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Literatur
Operation Taubenhaus – ein Kriminalroman von CarlOtto
„Fahr zur Hölle“
Ein Buchtipp von Harry Popow
Wir schreiben August 1947. „Fahr zur Hölle“, schmettert ein sowjetischer Offizier einer Frau hinterher. Sein wütender Ausruf gilt einer Bestie, die im II. Weltkrieg als SS-Aufseherin im Konzentrationslager Belizi (Außenlager des Frauen KZs Ravensbrück) Mitschuld trägt am Tod von 256 Häftlingsfrauen. Eben noch sollte sie erschossen werden, da kommt der Befehl von ganz oben: Stopp, Sibirien statt Tod! Sie verbüßte zehn Jahre Haft in sowjetischen Lagern und Gefängnissen der Staatssicherheit.
Online-Flyer Nr. 454 vom 16.04.2014
Operation Taubenhaus – ein Kriminalroman von CarlOtto
„Fahr zur Hölle“
Ein Buchtipp von Harry Popow
Wir schreiben August 1947. „Fahr zur Hölle“, schmettert ein sowjetischer Offizier einer Frau hinterher. Sein wütender Ausruf gilt einer Bestie, die im II. Weltkrieg als SS-Aufseherin im Konzentrationslager Belizi (Außenlager des Frauen KZs Ravensbrück) Mitschuld trägt am Tod von 256 Häftlingsfrauen. Eben noch sollte sie erschossen werden, da kommt der Befehl von ganz oben: Stopp, Sibirien statt Tod! Sie verbüßte zehn Jahre Haft in sowjetischen Lagern und Gefängnissen der Staatssicherheit.
Und dann geschah das Unglaubliche: Sie wurde im Jahre 1992 – zwei Jahre nach der Konterrevolution in der DDR – von der BRD-Justiz rehabilitiert. Sozusagen geadelt, nachträglich. Dazu noch mit 63.350 DM Entschädigung belohnt. Man bezeichnet sie nunmehr als Opfer des Stalinismus. Typisch für die Nachwendezeit! Empörung macht sich schnell breit gegen diesen politischen Fehlschlag der Nachwende-Justiz. Doch das ehemalige Monster wiegt sich in Unschuld und Geborgenheit.
Wir schreiben das Jahr 1995 – sie wird tot aufgefunden. In einem Taubenhaus im Fläming. Nun wäre eine Geschichte fällig, in der der Mord aufgeklärt werden müsste. Ein Racheakt? Ein grausamer, politisch motivierter Sühnemord? Wer war der Mörder? Diese Fragen allein würden im Mittelpunkt stehen in einem Krimi, der über die gesellschaftlichen Zustände hinwegsehen würde. Also in einem superreinen Spannungskrimi.
Nicht so der Autor CarlOtto in seinem Buch „Operation Taubenhaus“. Er, der 1937 im sächsischen Grimma geborene und seit 1987 in Potsdam lebende freischaffende Schriftsteller. holt weit aus in der Geschichte und beschreibt auf 379 Seiten und in 21 Kapiteln akribisch genau die Hintergründe der „Arbeit“ der SS-Bestie, die Schreckensherrschaft der Gestapo, die Zeit in Gefängnissen der faschistischen Diktatur, die Gräueltaten in den KZ-Lagern, aber auch den Mut und die Widerstandskraft der KZ-Häftlinge.
So wird selbst den jüngeren Lesern deutlich, dass die Wittenbergerin Margot Kunzinger-Pieske zu Recht ihre Strafe abgesessen hat und zu großem Unrecht von der Justiz als politisch Verfolgte hochgejubelt wird.
Bleibt die Frage nach dem Mörder, der einen Racheakt, einen Sühnemord begangen haben könnte.
Der Verdacht fällt auf einen Sohn einer einstigen Häftlingsfrau, der belgischen Baronin Marie del Amere, die 1944 anstelle ihres Mannes, Jean, der als General der belgischen Untergrundarmee gegen die Faschisten kämpfte, als Geisel der Gestapo verhaftet wurde. CarlOtto charakterisiert die sich als unpolitisch bezeichnende Dame sehr warmherzig, die selbst in den Märchen stets das Gute gesehen hatte und dies auch ihren Kindern vermittelte. Selbst in den faschistischen Gefängnissen und Lagern findet sie Kraft, den Mithäftlingen Mut zuzusprechen. Sie stirbt 1944 an den Folgen der Haft und der Misshandlungen. Was Wunder, dass ihr Sohn Patrick – nachdem er von der Rehabilitierung der KZ-Aufseherin hört, auf Rechenschaft setzt.
Zweifellos, dieser Krimi ist spannend aus zweierlei Gründen: Erstens fragen sich die Leser, wie es kommt, dass die brutale SS-Aufseherin sozusagen nachträglich von den neuen deutschen Kapitalmachthabern aufs Ehrenpodest gehoben wird und zweitens, ob Patrick tatsächlich den Mord an Margot Kunzinger-Pieske, der Aufseherin seiner Mutter, begangen hat.
Beantwortet wird die erste Frage während einer Leserversammlung, organisiert von der Gedenkbibliothek, auf der die Bestie ihre in ihrem Buch festgehaltenen „Erinnerungen“ feilbieten wollte. Gereinigt von allen Untaten, von aller Schuld befreit. Ein Journalist funkt empört dazwischen: „...weshalb die Autorin ihre Rolle als SS-Aufseherin so verharmlose und die wahren Ursachen für ihre Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal schlichtweg ausblende.“ (S. 357) Darauf die Mitarbeiterin der Gedenkbibliothek: Der Journalist verdrehe die Tatsachen, das sei keine Wahrheitssuche, im Übrigen gehöre das nicht zum Thema des Lesenachmittags. Patrick frohlockte, der Journalist hatte ihm aus dem Herzen gesprochen. Und nun war er an der Reihe, sprang auf und schilderte das Martyrium seiner Mutter im Konzentrationslager, forderte die SS-Aufseherin auf, ihre Schuld einzugestehen und sich bei ihren Opfern zu entschuldigen. (S 358) Man gab den Ordnungskräften ein Zeichen. Patrick fand sich Sekunden später auf den harten Steinen des Bürgersteiges wieder.
Den Gegensatz zwischen Tätern und Opfern während des Faschismus schildert der Autor besonders eindrucksvoll durch seine sprachlich gekonnten menschlichen Charakterisierungen sowie die ungebrochene Würde der Häftlinge in ihrem Verhältnis zueinander und auch zur Natur. Ebenso hervorhebenswert die treffende Schilderung der Motive der handelnden Personen. So heißt es auf Seite 139: Nicht wissen konnte die Baronin (es handelt sich um das Lager Ravensbrück), „dass akademisch gebildete Wirtschaftsprofessoren der Rüstungsindustrie aus puren Gewinngründen die durchschnittlich zu erwartende Lebensfrist ihrer Arbeitssklaven auf lediglich sechs Monate kalkulierten.“ Als „wertlosen Abschaum“ bezeichnete ein Oberscharführer die auf einem Marsch befindlichen ausgehungerten und entkräfteten Häftlingsfrauen. (S. 371)
Offen bleibt die Frage: Wer aber war der Mörder? Doch dies sei hier nicht verraten, soviel aber steht fest: Der Autor – sprich die fiktiven und tatsächlichen Vorgänge – lassen den Leser wiederholt vor Überraschung staunen.
Besonders für Leser der jüngeren Generation ist dieser Kriminalroman des Schriftstellers CarlOtto eine Fundgrube des Wissens über faschistische Mordtaten sowie über die kriminellen Justiztaten der Bundesrepublik, indem sie alle Errungenschaften der DDR vor den geistigen Augen der Leute verglühen lässt, mit dem Totschlaginstrument des sogenannten Stalinismus die Untaten des Faschismus vergessen machen will und so die Geschichte fälscht.
Wer Geschichte ignoriert und sämtliche Alternativen zum herrschenden Kapital in Grund und Boden verbannen will, neuerlich nach einer Neuvermessung der Welt schreit, ja, sich auch mit militärischer Gewalt neues Terrain für Absatz und Profitmaximierung verschaffen will, dem sei ebenfalls zuzurufen: „Fahr zur Hölle!“ (PK)
CarlOtto: „Operation Taubenhaus“, Gebundene Ausgabe: 384 Seiten, Verlag: Edition Märkische Reisebilder; Auflage: 1 (29. Oktober 2012) , ISBN-10: 3934232582 , ISBN-13: 978-3934232587
Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com
Online-Flyer Nr. 454 vom 16.04.2014