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Aktueller Online-Flyer vom 22. Dezember 2024  

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Arbeit und Soziales
Arbeit im freien Fall - flexibel schuften ohne Perspektive
"Die Lastenträger"
Von Michael Scheffer

Als die Blaskapelle an diesem kalten 5. Februar den Zuhörern im FORUM des Rautenstrauch-Joest-Museums einheizte, geschah das nicht primär, um die Anwesenden in kämpferische Stimmung zu versetzen. Das war gar nicht notwendig. Vielmehr musste die Haustechnik noch palettenweise Stühle nachliefern - der Publikumsandrang war einfach zu groß. Geladen hatten die AWO Mittelrhein, der Verein work-watch e.V. sowie die VHS Köln, tatkräftig unterstützt von ver.di Köln und anderen gewerkschaftlichen Gruppen. Motto des Abends: Arbeit im freien Fall - flexibel schuften ohne Perspektive!


Günter Wallraff
Fotos: Michael Scheffer
Vorgestellt wurde das Buch "Die Lastenträger", welches anhand haarsträubender Beispiele aus dem Arbeitsalltag aufzeigt, was die modernen Formen von Ausbeutung möglich macht: Systematische Rechtsbrüche im betrieblichen Alltag genauso wie der fortdauernde nachhaltige Abbau von Arbeitnehmerschutz-rechten.
Günter Wallraff, Mitautor des Buches und prominentes Zugpferd der Veranstaltung, betonte in seinem Eingangs-Statement zunächst seine ungebrochene Motivation ("Konzerne unter Druck setzen macht Spaß!"). Mit Hinweis auf den Umstand, dass die Deutschen aktuell so reich wie nie zuvor in der Geschichte seien, verwies er zugleich auf die Kehrseite der Medaille: Den boomenden Niedriglohnsektor, in dem "der körperliche und seelische Zusammenbruch eiskalt einkalkuliert ist". Die Lasten des vermeintlichen wirtschaftlichen Aufschwungs habe vor allem die A-Gruppe zu tragen, bestehend aus Armen, Alten, Arbeitslosen, Alleinerziehenden und Ausländern.

Diskussionsrunde im Rautenstrauch-Joest-Museum

Unter der angenehm zurückhaltenden Moderation von Birgit Morgenrath wurden in einer ersten Gesprächsrunde Beispiele aus dem Arbeitsalltag ausgetauscht. Carol Lobig berichtete einleitend über Sitzverbote, Akkordarbeit und umfassende Kontrollmechanismen, welche sie bei ihrer Arbeit für die "Zalando-Familie" in Erfurt erfahren musste. Überraschender waren da schon die Geschichten der anderen Podiumsgäste, beispielsweise des Lehrbeauftragten an der Kölner Hochschule für Musik, der seit Jahrzehnten ohne Aussicht auf Festeinstellung unterrichtet. NRW schließe lieber Kettenvertrag um Kettenvertrag, als die Dozenten fest einzustellen und angemessen entlohnen zu müssen.
Eine andere Teilnehmerin arbeitete als prekäre Franchisenehmerin in der Altenpflege für einen amerikanischen Generalunternehmer, der vom medizinischen Dienst der Krankenkassen nicht nur geprüft und anerkannt, sondern auch ausdrücklich empfohlen wird. Arbeitsbedingungen: katastrophal! Der Journalist Jürgen Rose arbeitete undercover als Werksvertragsarbeiter bei Daimler in Stuttgart und berichtete über die fak-tische Drei-Klassen-Gesellschaft im Betrieb, wobei FAK auch das gängige Kürzel für Fremdarbeiterkontingent darstellt. Der Staat zahlt bei dem von Rose beschriebenen Belegschaftskonstrukt übrigens ordentlich drauf: Über 80 Milliarden Euro mussten die Arbeitsagenturen z.B. 2011 für sogenannte Aufstocker aufwenden.
Nach einem kurzen kabarettistischen Zwischenruf von Wilfried Schmickler wurde es wieder sehr ernst: Den Auftakt zur zweiten Gesprächsrunde machte Stefanie Albrecht, die für den DGB WanderarbeiterInnen, vornehmlich aus dem südosteuropäischen Raum, berät. Sie berichtete über unwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen und über die Schwierigkeiten der Betroffenen, sich zu wehren. Auch beklagte sie die konsequente Nicht-Ahndung von benannten und bekannten Straftaten in diesem Zusammenhang.
Albrecht Kieser vom Verein work-watch e.V. holte weit aus und verortete die Deregulierung des Arbeitsmarktes und den Abbau von Schutzrechten in den vor zehn Jahren eingeführten Gesetzespaketen Hartz I-IV. Diese seien ursächlich für die Unterminierung von Widerstandsmöglichkeiten und die Schaffung massenhafter rechtsfreier Räume in der Arbeitswelt. Er prophezeite, dass die bestehenden, teils eklatanten Lücken in der Mindestlohngesetzgebung auch durch das zum neuen Jahr in Kraft getretene Mindestlohngesetz (MiLoG) nicht geschlossen würden. Es wird auf Anwaltskanzleien und fragwürdige Seminaranbieter verwiesen, die grenzwertige Umgehungen der bestehenden rechtlichen Situation vermitteln und damit auch unverfroren werben ("Wir machen nicht alles was Recht ist").

Der Münchener ver.di-Sekretär Florian Pollock zeigte schließlich Lösungsansätze auf und verwies auf den Logistikunternehmer "trans-o-flex", bei dem es nach entsprechenden Missständen und betrieblichen Unruhen inzwischen einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 96 Prozent gebe. Fazit: Organisiert Euch! Dem konnte sich auch Günter Wallraff in seinem Schlußwort nur anschließen: "Wo die völlig überschätzte Übermutter Merkel wie Mehltau über dem Land liegt, braucht es mehr Opposition". Wer wollte dem widersprechen? (PK)
Michael Scheffer (45) ist seit Jahren in diversen Funktionen und Gremien der LINKEN in Köln aktiv (Vorstand Innenstadt, Sprecher Arbeitskreis Soziales) sowie in verschiedenen unabhängigen Initiativen (Recht auf Stadt, Blockupy, Linke Erwerbslosenorganisation).
 


Online-Flyer Nr. 498  vom 18.02.2015



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