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Anlässlich der Heiligsprechung von zwei päpstlichen Vorgängern in Rom am 27.4.
Franziskus – „Papst der Armen“?
Von Gabriele Röwer

Papst Franziskus sprach am Sonntag, dem 27. April, dem „Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit", gleich zwei seiner Vorgänger heilig, den ersten nicht-italienischen Papst Johannes Paul II und Johannes XXIII. Der 1920 in der südpolnischen Kleinstadt Wadowice geborene Karol Józef Wojtyla hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass der kommunistische Osten in sich zusammenfiel. Hunderttausende Gläubige hatten sich auf und rund um den Petersplatz versammelt, um neben dem Polen auch den Norditaliener und Reformer Johannes XXIII. zu feiern, der als Angelo Giuseppe Roncalli 1881 in Sotto il Monte, Provinz Bergamo geboren wurde. Den folgenden Artikel hat Gabriele Röwer in der Zeitschrift MIZ 2/13 veröffentlicht.
 
Am 13. März 2013 wurde Jorge Mario Bergoglio, geboren 1936, zum Papst gewählt – gewiss nicht zufällig, wie zu zeigen ist, der erste „Franziskus“ in diesem Amt, der erste Lateinamerikaner italienischer Abstammung, der erste Jesuit auch. Eingetreten bereits 1958 in diesen größten Männerorden der Welt mit den Idealen eines Bettelordens, der über ein Milliardenimperium mit etlichen Aktienpaketen multinationaler Konzerne verfügt(1) und in dem ein Gelübde zudem das Anstreben hoher Ämter verbietet, wirkte er von 1973 bis 1979 als Provinzial der argentinischen Provinz. Priester seit 1969, Rektor an der Theologischen Fakultät San Miguel von 1980 bis 1986, wurde Bergoglio von Johannes Paul II., dem Polen Wojtyla, 1992 zum Weihbischof in Buenos Aires, 2001 zum Kardinalpriester ernannt, stets, auch nach der überraschenden Wahl des zuvor weithin Unbekannten zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, eine arme Kirche für die Armen propagierend. Doch war diese Wahl, genau besehen, wirklich „überraschend“? War sie, ob mit, ob ohne Wissen des Gewählten, vielleicht von langer Hand vorbereitet, weil sie ins Konzept gewisser weltlicher und geistlicher Potentaten passte, ihren Interessen nützlich war, wie einst, cum grano salis, jene des Innozenz III. gegenüber Franz von Assisi? Dem soll hier in der gebotenen Kürze nachgegangen werden.
 
Eine Charmeoffensive ohnegleichen
 
Bei den meisten Kommentatoren wie auch in Büchern über ihn(2) dominieren die bekannten Schilderungen seiner Bescheidenheit, Unkonventionalität, der Hilfe des „papa argentino“ für die Ärmsten der Armen schon in den Slums von Buenos Aires, getreu dem Vorbild seines Namensgebers – von aller Welt bestaunt und begeistert begrüßt. Dabei verhält er sich zumindest in dem, was wir von ihm hören und sehen, nur so, wie man das von Nachfolgern des synoptischen Jesus erwarten sollte, dessen Ethik freilich – Armut, Frieden, Feindesliebe – jahrhundertelang, wie von Karlheinz Deschner dargelegt und angeklagt, von den „Stellvertretern des Höchsten“ auf dem angeblichen Stuhl Petri ins Gegenteil verkehrt worden ist.
 
Längst rühmt man Franziskus als „Papst der Herzen“. Seiner „egozentrischen“ Kirche die Leviten lesend, fordert er sie auf, wie jüngst am Weltjugendtag in Rio de Janeiro, in naiver und demütiger Frömmigkeit aus sich herauszugehen und die Botschaft Jesu glaubhaft zu verbreiten bei „den Ärmsten, Schwächsten und Geringsten“, den Chancenlosen gerade auch in den Randbezirken der Gesellschaft. Vorläufiger Höhepunkt der die Herzen der Massen seit Monaten ergreifenden „Charme-Offensive“ fast ohnegleichen, von den Medien bestvermarktet: seine Begegnung mit Flüchtlingen auf Lampedusa, wie so oft nun schon unter Umgehung des vatikanischen Apparats und jeglicher Obrigkeiten. Vor etwa 10.000 Migranten und Inselbewohnern rief er auf dieser ersten, daher besonders symbolträchtigen Reise seines Pontifikats zu mehr Solidarität mit den verzweifelt Hilfesuchenden auf und zur Abkehr von einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“, voran in den Wohlstandsländern. Ein Kommentator fragte indes, was Franziskus hindere, „die Milliarden, die die katholische Kirche gebunkert [habe], in die Hand zu nehmen, um den Flüchtlingen zu helfen“, ein anderer, was ihn hindere, die Tore des Vatikans für die Schutzsuchenden zu öffnen. Über den Milliarden-Reichtum dieser Kirche u.a. an Gold, Firmenbeteiligungen, Immobilien und Landbesitz, zumal in den überwiegend katholischen Ländern Lateinamerikas, seit Jahrhunderten vor allem gewonnen durch Schröpfung und Schindung der Massen, gibt es inzwischen etliche Studien; auch Deschner äußerte sich, wie der Politologe Carsten Frerk und andere Autoren, mehrfach hierzu.(3)
 
Die Verelendung der Massen in Lateinamerika, wo fast die Hälfte der über eine Milliarde Katholiken weltweit lebt – in Argentinien, dem Herkunftsland des neuen Papstes, sind es gar 95% –, ihre seit Jahrhunderten notorische Pauperisierung, Unwissenheit, Analphabetismus, chronische Unterernährung und Versklavung, wurde, so Deschner, „seit Jahrhunderten mit Hilfe des Katholizismus verursacht und gedeckt“. Die lateinamerikanische Kirche sei noch „bis ins 20. Jahrhundert hinein (...) hoffnungslos ultramontan, erzreaktionär, das eigentliche Fundament der herrschenden ‘Ordnung’, der Großfinanz, der latifundären und halbfeudalen Kolonialmethoden“: „Während die Masse, Generation um Generation, in Dreck und Elend verkam, wurde der Klerus nahezu allmächtig und immens reich, wie die übrigen Sklavenhalter und Herren, die zur Finanzierung von ‘Gotteshäusern’ eingefangene Indios versteigerten...“(4)
 
Grenzen von Franziskus’ Reichtumskritik
 
Doch von diesem den meisten kaum vorstellbaren horrenden Reichtum der Kirche spricht, wie seine Vorgänger, auch Franziskus nicht. Selbst so bescheiden wie möglich lebend, prangert er umso heftiger den unverhüllt barocken „Prunk und Protz“, die Machtfülle der Kurialen an, ihre bombastische Selbstüberhöhung, ein „Ärgernis“ für immer mehr Katholiken, die sich auch deswegen von ihrer Kirche immer zahlreicher ab- und vor allem den Evangelikalen, besonders in Südamerika, zuwenden.
 
Am 6. Juli 2013 beschwor Franziskus 6000 Seminaristen, Novizinnen und Novizen aus aller Welt, in der Audienzhalle des Vatikans, das Vorbild der Armut glaubwürdig vorzuleben. „Es tut mir weh“, bekannte er, „wenn ich einen Priester oder eine Nonne in einem nagelneuen Auto sehe. So etwas geht nicht.“ In seine dort verkündete Vision einer Kirche, „die missionarischer ist“, bezieht er, neben der Verkündigung der „Botschaft Jesu“, auch die vorbildlich gelebte Armut aller Kleriker ein. So wäre denn der „Papst der Herzen“, der „Papst zum Anfassen“, der „Papst der Armen“ – wie einst der „Kardinal der Armen“ – vielleicht in erster Linie, wie jetzt in Rio von ihm selbst mehrfach beschworen, ein Missionar? Einer, der durch sein eigenes Beispiel und das von Mitarbeitern und Repräsentanten der Kirche ihren Imageverlust auszugleichen, die rasante Abwanderung ihrer Mitglieder aufzuhalten, das heißt die Macht der Catholica mit all diesen sichtbaren (!) Reformmaßnahmen (Skandalaufarbeitung inbegriffen) zu erneuern versucht? Freilich, dies unverzichtbar, trotz, besonders für Lateinamerika, weiterhin fataler Sexualmoral, trotz weiterhin sakrosankten Glaubensgrundlagen, trotz weiterbestehendem Demokratiedefizit mit dem allein entscheidungsbefugten Pontifex Maximus an der Spitze.
 
Möglich, dass Bergoglio mit all seinen durch eigenes Beispiel untermauerten Plädoyers für eine arme Kirche an der Seite der Armen diese tatsächlich auch um ihrer selbst willen im Blick hat. Unbestreitbar aber reiht sich sein Reden und Tun ein in die Tradition der katholischen Soziallehre. Sie wurde bezeichnenderweise 1891 begründet, als sich das Proletariat gegen die desaströsen Auswirkungen der industriellen Revolution immer stärker zu organisieren begann, sich revolutionär zu erheben und die Basis christlichen Fußvolks der Herrschaft von Kirche, Staat und Kapital zu entziehen drohte. Die am 15. Mai 1891 von Leo XIII. (1878-1903), einem, wie Deschner zeigt,(5) stark politisch orientierten Papst („Ego sum Petrus.“ – „Ich will eine große Politik führen.“) veröffentlichte „Arbeiterenzyklika Rerum Novarum", wurde, im scharfen Kontrast und in Konkurrenz zu Marx’ Kommunistischem Manifest von 1848, gleichsam die Magna Carta für alle späteren kirchlichen Strategien zur Deutung und Bewältigung der „Sozialen Frage“ und, wie Bismarcks Sozialgesetzgebung seit 1883, geschaffen, um den revolutionären Kräften links von der Mitte den Boden zu entziehen.
 
Die Reichen milde tadelnd, den Armen fromme Hoffnungen machend, wurde sie ein Vorbild auch für alle folgenden Sozialenzykliken (voran 1931: Pius XI.; 1961: Johannes XXIII.; 1971: Paul VI.; 1981 und 1991: Johannes Paul II.). Dieses Programm gilt im Wesentlichen bis heute, wie Reden und Tun auch von Franziskus belegen, selbst wenn er nicht wie Leo XIII. als Machtpolitiker auftritt. Den „Rerum Novarum“, den „neuen Dingen“, also den für die Herrschenden innerhalb und außerhalb der Kirche brandgefährlichen sozialen Entwicklungen mit revolutionärem Sprengstoff (vgl. das „aggiornamento“ und „aperturismo“ Johannes XXIII. Anfang der 1960er Jahre – mündend ins Vaticanum II – als Reaktion auf die „apertura a sinistra“ in Italien) ist nur zu begegnen, die „Pest des Sozialismus“, diese „todbringende Seuche“, so Prediger Leo, ist nur zu überwinden, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen friedlich „die Ordnung der menschlichen Gesellschaft [das ist: „die christliche Ordnung“] mitgestalten“ – unter Anerkennung freilich der „natürlichen Ungleichheit“ der Menschen (in die Bergoglio z.B. die Sklavenhaltung in Argentinien einbezog). Mangel oder Überfluss an Reichtum aber sind ohnedies unbedeutend „für die ewige Seligkeit“. Das Hauptübel der Zeit, so auch alle folgenden Päpste bis zu Franziskus (vgl. seine erste Enzyklika „Lumen Fidei“ vom 29. Juni 2013), ist der Glaubensschwund; nur durch Wiederbelebung der Religion, so endet Leos Enzyklika, sind die Missstände zu überwinden, sind vor allem aber, wie zu ergänzen ist, Einfluss und Macht der Kirche zu bewahren.
 
Deutlicher als Leo XIII. richtet Franziskus seine ethisch, nicht auch ökonomisch fundierte Kritik gegen die Verursacher der wachsenden sozialen Polarisierung. Am 25.5.2013 etwa fordert er vor Vertretern einer Stiftung zur Förderung und Vertiefung der katholischen Soziallehre, das gesamte globale System müsse auf den Prüfstand gestellt und mit den fundamentalen Rechten aller Menschen in Einklang gebracht werden, die inzwischen auch in der westlichen Welt (Armut im Gefolge von Massenarbeitslosigkeit) missachtet würden.
 
Bergoglio und die argentinische Militärdiktatur
 
Doch wie sieht solche „Prüfung“ für die Kirche konkret aus? Für Bergoglio jedenfalls berührt sie nicht die menschen- und lebensfeindlichen Strukturen des Finanzkapitalismus, sie tauchen in keiner seiner Reden auf, so oft er auch die Erneuerung veralteter Strukturen innerhalb von Kirche und Kurie anspricht. Gemäß eigenem Beispiel fordert er Hilfe für die Armen durch persönliche Kontakte – wie wichtig auch immer, doch wahrlich kein Weg zur Beseitigung „ungerechter Verteilung der Güter“ durch die von ihm verurteilten neoliberalen Verursacher der Krise. Über Appelle kommt auch er offenbar so wenig hinaus wie seine Vorgänger, selbst wenn er sie schärfer formuliert.
 
Ideologien jeder Art, voran Kapitalismus und Marxismus, ablehnend, vertrat Bergoglio in Argentinien die Positionen der dortigen „Kirche des Volkes“ an der Seite der Armen, im Widerspruch etwa zur brasilianischen „Befreiungskirche“ als einer Repräsentantin der in den 1960er Jahren entwickelten, von ihm wie seinen Vorgängern entschieden als „Irrlehre“ abgelehnten „Theologie der Befreiung“, die, wie viele christliche Gruppierungen vor ihr, den Urkommunismus des Christentums jenem von Marx im Wesentlichen verbunden sahen,(6) teilweise auch den Guerillakampf gegen Ausbeuter und Unterdrücker des Volkes bejahend (Lateinamerika war seit 1965 bis 1985 fast vollständig von Militärdiktaturen beherrscht, lanciert durch die USA als Reaktion auf die kubanische Guerilla-Revolution von 1959). Nicht selten bezahlten sie diesen Kampf mit ihrem Leben wie der katholische Priester Camillo Torres (Kolumbien),(7) doch selbst reformbereite Befreiungstheologen wie Óscar Romero, namhafter Erzbischof von El Salvador, wurden ermordet.
 
Der franziskanische Befreiungstheologe Leonardo Boff, in der Ära Johannes Paul II./Benedikt XVI. mit Bußschweigen bestraft, verteidigte indes jüngst, wie der argentinische Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist Adolfo Pérez Esquivel, Bergoglio/Franziskus gegen Vorwürfe allzu großer Loyalität gegenüber der Schreckensherrschaft der extrem rechtsgerichteten, autoritären und ultranationalistischen argentinischen Junta unter General Jorge Videla und Admiral Emilio Massera (1976-1983: 30.000 Opfer der Todesschwadronen).
 
Mit der Theologie der Befreiung lehnte Bergoglio die von ihr angestrebten tiefgreifenden Veränderungen der sozioökonomischen Strukturen ab.(8) Während seiner Zeit als Provinzial der argentinischen Provinz des Jesuitenordens von 1973 bis 1979 wurden zwei im größten Elendsviertel von Buenos Aires arbeitende Ordensbrüder, Franz Jalics und Orlando Yorio (Mitglied der „Bewegung der Priester für die Dritte Welt“), verhaftet, monatelang inhaftiert und gefoltert. Im Gegensatz zu seinem chilenischen Kollegen, dem Jesuitenprovinzial Juan Ochagavía (1972-1978), der sich über den Ordensgeneral in Rom massiv für die Befreiung zweier Jesuiten einsetzte, die politisch Verfolgten zur Flucht ins Ausland verhalfen,(9) ist Bergoglios Rolle in diesem ähnlichen Fall (als Helfer/Retter oder Verräter/Handlanger) bis heute umstritten; die meisten kirchlichen Archivmaterialien sind noch nicht zugänglich, eine Aufarbeitung auch des Anteils der Kirchenoberen an den Verbrechen jener Zeit ist überfällig, ein Schuldeingeständnis ohnedies. Im Fall Bergoglios steht Aussage gegen Aussage.(10)
 
Im Buch „El silencio: de Paulo VI a Bergoglio: las relaciones secretas de la Iglesia con la ESMA" [argent. Folterzentrum] (2005) des argentinischen Investigativjournalisten und Menschenrechtlers Horacio Verbitzki, Hauptkritiker Bergoglios, der sich durch seine Recherchen zur Militärdiktatur einen Namen machte und für den Bergoglio ein „hemmungsloser konservativer Populist“ ist, ein „Schauspieler“, der sich in der Praxis „an die Seite der Mächtigen [stellt], die er rhetorisch angreift“,(11) gibt es etliche belastende Mitteilungen über ihn. Sie könnten 2005 nach dem dritten Wahlgang des Konklaves zum Verzicht auf seine Kandidatur geführt haben, zugunsten Joseph Ratzingers. Denkbar, dass Bergoglio zwar nicht offen mit dem rechtsdiktatorischen Militärregime kollaborierte wie etliche Kleriker des Landes, jedoch, wie die schweigende Mehrheit, auch innerhalb der ohnedies extrem konservativen argentinischen Kirche, kaum etwas gegen die Unzahl von Menschenrechtsverletzungen, gegen die Tötung Tausender, das Verschwindenlassen Zehntausender, unternahm – so wenig wie die Päpste jener Zeit gegen die lateinamerikanischen Folter- und Mörderregierungen insgesamt, so sehr sie ihre Stimme auch erhoben bei Protesten gegen Abtreibung, assistierten Suizid und Homo-Ehe, vor allem aber bei der konstanten Verdammung, ja, Verteufelung all jener links von der Mitte, die auch ohne eine institutionalisierte Kirche auskommen: welch eine Bedrohung ihrer Macht!
 
Mögliche politische Hintergründe dieser Papstwahl
 
Papst Franziskus wurde von der Zeitschrift Vanity Fair im Juli 2013, nach seinem Besuch auf Lampedusa, als „Mensch des Jahres“ gekürt. BILD titelte: „Die Begeisterung für Papst Franziskus sprengt alle Dimensionen!“ – und bestätigt das Kalkül jener Dunkelmänner im Hintergrund, die auch ihm, wie nachweislich seinen Vorgängern, den Weg ins Amt bahnten: dem richtigen Mann (beliebt bei den Massen und nicht gefährlich für die Mächtigen) zur richtigen Zeit (Ansehensverlust der Weltkirche und globale Wirtschaftskrise mit horrenden sozialen Verwüstungen) am richtigen Ort, einem Mann, mit dessen Charisma und weitgespannter Caritas die Papstmacher innerhalb und außerhalb der Kirchenmauern nun die berechtigte Hoffnung verbinden können, den rasanten Mitgliederschwund der letzten Zeit einzudämmen und damit die von Linken wie Evangelikalen bedrohte Macht der Kirche (und ihrer weltlichen Verbündeten) wieder zu festigen, zumal in Lateinamerika – dem Rohstoffhinterhof der USA.
 
Ein Sympathieträger par excellence binnen kurzem, erfüllt Franziskus, vermutlich nicht unwissentlich (was über kurz oder lang, allen Vertuschern zum Trotz, entscheidbar sein dürfte), über sein mögliches subjektives Wohlmeinen hinaus ein objektives Gebot der Stunde. Anpassungsfähig an die Zeitläufte war die Kirche, von Deschner auf 6000 Seiten der „Kriminalgeschichte des Christentums" bestbelegt, von Anfang an. Und wandlungsfähig ebenfalls, nicht im Kern zwar (Glaube und Macht), aber im für alle sichtbar Peripheren – um ihren Kern zu bewahren. Besonders anpassungs- und wandlungsfähig war sie immer dann, wenn ihre Macht durch die Erzfeinde links der Mitte gefährdet war wie im katholischen Italien während des Pontifikats von Johannes XXIII. (ähnlich beliebt, weil leutselig-warmherzig wie Franziskus) Anfang der 1960er Jahre, oder wenn der verhasste Gegner abzuschütteln, zu erledigen war wie im katholischen Polen zu Zeiten von Glasnost und Perestojka während des Pontifikats von Johannes Paul II., dessen offene Parteinahme für die antikommunistische Gewerkschaft Solidarnosc dieser zum Sieg verhalf. Auch ihrer beider Papstwahl war ein machtpolitisches Gebot der Stunde – und ihre Heiligsprechung jüngst durch Franziskus ebenfalls: das war Geist nicht nur von seinem Geist, sondern auch im Sinne jener Mächte, denen diese drei nützlich waren und sind.
 
Denn da, von Deschner in den 10 Bänden der Kriminalgeschichte detailliert dargelegt, klerikale und weltliche Macht immer aufeinander bezogen waren, in neuerer Zeit zunehmend kooperativ infolge desselben kommunistischen Gegners; da vor allem die USA über die CIA (wie auch die meisten Kirchenführer dort sowie die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II.) die lateinamerikanischen Militärdiktaturen protegierten; da sie speziell die Folterprogramme über die CIA-gelenkte „Operation Condor“ (der einstigen „Legion Condor“ nicht nur im Namen benachbart) mit den argentinischen Todesschwadronen abstimmten; da sie zudem seit langem verdeckte Beziehungen zum Vatikan unterhalten und, wie ebenfalls von Deschner gezeigt, auf jede Papstwahl der neueren Zeit mehr oder weniger offen Einfluss nahmen, besonders deutlich bei Johannes Paul II.,(12) spricht Michel Chossudovsky, kanadischer Ökonom an der Universität Ottawa, international bekannt durch seine globalisierungskritischen Publikationen (u.a. Global brutal), sicher ein offenes Geheimnis aus, wenn er,(13) und mit ihm u.a. Papstkritiker Verbitsky, Jorge Mario Bergoglio den Wunschkandidaten Washingtons nennt.
 
Auch in Anbetracht der Einsetzung eines zumindest amerikafreundlichen Papstes eine Woche nach dem Tod des sozialistischen Präsidenten von Venezuela, Hugo Chávez, in Anbetracht ebenso der Tatsache, dass gegenwärtig mehrere lateinamerikanische Regierungen (auch im Argentinien der Christina Fernández de Kirchner und im Brasilien der Dilma Rousseff – zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 Teil der linken Untergrundbewegung und dafür lange in Haft) die Vorherrschaft der USA in Frage stellen, kann u.a. mit den gut vernetzten argentinischen Menschenrechts- und Angehörigen- Organisationen nicht ausgeschlossen werden, dass Franziskus – dies möglicherweise der tiefere Hintergrund seiner Wahl am 13. März 2013 –, unterstützt von den USA, gegenüber linken Bewegungen und Regierungen eine ähnliche Rolle spielen könnte wie einst der Pole Johannes Paul II. gegenüber Repräsentanten des realexistierenden Sozialismus. Nicht zuletzt die Massenproteste von mindestens zwei Millionen Menschen vom Juni 2013 in mehreren brasilianischen Städten gegen extreme soziale Missstände und Korruption in einem immerhin reichen Land zeigen, wie in einem Vorbeben, symptomatisch die unverminderte politische Sprengkraft extremer sozialer Gegensätze in jener Region. Sie zeigen zugleich, wie gefährdet die freie Verfügung der USA über Arbeitskräfte und Reichtümer im südamerikanischen Hinterhof ist, dessen Sicherung sie nach dem Irak-Krieg ganz oben auf ihre Agenda setzten. So könnte die Wahl von Papst Franziskus in der Tat, so Chossudovsky, „weitreichende geopolitische Auswirkungen für Lateinamerika insgesamt“ haben.
 
Semper idem: Vereinnahmung Franz von Assis für die Ziele von Innozenz III.
 
Nicht nur heute werden Kleriker von den Mächtigen der Welt für ihre Interessen instrumentalisiert – wie die Kirche in Lateinamerika immer wieder von den USA, eng verbunden durch das Feindbild Nummer Eins, den Kommunismus(14) – oder wie ein Papstaspirant durch beide? Im Hochmittelalter geschah in gewisser Hinsicht Vergleichbares. Als eine ausgeprägte Armutsbewegung sich zunehmend der Kontrolle der Kirche entzog und ihre Macht gefährdete, bediente sich der Italiener Innozenz III. (geboren als [eingedeutscht] Lothar aus dem Haus der Grafen von Segni, bedeutendster Papst des Mittelalters, 1198-1216) einer seither vielfach bewährten Strategie. Um den im Volk sehr beliebten „Häretikern“ – Katharer/Albigenser (später mit Kreuzzugsgewalt ausgerottet), Waldenser, Humiliaten oder Mystiker des freien Geistes, die im Gegensatz zur Kirche nach urchristlichen Idealen lebten – den Boden zu entziehen, bemühten sich Papst und Kardinäle, eine kirchentreue Armutsbewegung innerhalb der Kirche anzusiedeln. Gerade dafür bediente man sich des Franz von Assisi (1181-1226), Namenspatron des neuen Papstes. Die Legende berichtet, den Anstoß dafür habe Innozenz in einem Traum erhalten, worin Franziskus die Kirche stützte und sie so vor Einsturz und Untergang bewahrte. Eben das geschah, doch anders, als von Franziskus testamentarisch festgelegt: Als „Buß- und Wanderprediger“ von den „Häretikern“, trotz gleicher Zielsetzung, abgrenzbar, wurden Franz von Assisi und seine Brüder, einst verbunden in freier Gemeinschaft, um 1210, über die Bestätigung ihrer Ordensregel durch Innozenz, kirchlich vereinnahmt durch ihre Transformierung in einen streng geregelten Mönchsorden, wohin nun große Teile der Armutsbewegung umgeleitet wurden: kanalisier- und damit steuerbar durch kirchliche Macht(15) semper idem – im Italien des 13. Jahrhunderts (zementiert zudem durch rasche Heiligsprechung des Bruder Franz) wie, cum grano salis, im südamerikanischen Kontinent des 21. Jahrhunderts. Ob sich Papst Franziskus auch dessen bewusst war bei seiner Namenswahl, bisher singulär in der langen Kriminalgeschichte dieser Kirche?(16) (PK)
 
Anmerkungen
 
1    http://www.format.at/articles/1312/525/ 355249/papst-franziskus-milliardenimperium-jesuiten
2   Vgl. etwa Heiko Haupt: Franziskus Papst der Armen, München 2013
3    Summarisch in der Flugschrift Ein Papst reist zum Tatort, eine Reaktion auf den Besuch von Johannes Paul II. 1979 in Südamerika; vgl. Kap. Eines nur ist not in Die Politik der Päpste. Vom Niedergang kurialer Macht im 19. Jahrhundert bis zu deren Wiedererstarken im Zeitalter der Weltkriege, Aschaffenburg 2013, sowie Weiteres hierzu von Deschner und Carsten Frerk. Der Reichtum der beiden Großkirchen allein in Deutschland beläuft sich nach Hochrechnungen von Frerk auf etwa 500 Milliarden Euro inkl. Geldvermögen von ca. 150 Milliarden Euro.
4    Ausführlich über die Kirche in Lateinamerika: Kapitel über Paul VI. in Deschner, Die Politik der Päpste, S. 852 ff.
5    Deschner, Die Politik der Päpste, S. 33 ff., besonders das Kapitel Die „Arbeiterenzyklika“, S. 79 ff.
6    Die in Kirchenkreisen verbreitete Gleichsetzung: Marxismus / Kommunismus / Sozialismus = Totalitarismus = Materialismus = Atheismus = „höchste Gefahr für die Religion“ ist schon von daher so bodenlos wie durchsichtig zweckdienlich, ein Vorwand nur zur Abschreckung der Massen, den angeblich durchweg glaubenslosen Linken zu verfallen und sich somit von der Kirche abzuwenden, ihre Macht zu schmälern; vgl. die Überzeugung von E.P. Serantes, Erzbischof von Santiago de Cuba, 1961: „Wir bekämpfen den Kommunismus ... Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, zwischen Christus und dem Antichristen.“ Faschistisch-totalitären Systemen, zumeist in den katholischen Ländern des Südens, waren sie nicht so abgeneigt, im Gegenteil: ausführlichst hierzu: Deschner, Die Politik der Päpste, Kapitel über Pius XI. und Pius XII. zur Zeit Mussolinis, Hitlers, Francos, Pavelic‘ sowie Paul VI. und Johannes Paul II. Worum es da eigentlich ging (und wohl lange noch gehen wird), zeigt besonders krass die zu allem entschlossene Reaktion der Oligarchen und ihrer US-Verbündeten auf das zunächst erfolgreiche, dann sabotierte Modell eines „demokratischen (!) Sozialismus“ von Salvador Allende in Chile, das, u.a. zur Rückgewinnung der lukrativen Kupferminen, 1973 durch einen CIA-gelenkten Militärputsch beseitigt wurde.
7    „Alle Revolutionen kosten Blut. Am meisten die versäumten.“ Deschner.
8    Vgl. die online veröffentlichte Studie von Prof. Silke Hensel u.a., Uni Münster: Ein Lateinamerikaner, ein Jesuit – und doch kein Aufbruch, 2013.
„Dem entspricht auch das 2007 in Aparecida
(größter brasilianischer Marienwallfahrtsort, am 24.7.2013 von Franziskus während seiner ersten Auslandsreise [!] anlässlich des Weltjugendtags aufgesucht) unter Federführung von Bergoglio verfasste Dokument der 5. Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Bischofsrates zur Zukunft der dortigen Kirche – verglichen mit dem befreiungstheologisch geprägten CELAM-Dokument von 1968 in Medellin weit weniger scharf in der Analyse, weit weniger mutig in den Forderungen zur Behebung des Massenelends.
9    Vgl. die öffentliche Verurteilung des Militärputsches am 1.11.1973 in Chile durch den Kardinal von Santiago de Chile, Raúl Silva Henríquez.
10    Nachdenklich macht indes in Bergoglios Gespräch mit Abraham Skorka, dem Leiter des lateinamerikanischen Rabbinerseminars von Bueno Aires, die (an Kritiker von Deschners Kriminalgeschichte erinnernde) Einschätzung früherer Verbrechen christlicher Potentaten, etwa bei der spanischen Eroberung Südamerikas, bei den Kreuzzügen, bei der Plünderung und Zerstörung von Konstantinopel, zwar als „große Sünde“, aber „kulturell machte man es damals so“: „Wir können die Geschichte nicht vom Standpunkt eines ethischen Puristen her analysieren.“ Wo bleiben bei dieser Erklärung jeder Gewalt aus ihrer (doch immerhin christlich geprägten) Zeit heraus Bergoglios Leitbilder Jesus und Franz von Assisi – „ethische Puristen“ auch sie? In: Über Himmel und Erde, 2013.
11    So Verbitzkiy in der Tageszeitung (taz) vom 15.3.2013: Bergoglio spielt ein doppeltes Spiel, http://www.taz.de/!112929/, vom Vatikansprecher Pater Federico Lombardi, ebenfalls Jesuit, als haltlose Diffamierung zurückgewiesen.
12    Deschner, Die Politik der Päpste, S. 873 ff.
13    Michel Chossudovsky, „Washington’s Pope?“ Who Is Pope Francis I?, : http://www.globalresearch.ca/washingtons-pope-who-is-francis-i-cardinal-jorge-mario-bergoglio-and-argentinas-dirty-war/5326675.
14    Laut Verbitzky gibt es „seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ... im Vatikan eine Praxis, Päpste zu bestellen – manchmal finanziert vom US-Geheimdienst wie Pius XII. –, die eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Pius XII. sollte verhindern, dass in Italien die Kommunisten die Wahl gewinnen, Johannes Paul II. sollte den kommunistischen Ostblock penetrieren. Das ist alles bestens dokumentiert. Es scheint, als ob es jetzt um Südamerika geht.“
15    ... bis hin zu jenen Franziskanern, die im kroatischen „Todeslager“ von Jasenovac am Ufer der Save Hunderttausende von Serben eigenhändig liquidierten: Kroatien als „Reich Gottes und Marias“, das bedeutete für Ante Pavelic, den Führer der katholisch-faschistischen Ustascha, Vernichtung der serbisch-orthodoxen „Ketzer“ – mit Billigung Pius XII., von Deschner 1965 als erstem in dieser Ausführlichkeit öffentlich gemacht in seinem Buch Mit Gott und den Faschisten, ausführlich in Deschner, Die Politik der Päpste, Kap. Katholische Schlachtfeste in Kroatien oder „das Reich Gottes“, S. 600 ff.
16    Zur Skepsis Karlheinz Deschners auch gegenüber Reform-Päpsten, nicht zuletzt begründet in den, zumal historisch gesehen, zutiefst fragwürdigen Glaubensgrundlagen der Catholica, vgl. den Schluss des Interviews mit Gabriele Röwer in: Junge Welt von 18.5.2013, http://www.jungewelt.de/2013/05-18/001.php

Zur Politik der Päpste finden Sie einen Film von und mit Karlheinz Deschner in dieser NRhZ-Ausgabe.
 
Gabriele Röwer (*1944) nach dem Studium (Evangelische Theologie – Konsequenz: Kirchenaustritt – Philosophie, Germanistik) und einer therapeutischen Ausbildung bei Prof. Kirschenbaum: Tätigkeit in Schule und Beratung, freie Mitarbeit in der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz gegen Gewalt und Rechtsextremismus. Danach: Zusammen mit Karlheinz Deschner u.a. Mitherausgeberin nachgelassener Schriften des Schweizer Kirchen- und Religionskritikers Robert Mächler (u.a. im Verlag Haupt/Bern).


Online-Flyer Nr. 456  vom 30.04.2014



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