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Kommentar
Zuerst die muslimische Welt und dann den ganzen Globus erobern
"Gott will es!"
Von Uri Avnery
Seit sechs Jahrzehnten warnen meine Freunde und ich unser Volk: Wenn wir nicht mit den nationalistischen arabischen Kräften Frieden schließen, werden wir es mit islamischen arabischen Kräften zu tun bekommen. Der israelisch-palästinensische Konflikt wird zu einem jüdisch-muslimischen Konflikt. Der nationale Krieg wird zu einem Religionskrieg. Nationale Konflikte sind im Grunde rational. In ihnen geht es um Gebiete. Gewöhnlich können sie durch Kompromisse gelöst werden.
Allah – in arabischer Schrift
Religiöse Konflikte sind irrational. Jede Seite glaubt an eine absolute Wahrheit und sieht infolgedessen alle anderen als Ungläubige, als Feinde des einzig wahren Gottes. Wahre Gläubige, die glauben, dass sie für Gott kämpfen und dass sie ihre Befehle direkt vom Himmel bekommen, können keine Kompromisse schließen. „Gott will es“ schrien die Kreuzfahrer und schlachteten Muslime und Juden ab. „Allah ist der Größte“, schreien fanatische Muslime und enthaupten ihre Feinde. „Wer von allen Göttern ist wie du!“ schrien die Makkabäer und vernichteten alle Mitjuden, die griechische Sitten angenommen hatten.
Online-Flyer Nr. 475 vom 10.09.2014
Zuerst die muslimische Welt und dann den ganzen Globus erobern
"Gott will es!"
Von Uri Avnery
Seit sechs Jahrzehnten warnen meine Freunde und ich unser Volk: Wenn wir nicht mit den nationalistischen arabischen Kräften Frieden schließen, werden wir es mit islamischen arabischen Kräften zu tun bekommen. Der israelisch-palästinensische Konflikt wird zu einem jüdisch-muslimischen Konflikt. Der nationale Krieg wird zu einem Religionskrieg. Nationale Konflikte sind im Grunde rational. In ihnen geht es um Gebiete. Gewöhnlich können sie durch Kompromisse gelöst werden.
Allah – in arabischer Schrift
Quelle: wikipedia
DIE ZIONISTISCHE Bewegung wurde nach dem Sieg der europäischen Aufklärung von säkularisierten Juden geschaffen. Fast alle Gründer waren überzeugte Atheisten. Viele waren dazu bereit, religiöse Symbole zur Dekoration zu benutzen, aber sie wurden von allen großen religiösen Weisen ihrer Zeit rundweg verdammt. Tatsächlich war das zionistische Unternehmen vor der Schaffung des Staates Israel bemerkenswert frei von religiösen Dogmen. Selbst heute sprechen extreme Zionisten vom „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ und nicht vom „Religionsstaat des jüdischen Glaubens“. Sogar für die „Nationalreligiösen“, die Vorläufer der heutigen Siedler und Halbfaschisten, war Religion dem nationalen Ziel untergeordnet: die Schaffung eines nationalen jüdischen Staates im ganzen Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan.
Dieser nationale Angriff traf natürlich auf den entschlossenen Widerstand der arabischen Nationalbewegung. Nach anfänglichem Zögern wendeten sich die arabischen nationalen Führer dagegen. Dieser Widerstand hatte sehr wenig mit Religion zu tun. Es stimmt, eine Zeit lang wurde der palästinensische Widerstand vom Großmufti von Jerusalem Haj Amin al-Husseini geleitet, aber nicht wegen seiner religiösen Stellung, sondern weil er das Oberhaupt von Jerusalems aristokratischster Großfamilie war.
Die arabische Nationalbewegung war immer entschieden säkular. Einige ihrer hervorragendsten Führer waren Christen. Die panarabische Baathpartei (Auferstehungspartei), die sowohl in Syrien als auch im Irak die Herrschaft übernahm, war von Christen gegründet worden.
Damals war der größte Held der arabischen Massen Gamal Abd-al-Nasser. Zwar war er formell Moslem, aber er war ziemlich areligiös. Der Führer der PLO Jasser Arafat war privat ein frommer Moslem, jedoch blieb die PLO unter seiner Führung eine säkulare Körperschaft mit vielen christlichen Zutaten. Er sprach über die Befreiung von „Moscheen und Kirchen“ in Ostjerusalem. Eine Zeit lang war das offizielle Ziel der PLO die Schaffung eines „demokratischen und nicht an eine besondere Religion gebundenen“ Staates.
WAS IST DA also geschehen? Wie kam es dazu, dass sich eine Nationalbewegung in eine gewaltanwendende fanatische religiöse Bewegung verwandelt hat?
Die aus einer Nonne zur Historikerin gewordene Karen Armstrong hat darauf hingewiesen, dass in allen drei monotheistischen Religionen fast gleichzeitig dasselbe geschehen ist. In den USA spielen jetzt die evangelikalen Christen eine wichtige Rolle in der Politik, und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem rechtsgerichteten jüdischen Establishment. In der gesamten muslimischen Welt gewinnen fundamentalistische Bewegungen an Stärke. Und in Israel spielt ein messianisch-jüdischer Fundamentalismus eine immer größere Rolle.
Wenn sich dasselbe in derartig unterschiedlichen Ländern und Religionen abspielt, muss es eine gemeinsame Ursache dafür geben. Welche ist das?
Man kann die Frage natürlich leicht mit dem nebulösen deutschen Begriff Zeitgeist beantworten, aber der erklärt tatsächlich sehr wenig.
In der muslimischen Welt hat der Bankrott des liberalen, säkularen Nationalismus geistige Leere, wirtschaftlichen Zusammenbruch und nationale Demütigung geschaffen. Das glänzende Versprechen des Nasserismus endete unter Hosny Mubarak in elender Stagnation. Den Baath-Diktatoren in Bagdad und Damaskus gelang es nicht, moderne Staaten zu schaffen. Die Militärs in Algerien und in der Türkei haben auch nicht viel mehr zuwege gebracht. Nachdem ölgierige westliche Mächte den demokratisch gewählten iranischen Führer Mohammad Mossadegh gestürzt hatten, konnte der glücklose Schah die Lücke nicht füllen.
Und ständig war da der demütigende Anblick Israels, das aus einem verachteten kleinen ausländischen Implantat zu einer überragenden Militär- und Wirtschaftsmacht herangewachsen war und das arabische Staaten immer wieder scheinbar mühelos verprügelte.
Nach jedem neuen Krieg fragten sich Muslime: Was stimmt da nicht? Wenn der Nationalismus ebenso im Frieden wie im Krieg erfolglos war, wenn es weder Kapitalismus noch Sozialismus gelungen ist, eine gesunde Wirtschaft zu schaffen, wenn es weder dem europäische Humanismus noch dem sowjetische Kommunismus gelungen ist, die geistige Leere zu füllen, wo gibt es dann noch eine Lösung?
Die donnernde Erwiderung kommt aus den Tiefen der Massen: „Der Islam ist die Antwort!“
DIE LOGIK hätte verlangt, dass die israelische Erwiderung entgegengesetzt gewesen wäre.
Israel ist eine Erfolgsgeschichte. Es hat nicht nur eine mächtige Militärmaschine und glaubhaftes atomares Potential, sondern es ist technisch mächtig und seine Wirtschaftsbasis ist vergleichsweise gesund.
Aber jetzt gibt der eng mit dem extremen Nationalismus verbundene messianische Fundamentalismus den Kurs an.
Am Vorabend des neuesten Krieges gab der Befehlshaber der Giv'ati-Brigade seinen Offizieren den Tagesbefehl bekannt. Viele waren schockiert.
Die Giv'ati-Brigade war im Krieg von 1948 eine hervorragende Kampftruppe gewesen (ich war einer der ersten Kämpfer und habe darüber zwei Bücher geschrieben). Wir waren sehr stolz auf die Zusammensetzung der Brigade. Die Kämpfer waren eine Mischung aus Söhnen der weltstädtischen Tel-Aviver Elite und jungen Männern aus den umgebenden Slums. Diese Mischung war ganz besonders erfolgreich und bewährte sich im Kampf.
Der Brigade-Kommandeur war ein früherer deutscher kommunistischer Untergrundkämpfer gegen die Nazis. Er bekehrte sich zum Zionismus und trat in einen stark links-gerichteten Kibbuz ein. Ähnlich gesinnt waren die meisten seiner Stabsoffiziere. Ich kann mich an keinen einzigen Soldaten in der Brigade erinnern, der eine Kippa getragen hätte.
Man stelle sich unseren Schock vor, als der gegenwärtige Brigadekommandeur zu einem heiligen Krieg zur Erfüllung von Gottes Willen aufrief. Oberst Ofer Winter hatte in seiner Jugend eine religiöse Militärschule besucht, und am Vorabend des Kampfes sagte er zu seinen Soldaten: „Die Geschichte hat uns auserwählt, die Angriffsspitze gegen den terroristischen Feind in Gaza zu sein, den Feind, der den Gott von Israels Schlachten beschimpft und verflucht … Ich erhebe meine Augen zum Himmel und rufe gemeinsam mit euch: ‚Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.‘ Oh Herr, Gott Israels, gib uns Erfolg auf unserem Weg, da wir für Israel gegen einen Feind kämpfen, der deinen Namen verflucht!“
Das offizielle Ziel der israelischen Armee in diesem Feldzug war es, die Grenze zu schützen und den Abschuss von Raketen auf israelische Städte und Dörfer zu beenden. Aber das war nicht das Ziel des Obersten. Er schickte seine Soldaten, für den Gott Israels im Kampf gegen die zu sterben (drei starben tatsächlich), die seinen Namen verfluchen.
Wenn dieser Offizier der einzige religiöse Fanatiker in der Armee wäre, wäre das schon schlimm genug. Aber die Armee ist voller Kippa tragender Offiziere, die mit religiösem Eifer durchtränkt worden sind und die ihre Soldaten nun ihrerseits mit demselben Geist durchtränken.
Die zionistisch-religiöse Partei und ihre fanatischen Rabbiner, von denen viele ausgesprochen faschistisch sind, arbeiten seit Jahren daran, das Offizierscorps der Armee systematisch zu unterwandern. Es ist ein Prozess der natürlichen Auslese: Offiziere, die keine Lust haben, als Kolonialherren in den besetzten Gebieten aufzutreten, verlassen die Armee und werden High-Tech-Unternehmer, während messianische Fanatiker in ihre Stellungen geschleust werden.
Der Oberst ist übrigens weder zurechtgewiesen noch auf irgendeine Weise geschädigt worden. Im Gegenteil, er ist während des Krieges als vorbildlicher Kampfführer belobigt worden.
DAS ALLES führte zu ISIS, dem islamischen Staat von Irak und al-Sham (Großsyrien). Vor kurzem hat er seinen Namen in „Islamischer Staat“ (IS) geändert. Diese Veränderung bedeutet, dass die früheren Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg von den westlichen Kolonialherren geschaffen worden sind, abgeschafft werden. Es wird einen einzigen islamischen Staat geben und der umfasst alle früheren und gegenwärtigen islamischen Territorien, darunter auch Palästina (mitsamt Israel).
Das ist ein neues und furchteinflößendes Phänomen. Natürlich gibt es viele islamistische Parteien und Organisationen in der muslimischen Welt – von der die Türkei regierende Partei AKP über die ägyptische Muslimbruderschaft bis hin zur palästinensischen Hamas. Aber fast alle beschränken ihren Kampf auf ihre Nationalländer: Türkei, Syrien, Palästina, Jemen. Sie wollen in ihren Ländern die Macht übernehmen und sie regieren. Selbst Osama bin Laden wünschte sich am meisten, in seiner saudi-arabischen Heimat die Macht zu übernehmen.
IS ist etwas ganz anderes. Er will alle Staaten zerstören, besonders die muslimischen Staaten, die von den westlichen Imperialisten aus dem islamischen Land herausgeschnitten worden sind. Mit zum religiösen Symbol erhobener furchtbarer Grausamkeit macht er sich auf den Weg, zuerst die muslimische Welt und dann den ganzen Globus zu erobern.
Dieses Ziel mag angesichts der Tatsache, dass die ganze Unternehmung aus ein paar tausend Kämpfern besteht, lächerlich erscheinen. Aber diese kleine Truppe hat schon einen großen Teil Syriens und des Irak erobert. Er drückt die Sehnsucht der Muslime aus, den alten Ruhm wiederherzustellen, ihren Hass auf alle (darunter auch wir), die den Islam gedemütigt haben, und einen Durst nach geistlichen Werten. Man muss unwillkürlich an die Anfänge der Nazibewegung denken, ihren Groll, ihren Rachedurst, ihre Anziehungskraft für alle Armen und Gedemütigten.
Es kann sein, dass IS nur ein paar Jahre braucht, um eine riesige Macht zu werden, die alle Länder der Region bedroht.
BEDROHT IS auch Israel? Natürlich tut er das. Wenn seine dynamische Kraft anhält, wird er das Assad-Regime stürzen und die israelische Grenze erreichen, wo weitere islamische Rebellen in dieser Woche schon die ersten Salven abgeschossen haben.
Bei einer solchen Bedrohung, die im Norden lauert, scheint es lächerlich, gegen eine winzige islamisch-patriotische Truppe in Gaza zu kämpfen, selbst wenn sie den Namen des Herrn verflucht.
Vielleicht ist nur noch sehr wenig Zeit, um mit der arabischen Nationalbewegung Frieden zu schließen und besonders mit dem palästinensischen Volk – mit der PLO ebenso wie mit der Hamas – und sich zum Kampf gegen den Islamischen Staat zu verbinden.
Die Alternative ist furchterregend. (PK)
Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist und hat diesen Beitrag am 3. September geschrieben. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.
Online-Flyer Nr. 475 vom 10.09.2014