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„Antifa heißt Luftangriff!“
Von Christin Bernhold

In diesem Sammelband werden aktuelle Entwicklungen eines Antifaschismus analysiert, der sich Susann Witt-Stahl und Michael Sommer zufolge zwar revolutionär gebe, doch zunehmend systemfromm und affirmativ sei. Am 1. Mai 2014 wurde in Hamburg am Rande einer Demonstration ein Transparent mit der Aufschrift „Gegen jeden Antisemitismus“ ausgebreitet. Die Parole drückt ein genuin linkes Ansinnen aus – vorausgesetzt, sie richtet sich gegen Antisemiten. Wird sie gegen linke Politik gerichtet, verkommt sie zum Herrschaftsinstrument. So geschehen am Kampftag der internationalen ArbeiterInnenbewegung in der Hansestadt: Adressatin der besagten Transparent-Aktion war nicht etwa eine Nazikundgebung, sondern die alljährlich von antikapitalistischen und antifaschistischen Kräften organisierte Demonstration zum „revolutionären 1. Mai“.
 
Was hat dieses Szenario mit einem Buch über Antifaschismus zu tun? Eine Menge. Vor allem ist es ein Exempel für den bedenklichen Zustand der antifaschistischen Bewegung, der in dem Sammelband „Antifa heißt Luftangriff!“ behandelt wird. In jener haben sich nach der Diagnose der HerausgeberInnen Susann Witt-Stahl und Michael Sommer Kräfte in den Vordergrund gedrängt, „die ein weitaus dringlicheres Bedürfnis verspüren, die Proletarier zu bekämpfen, als die ‚Arier‘“ (S. 10).
 
Eine wesentliche Aufgabe von revolutionären AntifaschistInnen, die diese zugleich von bürgerlichen Nazigegnern unterscheide, wolle heute kaum noch jemand übernehmen: das Aufdecken der „soziale[n] Substanz des Faschismus“ und dessen Funktion, „die Klasse der abhängig Arbeitenden stumm zu machen“ (Reinhard Kühnl) (S. 9). AntifaschistInnen seien im Zuge der neoliberalen Restauration der Klassenherrschaft zuhauf geläutert und neutralisiert worden – oder haben sich selbst geläutert und propagierten derweil „nichts anderes als Fortsetzung der Totalitarismustheorie mit anderen Mitteln“ (ebd.). Witt-Stahl und Sommer stellen fest, dass „diejenigen, deren historische Aufgabe es ist“, die Wahrheit über die soziale Funktion des Faschismus aufzudecken, mehrheitlich „genau das Gegenteil tun und die Auslöschung dieser Wahrheit aktiv vorantreiben“ (ebd.). Der politische und theoretische Zustand der deutschen „Antifa“ sei erdrückend – so erdrückend, dass Überlegungen zu einer sinnvollen antifaschistischen Politik eine eindringliche Kritik am Status quo erforderten. Mit dem Sammelband wird deshalb richtigerweise eine Debatte darüber angestoßen, „was Antifaschismus nicht sein darf“ (S. 13). Es geht den VerfasserInnen mit ihrer Bestandsaufnahme also nicht darum, zum Verlassen des sinkenden Schiffes aufzurufen, sondern im Gegenteil aufzuzeigen, womit der Weg zu dessen Instandsetzung verstellt ist.
 
Neoliberalismus, Antikollektivismus und die Antifa
 
Witt-Stahl zeigt in ihrem Beitrag „Auf dem Weg zur Knechtschaft“ zweierlei auf. Zum einen weist sie nach, dass und wie die Vordenker des Neoliberalismus, etwa Friedrich August von Hayek oder Walter Lippmann, sich schon immer für die eigentlichen Väter des Antifaschismus ausgegeben haben. Beide erklärten totalitarismustheoretisch, dass nur der freie Markt eine Garantie gegen den Faschismus bieten könne, dessen eigentliche Wurzel im Sozialismus liege. „Kommunismus und Faschismus gleichen sich nicht nur in der Regierungsform, sie stimmen in ihren Bestrebungen und Zielen überein“ (S. 20), zitiert die Autorin Lippmann. Zum anderen zeigt Witt-Stahl mit zahlreichen Beispielen auf, dass die Antifa 2.0 – wie sich die post-1990-Antifa häufig selbst nennt – Teile der ideologischen Matrix des Neoliberalismus mit Kusshand in ihre eigene übernommen hat.
 
Als paradigmatisch dafür arbeitet die Autorin eine von jedem konkreten Inhalt abstrahierende Haltung gegenüber „Kollektivismus“ heraus. Sie zeigt auf, wie „Kollektive“ heute unter Generalverdacht stehen, aus offenen oder verkappten Nazis zu bestehen – unabhängig davon, ob sich Menschen zusammentun, um die Herrschaft des Menschen über den Menschen im Sinne einer Solidargemeinschaft aufzuheben oder ob es sich um völkische Truppen handelt. Teil der neuen Antifa-Ideologie sei auch die (offene oder latente) Unterstellung grundsätzlicher Gemeinsamkeiten zwischen Sozialismus und Faschismus. Ein großer Teil der Szene verbringe in der Konsequenz weitaus mehr Zeit damit, sich gegen Linke zu positionieren und deren Theorie und Praxis zugrunde zu richten, als Klassenkampf gegen die Herrschenden in Politik und Wirtschaft zu führen.
 
Personifizierte, strukturell antisemitische Kapitalismuskritik
 
Hayek und die Antifa 2.0 haben damit gemein, den Antifaschismus nicht nur neutralisiert, sondern auch gegen revolutionäre Antifaschisten gerichtet zu haben. Marxistische Faschismustheorie sei ersetzt worden durch den (mit Marxschen Begrifflichkeiten ausstaffierten) Vorwurf der verkürzten, personifizierten oder strukturell antisemitischen Kapitalismuskritik, gerichtet gegen diverse soziale Protestbewegungen.
 
In einem der wichtigsten Beiträge des Buches, „Falsch aber wirkungsvoll“, tranchiert Michael Sommer den Text „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ von Moishe Postone, der die entsprechende Marxinterpretation zu diesem Vorwurf liefert und derweil den Status eines Manifests erlangt hat. Sommer erläutert, wie mittels einer Fehlinterpretation Marxscher Theorie „Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals (Marx) mit dem in der Vernichtung der europäischen Juden gipfelnden Antisemitismus in eins gesetzt“ (S. 88) und so im Endeffekt das personifizierte Kapital vor jedem Protest geschützt wird. Postone destruiere die Erkenntnis von Marx, dass der Kapitalismus nicht nur Struktur, sondern auch Praxis, Herrschaft des Menschen über den Menschen sei und dass, wie Adorno schrieb, „die herrschende Klasse [...] nicht nur vom System beherrscht [wird], sie herrscht durchs System und beherrscht es schließlich selber“ (S. 43). Was Moshe Zuckermann in einem Gespräch mit Witt-Stahl am Ende des Buches an der Ausplünderung Adornos und seiner Nutzbarmachung für die Bourgeoisie kritisiert, gilt auch für die von Sommer kritisierten Marx-RezipientInnen, die mit Marx gegen den Klassenkampf von unten vorgehen: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze“ (S. 189).
 
Schöner leben – ohne schlechtes Gewissen
 
Gescheiterte Linke, so erklärt sich Sommer die Attraktivität dieses Vorgehens, haben damit die Möglichkeit, „gesichtswahrend“ antifaschistische Kritiker zu sein, „ohne in Konflikt mit den gesellschaftlich Mächtigen zu geraten, ja mehr noch: indem man an ihrer Seite steht“ (S. 90). Ganz ähnlich bringt es Zuckermann auf den Punkt: „Es handelt sich um authentische Träger des gegenwärtigen Zeitgeistes, die aber feige genug sind, nicht zuzugeben, dass sie in erster Linie das sind“ (S. 185). Was Zuckermann auf den Umgang mit Adornos Thesen bezieht, ist auch für den Antifaschismus zutreffend: Man trennt sich nicht in einem Ruck, das linke gute Gewissen soll bleiben. „They are killing him softly, weil sie seine ungebrochene Relevanz nicht ertragen können“ (S. 188).
Auch Matthias Rude befasst sich in seinem Text „‚Nie wieder Faschismus‘ – immer wieder Krieg“ mit AntifaschistInnen, die unverrückbar an der Seite der Mächtigen stehen. Er zeichnet historisch nach, wie imperialistische Kriege zunehmend von linken Kräften zu antifaschistischen Kriegen des zivilisierten Westens verklärt wurden. Einerseits müsse für dieses Kunststück der Holocaust zur ideologischen Instrumentalisierung herhalten. Andererseits sei antimuslimischer Rassismus in den argumentativen Kanon vieler Antifaschisten integriert worden. „‚Umma-Sozialisten‘ (Islamisten) und Antiimperialisten sind für sie die Nazis von heute. Daher verlaufe die Grenze nicht mehr zwischen rechts und links, oben und unten, sondern zwischen ‚zivilisiertem Westen‘ und ‚barbarischem Islam‘“ (S. 116).
 
Faschismus ist keine Meinung...
 
...jedoch auch nicht irgendein Verbrechen, sondern eine Form bürgerlicher Herrschaft. Dass die politisch-ökonomischen Bedingungen des Faschismus heutzutage kaum mehr jemanden interessierten, kritisiert Jürgen Lloyd in „Faschismus fängt schon in der Küche an“. In der Konsequenz erschöpfe sich Antifaschismus für ein Gros der Bewegung darin, ein NPD-Verbot zu fordern und auf Demos gegen Nazis zu gehen – die Losung für Bündnisarbeit laute: Hauptsache breit! Zwar treffe es mit Bündnisaktivitäten gegen Naziaufmärsche keineswegs die Falschen, so Lloyd – aber wenn sie sich darin erschöpfen seien sie eben auch nicht mehr als ein Kampf gegen Windmühlen, weil sie nicht an die politisch-ökonomischen Wurzeln des Faschismus gingen.
 
Lloyds Analyse zufolge sei die Gefahr des Faschismus dann akut, wenn das Monopolkapital im Kampf um Interessen und Bewusstsein nicht mehr dazu in der Lage sei, andere nicht-proletarische Schichten davon zu überzeugen, auf seiner Seite Klassenkampf zu führen. Die „freiwillige“ Integration sei aber stets die bevorzugte Option des Kapitals, denn „der ‚freiwillig‘ sich den inhaltlichen Herrschaftsprinzipien des Monopolkapitals unterwerfende Mensch lässt sich nicht nur sicherer beherrschen, er ist auch besser geeignet, diese Prinzipien umzusetzen, als ein gezwungener Sklave“ (S. 126). Wache Augen, die ihren Gegnern und dessen Interessen erkennen sowie auf Bedingungen schauen, unter denen Faschisierung heute wieder zu einer Gefahr werden könnte, vermisst Lloyd zu Recht. Denn der antifaschistische Kampf kann sich „nicht von dem Kampf gegen diese Herrschaftsinteressen selber lösen [...] ohne zum Schattenboxen zu werden“ (S. 127).
 
Was tun?
 
Eine antifaschistische Linke müsste folglich, will sie nicht gegen Schatten boxen oder gar zum Teil des Problems werden, das Kernanliegen haben, die Ursachen für- sowie die Herrschaftsinteressen an Krise und Krieg, Armut und Hunger schonungslos offenzulegen. Sie müsste sich, so Eberhardt Schultz, allenfalls endlich für Ursache und Wirkung des „Aufbau[s] des autoritären Sicherheitsstaates im 21. Jahrhundert“ interessieren, den der Autor des gleichnamigen Textes als Warnsignal eines „freundlichen Faschismus“ (S. 139) versteht und für weitaus gefährlicher hält als (Neo-)Nazis. Friendly fascism könne auch wieder unfriendly werden. In einem Staat, der womöglich zum „Prototyp des modernen Faschismus“ werde, „wäre eine Antifa, die sich auf ein NPD-Verbot und den Kampf gegen den überkommenen Rassismus von Neonazis beschränkt, bestenfalls eine ‚nützliche Idiotin‘“ (S. 153).
 
Die Linke müsste sich ferner dazu in die Lage versetzen, das fordert Wolf Wetzel in „Die Angst des Antifaschismus vor seiner eigenen Idee“, aus der eigenen Sprach- und Hilflosigkeit herauszutreten, „wenn es um die politische Einordnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) und die Rolle der staatlichen Behörden bei seinem Entstehen, Ausrüsten und Gewährenlassen geht“ (S. 167). Anstatt einesteils Islamismus und Faschismus kurzzuschließen, um sich daraufhin blindlinks mit den westlich imperialistischen Mächten zu alliieren, und andernteils angesichts der Verstrickung von Staat und NSU in eine Schockstarre zu verfallen beziehungsweise die „Staatsantifa“ (S. 171) um Hilfe anzubetteln, müssten Linke ihre „oppositionslose Darbietung“ (S. 175) aufgeben und dafür sorgen, dass „andere abtauchen“ müssen „und nicht wir“ (S. 180).
 
Das gehe freilich nur, wenn man sich nicht mit denjenigen in einem Boot wähne, die ein Interesse an eben jener Schockstarre haben, wie Maciej Zurowski herausstellt. Schlechte Aussichten attestiert Zurowski einer antifaschistischen „Volksfront“ gegen Nazis, in der „Kritik an der Bourgeoisie […] zugunsten einer kritiklosen Allianz unter den Tisch fallen gelassen“ werde, „selbst wenn die Bourgeoisie sich nur symbolisch an ihr beteiligt“ (S. 157). „Dadurch, dass sie ein Symptom zum permanenten Hauptfeind erhebt, verharmlost sie implizit die Ursache“ (S. 162). Was stattdessen zu tun sei, liegt damit eigentlich auf der Hand: „die diversen Fäulniserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft im Rahmen einer umfassenden Strategie [...] behandeln, die letztlich auf eine komplette gesellschaftliche Umwälzung hinausläuft“ (S. 162).
 
Eine überfällige Debatte
 
„Antifa heißt Luftangriff!“ stößt eine überfällige Debatte darüber an, warum man in Antifa-Flugblättern zunehmend antilinke „Kritik“ und neoliberale Ideologie made by Hayek bekommt statt Luxemburg, Lenin, Brecht oder Harvey, oder warum antifaschistische Strategie etwas anderes sein muss, als gemeinsam mit der SPD gegen Nazis zu sein. Lesenswert ist der Sammelband allein deshalb, weil die AutorInnen es vermögen, ihre Diagnosen in einem Wechselspiel aus bitterem Ernst und herrlicher (Real)Satire vorzutragen. Vor allem aber zeigen sie nicht nur den bedrückenden Zustand der antifaschistischen Bewegung in der BRD auf und argumentieren aus unterschiedlichen – teilweise divergierenden theoretischen und politischen – Richtungen, dass ein „weiter so“ fatal wäre. Sie zeigen auch anhand konkreter Beispiele (unter anderem, dass die BRD in der Ukraine Faschisten zur Macht verhelfen kann, ohne mit nennenswerten Protesten rechnen zu müssen), welche verheerenden Konsequenzen eine solche Degeneration des Antifaschismus zeitigen kann: das Ausbleiben jeglicher Opposition.
 
Viele Fragen, die bei der Lektüre in den Sinn kommen, bleiben im Rahmen dieses Bandes zwangsläufig unbeantwortet. Lloyd stellt zum Beispiel richtig heraus, dass Faschismus nicht in der Abstraktion von seinen ökonomischen Ursachen begriffen werden kann. Es bedürfte jedoch einer Diskussion innerhalb der revolutionären marxistischen Linken, ob zum Beispiel die Leninsche These des Monopolkapitalismus der richtige Ausgangspunkt für eine Theorie des Faschismus ist. Denn zu fragen wäre, ob nicht die von Marx getroffene Feststellung nach wie vor gilt, nach der das Kapitalverhältnis widersprüchliche Tendenzen zu Monopolbildung und Monopolverlust gleichzeitig produziert. Daran wiederum schließt sich die Frage an, ob es immer eine wirkungsvolle Strategie ist, nicht-monopolistische Kapitalfraktionen für ein antifaschistisches Interesse gewinnen zu wollen.
 
Fruchtbar können derlei Debatten allein unter dem Vorzeichen der Wiederherstellung einer revolutionären antifaschistischen Bewegung geführt werden. Die Bedingungen dafür sind jedoch nicht gerade rosig. Einige wesentliche Hindernisse haben Witt-Stahl und Sommer zusammengetragen. Diese Hindernisse als solche anzuerkennen und daraus theoretische und politische Konsequenzen zu ziehen – das wäre schon mal ein Anfang, um sich aus einer Situation herauszuarbeiten, in der Faschisten, „solange diese ‚westeingebunden‘ sind“ (S. 201), von einem großen Teil der AntifaschistInnen hierzulande nichts mehr zu befürchten haben. (PK)
 
Susann Witt-Stahl, Michael Sommer (Hg.) 2014:
„Antifa heißt Luftangriff!“.
Laika-Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-944233-13-0.
216 Seiten. 21,00 Euro. 


Online-Flyer Nr. 466  vom 09.07.2014



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