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Arbeit und Soziales
Thesen zu meinem Buch gleichen Titels: "Hartz IV und die Folgen."
"Auf dem Weg in eine andere Republik?"
Von Christoph Butterwegge

Am 1. Januar 2015 ist das fast nur unter dem Kürzel „Hartz IV“ bekannte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zehn Jahre in Kraft. Trotz des lauten Triumphgeschreis über das angebliche Ende der Massenarbeitslosigkeit und die vermeintlich eingetretene Vollbeschäftigung gibt es auch zehn Jahre nach Abschluss des Reformprozesses aus folgenden Gründen für Jubelfeiern keinen Anlass:
 
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in der Regierungserklärung zur Agenda 2010 die Sprachregelung hoffähig gemacht, mit Hartz IV würden Arbeitslosen- und Sozialhilfe „zusammengelegt“, was mehr als verharmlosend, beschönigend und beschwichtigend, nämlich eine bewusste Irreführung jener Menschen war, die weder den Unterschied zwischen Lebensunterhalts- und Lebensstandardsicherung bzw. einer Lohnersatz- und einer Lohnergänzungsleistung kannten noch bemerkten, dass hiermit ein Systemwechsel von einem Wohlfahrtsstaatstyp zum anderen eingeleitet wurde. Mit der 1956 eingeführten Arbeitslosenhilfe wurde nämlich zum ersten Mal, seit der Sozialstaat in Deutschland besteht, eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Transferleistung abgeschafft und das dreigliedrige Unterstützungssystem für Erwerbslose zerschlagen.
 
2) War die Arbeitslosenhilfe das ausschließlich von früher manchmal ihr ganzes Leben lang Beschäftigten bewohnte Souterrain des Wohlfahrtsstaates, fanden sich ihre Bezieher/innen nunmehr zusammen mit anderen Erwerbsfähigen, die vorher möglicherweise nie einen Arbeitsplatz hatten, in einem „Hartz IV“ genannten Gemeinschaftskeller des sozialen Sicherungssystems wieder, ohne dass eine Treppe nach oben den Betroffenen die Möglichkeit zum Aufstieg böte. Durch die Hartz-Gesetze wurde also nicht bloß der Sozialstaatsgedanke pervertiert, vielmehr auch die Idee der Leistungsgerechtigkeit konterkariert. Denn selbst wer über Jahrzehnte hinweg Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatte, wurde nicht mehr durch seinen Arbeitslosenhilfe-Anspruch gegenüber einem Schulabgänger bessergestellt, der keine Stelle fand, sondern musste sich wie dieser mit dem Arbeitslosengeld II-Bezug zufrieden geben. Das Arbeitslosengeld II war im Grunde nur eine leicht modifizierte Version der Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfebedürftige.
 
3) Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat das im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seinerzeit die „Mutter aller Reformen“ genannt. Tatsächlich hat sich Deutschland in den zehn Jahren seit Einführung der Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 tiefgreifend verändert. Die Hartz-Gesetzgebung hat Deutschland mitsamt seinem Wohlfahrtsstaat, seiner (sozial)politischen Kultur und seinem jahrzehntelang auf Konsens orientierten gesellschaftlichen Klima viel stärker verändert als manche parlamentarische Weichenstellung der Nachkriegszeit.
 
4) Die soziale Fallhöhe hat sich durch Hartz IV für alle Gesellschaftsschichten erheblich vergrößert: Aufgrund der Lockerung des sozialen Netzes durch das Reformprogramm der Agenda 2010 greift die Furcht vor dem materiellen Absturz um sich. Dass ob solcher Aussichten überall im Land die Angst umgeht, Millionen Menschen aufgrund der Furcht vor einem Arbeitsplatzverlust, aufgrund mangelnder Berufsperspektiven und aufgrund drohender Sanktionen ihres Jobcenters nicht schlafen können, gehört wegen des gleichzeitig wachsenden gesellschaftlichen Reichtums zu den größten Widersprüchen unserer Zeit. Während die gesundheitlichen Probleme und psychosozialen Beeinträchtigungen der unmittelbar oder mittelbar Betroffenen zunehmen, fehlen oft die finanziellen Ressourcen für eine fachgerechte Behandlung. Hartz IV macht also nicht bloß zahllose Menschen arm, sondern auch viele krank.
 
5) Weil der Arbeitslosengeld II-Bezug eine große Reichweite hat, also bis in die Mittelschicht und das gesellschaftliche Gravitationszentrum ausgreift, lässt sich die Bundesrepublik als Hartz IV-Gesellschaft bezeichnen. Zeitweilig lebten fast 7,5 Mio. Personen, darunter ca. 5,5 Mio. Arbeitslosengeld II-Bezieher/innen und rund 2 Mio. Sozialgeldempfänger/innen – meistenteils Kinder unter 15 Jahren – in über 4 Mio. Bedarfsgemeinschaften. Das waren mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung unter 65 Jahren, für die Hartz IV eine Grundsicherung schuf. Erst nach etlichen Verschärfungen des Gesetzespaketes nahm die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften seit dem Juni 2006 kontinuierlich ab, was auch für die Anzahl der unmittelbar von Hartz IV betroffenen Personen gilt, die jedoch im Gefolge der Banken-, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008/09 erneut anstieg. Gegenüber dem Gipfelpunkt im Mai 2006 ist die Anzahl der Grundsicherungsempfänger/innen zwar um ca. 20 Prozent auf rund 6 Mio. gesunken, dafür mittlerweile aber fast jeder zweite von ihnen im Dauerbezug (vier oder mehr Jahre).
 
6) Das Hartz IV-System führt die Alg-II-Bezieher/innen in einen Teufelskreis aus Perspektivlosigkeit und Passivität hinein, in dem mit sich kumulierenden Frustrationserfahrungen, langsam Überhand nehmenden Resignationstendenzen und sinkendem Anspruchsniveau auch die Eigenaktivität nachlässt. Längst gibt es, was man „Hartz IV-Welt“ nennen kann und eine Armutsökonomie sowie eine ausgeprägte Subkultur bildet, die von Hartz IV-Kochbüchern über Sozialkaufhäuser bis zu Hartz IV-Kneipen reicht, wo Leistungsbedürftige unter sich bleiben und ihr Bier zu Niedrigpreisen trinken. Innerhalb der Bundesrepublik existieren zwei Welten oder „Parallelgesellschaften“ existieren und die Brücken dazwischen sind abgebrochen worden.
 
7) Verschiedentlich als ein „Gesetz der Angst“ bezeichnet, macht Hartz IV aus der Bundesrepublik eine Gesellschaft der Angst und zu einem Land, in welchem Teile der Mittelschicht durch Verachtung gegenüber sogenannten Randgruppen, sozialen Absteiger(inne)n und beruflichen Verlierer(inne)n ihre Furcht vor dem gleichen Schicksal zu bewältigen suchen. Wenn nicht alles täuscht, haben die Hartz-Reformen einen gesamtgesellschaftlichen Mentalitätswandel in Richtung einer Zumutungsmentalität gegenüber (Langzeit-)Erwerbslosen bewirkt, der sich als sozialdarwinistischer Schub im Massenbewusstsein niederschlug und dort auf unabsehbare Zeit spürbar sein dürfte. Wie es scheint, werden Langzeit- und Dauererwerbslose heute stärker als „Sozialschmarotzer/innen“ etikettiert, stigmatisiert und diskriminiert als vor der Hartz IV-Reform.
 
8) Noch schlimmer als Hartz IV ist für die meisten Leistungsbedürftigen eigentlich nur, kein Hartz IV zu erhalten. Daher waren strenge Sanktionsregelungen ein wirksames Druckmittel gegenüber Belegschaften, Betriebsräten und Gewerkschaften, um diese bei Lohnkämpfen oder Tarifverhandlungen konzessionsbereiter zu machen. Ein „sozialer Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck), bei dem alle Gesellschaftsschichten entweder gemeinsam nach oben oder gemeinsam nach unten fahren, ist ausgeblieben. Stattdessen gibt es einen sozialen Paternostereffekt, den Hartz IV noch verstärkt hat: Während die einen nach oben fahren, fahren die anderen zur selben Zeit nach unten. Das führt, wenn dem nicht konsequent entgegengesteuert wird, zu einer tieferen Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, zu einem Zerfall unserer Städte und zu einer Gefährdung der Demokratie.
 
9) Hartz IV wies damit den Weg in eine andere Republik. Erwerbslose und andere Transferleistungsbezieher/innen sind – wenn man so will – Fremde im eigenen Land. Wie den meisten Zuwanderern bleibt Hartz IV-Betroffenen eine politische Repräsentation, die den Namen verdient, in aller Regel verwehrt. Die soziale Exklusion von Hartz IV-Betroffenen hindert sie vielmehr an der Partizipation und schwächt die politische Repräsentation. Bei der Bundestagswahl 2013 betrug die Wahlbeteiligung nur 71,5 Prozent. Verschärft hat sich die soziale Schieflage bei der Wahlabstinenz: Erreichte die Wahlbeteiligung etwa in Köln-Chorweiler, einer Hochhaussiedlung mit ganz wenigen Einfamilienhäusern, bloß 42,5 Prozent, lag sie in Köln-Hahnwald, einem noblen Villenviertel, bei fast 89 Prozent. Ein moderner Staat, der Armen und Reichen unterschiedlich große Chancen der politischen Partizipation und der parlamentarischen Repräsentation einräumt, verliert auf diese Weise seine demokratische Legitimation. Wenn die Finanzmärkte im Gegenwartskapitalismus zum politischen Souverän avancieren, wird das durch Hartz IV auf den Verkauf seiner Arbeitskraft um fast jeden Preis zurück geworfene Individuum entmündigt und die moderne Demokratie entkernt. (PK)
 
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Mitte November ist sein Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (290 Seiten; 16,95 Euro) bei Beltz Juventa erschienen.


Online-Flyer Nr. 489  vom 17.12.2014



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