel seines Buches „The Globalisation of Poverty. Impacts of IMF and World Bank Reforms“ ausführlich beschrieben. Dass interessierte Kreise in derartig belastenden Situationen ethnische Stereotypen bedienen, ist nichts Neues. Aktuell spielt sich Vergleichbares im Süd-Sudan ab.
Die Erweiterung der NATO nach Osten ist Konsequenz der gut einhundert Jahre alten geopolitischen Konstante der angelsächsischen Mächte, den eurasischen Doppelkontinent zu beherrschen. (Vgl. Halford Mackinder „The Geographical Pivot of History“, 1904 und 1919). Das Ziel ist, die NATO möglichst nah an die Grenze der Russischen Föderation zu bringen. Willy Wimmer hatte im Jahr 2000 an einer außenpolitischen Konferenz teilgenommen und über deren Diskussionsthemen den damaligen deutschen Bundeskanzler, Gerhard Schröder (SPD) in einem Brief mit einer eigenen Bewertung informiert. Die englische Fassung kann hier nachgelesen werden: (2) Die deutsche Fassung des Briefes befindet sich in meinem Besitz, ich hänge sie als Datei beim Versenden meiner Antworten an.
Der Krieg in der serbischen Provinz war auch ein Propaganda- Krieg, der zeigen sollte, dass die Bomben auf Serbien zu Recht flogen. Welche Erfahrungen haben Sie in diesen Bereich gesammelt?
Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) hat 1999 eine regelrechte PR-Schlacht geschlagen, indem er ein spezielles Pressezentrum im damals noch in Bonn befindlichen Ministerium einrichtete, von dem aus er täglich Pressekonferenzen abhielt. Deren Ziel war es, der serbischen Seite die gesamte Schuld für den Konflikt zuzuweisen. Er tat dies mehrfach mit aus der Luft gegriffenen Behauptungen und hatte auch keine Hemmungen, Beweise produzieren zu lassen. Ein Beispiel ist der angebliche „Hufeisenplan“ des serbischen Generalstabes, mit dem die Albaner aus dem Kosovo vertrieben werden sollten, ein anderes ein angebliches Konzentrationslager in Prizren. Unter der Hand sprach man damals im Ministerium von „Rudis Gräueltruppe“, die solche Beweise fabrizierte. In der TV-Dokumentation des Westdeutschen Rundfunks (WDR) „Es begann mit einer Lüge“ (3) wurde Scharping sogar überführt, durch eine Lüge über den Einsatz von Gas in Häusern im Kosovo die Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt zu haben.
Mit ganz wenigen Ausnahmen hat die deutsche Presse diese offizielle Propaganda geschluckt und ihrerseits weiter Öl ins Feuer gegossen, um eine militärische Intervention aus humanitären Gründen vor der Bevölkerung zu rechtfertigen. Diese Berichterstattung und Kommentierung im Sinne der transatlantischen Beziehungen geht letztlich bis auf die Vergabe der Zeitungslizenzen nach 1945 in den westdeutschen Besatzungszonen zurück. In den folgenden Jahren setzte eine intensive Beziehungspflege (wie in Politik, Wissenschaft und Kultur) bei einflussreichen Journalisten, Herausgebern und Chefredakteuren mit Hilfe transatlantischer Netzwerke ein, die eine Art transatlantisches Familienbewusstsein entstehen ließ, das bis heute anhält.
Parallel hierzu gab es jedoch objektive Lageberichte aus demselben Verteidigungsministerium, die anhand der Quellen des Auswärtigen Dienstes, der deutschen Militärattachés und des Bundesnachrichtendienstes erstellt wurden. Zum Beispiel die „Unterrichtung(en) des Parlaments“, die den Spitzen der Fraktionen im Deutschen Bundestag und dem Verteidigungsausschuss sowie dem Auswärtigen Ausschuss wöchentlich zugeleitet wurden. Sie befassten sich mit der Lage der Bundeswehr in den Einsatzgebieten und zeichneten ein objektives Bild von der Lage im Kosovo. Diese Berichte waren mit der untersten Geheimhaltungsstufe „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ versehen, bei Amerikanern und Engländern wäre dies vergleichbar mit „Restricted“. Ich habe diese Unterrichtungen wöchentlich gelesen, seit sich die Krise um Kosovo zuspitzte. Niemals wurde dort von „Vertreibung“ geschrieben, sondern von „Flüchtlingen“, was bekanntlich ein fundamentaler Unterschied ist. Niemals wurde der Vorwurf „ethnische Säuberung“ oder gar „Völkermord“ erhoben. Die Lage wurde stets als Bürgerkrieg bezeichnet, unter dem alle ethnischen Gruppen gleichermaßen litten, eine einseitige Schuldzuweisung an die serbische Seite fand zu keinem Zeitpunkt statt. Bridadegeneral a. D. Dr. Heinz Loquai war von 1995 bis 2000 als deutscher militärischer Vertreter im Lagezentrum der OSZE in Wien eingesetzt. Wegen seiner Kritik an der deutschen Beteiligung am Krieg wurde er von Verteidigungsminister Scharping abberufen, obwohl die OSZE sich für sein Verbleiben eingesetzt hatte. Loquai zitiert in seinem Buch „Wege in einen vermeidbaren Krieg“ aus der Lagebeurteilung des damaligen „Amt(es) für Nachrichtenwesen der Bundeswehr“ vom 23. März 1999, das war ein Tag vor Kriegsbeginn: „Im Kosovo sind weiterhin keine Tendenzen zu ethnischen Säuberungen feststellbar“. Weiterhin nicht!
Im Ministerium gab es eine Reihe von Gleichgesinnten, die es nicht einfach hinnehmen wollten, dass sich unser Land seit 1945 zum ersten Male an einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligt, dessen Begründungen noch dazu fatal an den Sender Gleiwitz erinnerten. Gemeinsam haben wir einige vergebliche Versuche unternommen, die großen Tageszeitungen auf die Widersprüche zwischen der rot-grünen Regierungspropaganda und den offiziellen Papieren des Verteidigungsministeriums aufmerksam zu machen. Leider blieb dies ohne Erfolg, was angesichts der oben geschilderten Verhältnisse in den deutschen Medien nicht verwundert.
Wie sehen Sie die Rolle der Deutschen Regierungen im Jugoslawien- Krieg? Bonn hat als erster Staat Kroatien und Slowenien, später auch Kosovo anerkannt und auch Krieg gegen Serbien geführt.
Die deutsche Regierung war insgesamt zu Beginn der 1990er Jahre sehr stark mit der Bewältigung der Folgen der Vereinigung der beiden deutschen Staaten beschäftigt, was erhebliche Kräfte absorbierte. Meine Interpretation ist, dass sich einzelne Kräfte innerhalb der Bundesregierung dies zunutze machten, um den verhängnisvollen Kurs der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens einzuschlagen. Interessanterweise verliefen die damaligen Konfliktlinien in dieser Frage zwischen Deutschland (und Österreich) auf der einen Seite sowie Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite entlang der jeweiligen außenpolitischen Traditionen, die über hundert Jahre zurückreichen. Das Vorpreschen der Regierung Kohl/Genscher bei der Anerkennung, gegen den Rat des damaligen UNO-Generalsekretärs Perez de Cuellar, hat nach meiner Einschätzung als eine Art Brandbeschleuniger auf dem Balkan gewirkt. Gleichwohl kann man dies in die Kategorie politischer Fehler einordnen. Für den Kurs jedoch, den die 1998 neu gewählte Bundesregierung aus SPD und Grünen einschlug, wäre das Wort „Fehler“ eine Verniedlichung. Die Beteiligung am Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war ein Völkerrechtsverbrechen. Aus hochrangigen Quellen wissen wir, dass es eine deutsche Beteiligung unter Bundeskanzler Kohl nicht gegeben hätte. Er war 1945 fünfzehn Jahre alt und wusste noch aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet. Deswegen unterstützte der amerikanische Präsident Clinton im Bundestagswahlkampf 1998 die SPD, die eine Koalition mit den Grünen anstrebte. Bereits im Frühsommer 1998 empfing er den Kanzlerkandidaten Schröder und den späteren grünen Außenminister Fischer in Washington. Dabei legte er beide auf den Kriegskurs fest. Die Rechnung ist bekanntlich aufgegangen. Willy Wimmer hat auf den Punkt gebracht, wie der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einzuordnen ist: „Was der Reichstagsbrand von 1933 für die nachfolgende Entwicklung Deutschlands und der Weltgeschichte bis 1945 war, ist der 24. März 1999 für die Entrechtlichung der Internationalen Beziehungen.“ Zu diesem Zivilisationsbruch hat mein Land aktiv beigetragen. Der 24. März 1999 ist deswegen für mich ein Tag der Schande. Denn das moderne Völkerrecht hat seine Wurzeln im Frieden von Münster 1648.
Als langjähriger NATO-Offizier, sagen Sie uns bitte Ihre Meinung über das Westlichen Militärbündnis?
Die NATO hatte ihre Berechtigung als Instrument der militärischen Abschreckung, und damit Kriegsverhinderung, bis zur Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation. Die USA haben sie seit Beginn der 1990er Jahre in ein Instrument ihrer geopolitischen Machtprojektion umgewandelt. Die europäischen Mitglieder haben dem keinen Widerstand entgegengesetzt. „Seit 1999 zieht die NATO eine Blutspur hinter sich her.“ Das ist ein weiteres Zitat von Willy Wimmer.
Nach NATO-Kriegen gegen viele Länder im letzten Jahrzehnt, gibt es immer mehr die Meinung, dass die NATO eine große Gefahr für den Frieden ist. Sind Sie damit einverstanden?
Das ist leider nicht von der Hand zu weisen, denn es liegt in der Natur ihres neuen Charakters, der für die übrige Welt 1999 klar zu Tage getreten ist. Einen Monat nach Kriegsbeginn, am 24. April 1999, wurde in Washington das damals neue strategische Konzept beschlossen, mit dem sich die NATO als Interventionsbündnis definierte, das sich sogar über Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrates hinwegsetzen würde. Dies war ein klares Signal an alle Staaten außerhalb der NATO, sich dem Willen der Führungsmacht zu beugen, andernfalls habe man mit einem militärischen Eingreifen zu rechnen, siehe Jugoslawien.
Wo liegt der Grund, dass Europa und auch Deutschland strikt Angelsächsische Kriegsbedürfnisse durchführen?
Da Großbritannien sein verlorenes Empire mit absoluter Unterordnung unter amerikanische Wünsche zu kompensieren versucht („special relationship“), lasse ich es bei meiner Antwort außen vor. Die beiden Staaten, die Europa aus der amerikanischen Umklammerung lösen und das europäisch-amerikanische Verhältnis auf eine gleichberechtigte Grundlage stellen könnten, wären Frankreich und Deutschland. Hierfür eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, ist jedoch aus historischen Gründen schwierig. Frankreich hat seit der Teilung des Karolingerreiches im Jahr 843 versucht, seinen Einfluss auf die Gestaltung Europas zur Geltung zu bringen und sieht Deutschland als Konkurrenten. Die offizielle deutsch-französische Freundschaft kann darüber nicht ganz hinwegtäuschen. Überdeutlich wurde dies letztmalig bei Mitterands Widerstand gegen die deutsche Vereinigung. Helmut Kohl zahlte den Preis für Frankreichs Unterschrift unter den Zwei-Plus-Vier-Vertrag in Form seiner Zustimmung zur Einführung der gemeinsamen Währung Euro.
Auf deutscher Seite muss man sehen, dass die USA nach 1945 eine äußerst geschickte Politik in der alten Bundesrepublik betrieben haben. Sie führte zu einer Grundstimmung bei den Einflusseliten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien, die sich in dem Begriff der „transatlantischen Wertegemeinschaft“ spiegelt und die bis heute tonangebend ist. Dass europäische Interessen nicht unbedingt deckungsgleich mit den US-amerikanischen sind, ist noch wenig akzeptiert. Hier wirkt die Prägung durch den Kalten Krieg noch fort. Sehr deutlich zeigt sich dies immer wieder bei der mehrheitlich vertretenen Haltung gegenüber Russland. Ansätze zu einer eigenständigeren deutschen Politik sind jedoch durchaus vorhanden. Denken Sie an Irak 2003 und Libyen 2011.
Der Syrien Konflikt hat gezeigt, dass es gegen die NATO (angeführt von Amerika) starken Gegenwind gibt, angeführt von Russland mit Chinas Unterstützung. Kann die Weltbevölkerung deshalb, wenn es um die Konflikte geht, jetzt ruhiger in die Zukunft blicken?
Das unter Präsident Putin wieder erstarkte Russland und der zunehmende Einfluss Chinas können der Welt insgesamt nur gut tun. Mehrere Machtzentren sind ein adäquates Gegenmittel, um die Hybris eines sich als Hegemon verstehenden Amerikas zu dämpfen. Ich hoffe, dass die klugen Köpfe in den USA begreifen, dass eine multilaterale Welt auch ihrem Land mehr nützt, als die Anstrengungen, die Dominanz um jeden Preis aufrechtzuerhalten.
Kann die derzeitige ungewisse Finanz- und Politische Krise in der Welt, wo es immer mehr Arbeitslose gibt, ein Zündstoff sein für die großen Unruhen? Wo ist der Brennpunkt: Amerika oder Europa?
Das ist keineswegs auszuschließen, wenn man nach Griechenland, Portugal, Spanien und auch Italien blickt. Den Brennpunkt sehe ich eher in Europa, weil hier, im Gegensatz zu den USA, der Sozialstaat als politisches Prinzip seit langem im Bewusstsein der Völker verankert ist. In Deutschland ist er sogar Verfassungsprinzip. Im Übrigen haben die USA noch einen gewaltigen Vorteil gegenüber Europa, denn sie stellen mit dem Dollar die Weltleitwährung. Dies gibt ihnen ganz andere Möglichkeiten in die Hand, mit Wirtschaftskrisen umzugehen. Für die Lösung der Krise des Euro gibt es im Übrigen Vorschläge, die jedoch von interessierter Seite diskreditiert werden. Als Beispiel möchte ich Professor Wilhelm Hankels Vorschlag des „Föderalen Euro“ anführen. Auf seiner Website hat er ihn in konzentrierter Form erläutert. (4)
Wie beurteilen Sie die derzeitige politische und wirtschaftliche Situation in EU? Steht die EU am Scheideweg?
Politisch ist die EU aus meiner Sicht in zweifacher Hinsicht gefährdet. Erstens durch den Einfluss der USA auf die Brüsseler Institutionen. Der englische „Telegraph“ dürfte hierzu wohl durchaus zitierfähig sein, ohne dass man mir Paranoia vorwirft. (5)
Zweitens durch die Bestrebungen, im Geiste von Jean Monnet eine zentralistische EU zu schaffen, indem die Mitgliedstaaten in einem schleichenden Prozess ständig mehr Souveränitätsrechte an die demokratisch unzureichend legitimierte EU-Kommission abgeben. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat hier allerdings 2009 im Urteil zum Vertrag von Lissabon eindeutige Grenzen für mein Land gezogen. (6)
Wirtschaftlich muss sich die EU vom vorherrschenden, auf den Prinzipien des „Washington Consensus“ beruhenden neoliberalen Kurs verabschieden und die Probleme in der Eurozone lösen. Ich persönlich könnte keinem Land raten, unter den gegenwärtigen Bedingungen der EU beizutreten.
Hat die EU eine Alternative? Was sagen Sie zu den Gerüchten über die Gründung einer Eurasischen Union?
Die Staaten der EU müssen begreifen, dass der Status des Vasallen (diese Klassifizierung der US-Verbündeten stammt nicht von mir, sondern von Zbigniew Brzezinski) der USA nicht geeignet ist, die eigenen Interessen in der Welt wahrzunehmen. Davon sind wir jedoch noch sehr weit entfernt. Präsident Putin verfolgt den Plan, ehemalige Republiken der Sowjet-Union unter einem neuen Dach zu vereinen. In Verbindung mit der Shanghai Cooperation Organization (SCO) könnte so ein Gegengewicht geschaffen werden zu den Bemühungen der USA, Eurasien von allen Seiten buchstäblich einzukesseln. Welchen Namen man neuen politischen Konstellationen gibt, ist ja eher zweitrangig. Entscheidend für mich ist die Schaffung eines Zustandes, in dem die Staaten und Völker unseres Doppelkontinents ihre Angelegenheiten als gemeinsame begreifen und Institutionen schaffen, in denen sie friedlich, kooperativ und vor allem ohne Einmischung von außen verhandelt werden. Vor über dreihundert Jahren hat sich darüber bereits der deutsche Philosoph, Mathematiker und Diplomat Gottfried Wilhelm Leibniz Gedanken gemacht. Sie sind hochaktuell. (PK)
Jochen Scholz, Oberstleutnant a. D., schlug nach dem Abitur 1962 die Offizierlaufbahn in der Luftwaffe (nicht-fliegendes Personal) ein. Neben den verschiedensten Truppen- und Stabsverwendungen vertrat er Deutschland zwölf Jahre in politischen NATO-Gremien und diente sechs Jahre in multinationalen Stäben der NATO im In- und Ausland. Die letzten sechs Dienstjahre arbeitete er im Bundesministerium der Verteidigung in Bonn. Im März 2000 wurde er pensioniert. Ein privat neben dem Dienst begonnenes Studium der Geschichte, 1974 bis 1978, konnte er wegen Versetzung auf einen anderen Dienstposten nicht abschließen. Er schreibt zurzeit ein Buch mit dem Arbeitstitel „Das amerikanische Jahrhundert, 1944 bis?“
Das Interview erschien im Januar in der serbischen Monatsschrift Geopolitika
Das Interview erschien im Januar in der serbischen Monatsschrift Geopolitika
Online-Flyer Nr. 444 vom 05.02.2014