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Lokales
Niemand bezweifelt: Die nächsten Jahre werden für das Ruhrgebiet schwierig
Aber die WAZ: Mülheim ist die große Ausnahme
Von Lothar Reinhard

„Mülheim trotzt der Krise“ lautet die Überschrift eines halbseitigen WAZ-Artikels im überregionalen Wirtschaftsteil, siehe unten. Ist Mülheim also eine Art Insel inmitten des vom Absturz bedrohten Ruhrgebiets, wie es seit einiger Zeit von allen Instituten, Wirtschaftsfachleuten, Gutachtern und auch Politikern beschrieben wird, nämlich als die Absteigerregion Deutschlands schlechthin. (1)
 

Noch SPD-OB Dagmar Mühlenfeld
Quelle: MBI
Die Meldungen aus Nachbarstädten sind alarmierend, etwa aus Essen von vorgestern: WAZ Essen: “Stadt Essen prüft den Verkauf ihres Tafelsilbers” und Kommentar “Was die Stadt Essen gerade erlebt, nennt man Insolvenz”, oder gestern aus Duisburg: WAZ Duisburg: „Stadt Duisburg muss Stadtwerken mit 200 Millionen Euro aus der Krise helfen“ oder, und, oder, und… Zu dem unvollendeten bzw. abgebrochenen Strukturwandel mit den bereits deutlichen Folgeproblemen kommen nicht zuletzt die Folgen der Energiewende hinzu, u.a. weil RWE und EON ihrer Geschäftsmodelle verlustig wurden. Das rächt sich bitter bei allen Kommunen, die eng mit den Energieriesen verbunden waren, am allerstärksten im Ruhrgebiet, der vorherigen Energiezentrale Deutschlands. Die nächsten Jahre werden für das Ruhrgebiet schwierig, das bezweifelt niemand.
 
Und mittendrin die kleine Großstadt Mülheim als die große Ausnahme, die widerstandsfähig wie ein berühmtes gallisches Dorf zur Römerzeit allen Problemen trotzt? Beleuchten wir deshalb die Realitäten der Ruhrstadt:
 
Mülheim hat den bei weitem höchsten Altersdurchschnitt aller NRW-Städte, also ein nicht zu unterschätzendes demografisches Problem bereits vor vielen anderen Städten. Mülheim ist darüber hinaus als einzige Revierstadt auch bereits bilanziell überschuldet, macht dennoch bisher keine Anstrengungen, seinen hoffnungslos defizitären Haushalt wenigstens perspektivisch nach und nach in Ordnung zu bringen, d.h. das jährlich neue Loch von meist um die 100 Mio. zu verringern und die Explosion der Kassenkredite auf bald eine Milliarde €/Jahr auch nur zu stoppen (bei jährlichen Gesamteinnahmen inkl. aller Zuschüsse von nur etwas über 500 Mio. €!!).
 
Das Mülheimer ÖPNV-Desaster mit alleine jährlich 30 Mio. Zuschussbedarf auch ohne notwendige riesige Investitionen ist bekannt, hat aber trotz Dauerdiskussion seit 5 Jahren nur zu immer neuen Gutachten geführt, inzwischen bereits das fünfte für „nur“ 130.000 €.
 
Die mit Abstand größte Verbandelung mit dem abstürzenden RWE-Konzern, im Vergleich selbst zu Essen oder Dortmund, besteht in Mülheim nicht nur bei den 10 Mio. RWE-Aktien, sondern auch in vielfältigen RWE-Beteiligungen, von Wasser, Abwasser, Stromnetz, Gas, Wohnungsgesellschaft usw. bis hin zur lukrativen Umrüstung der Straßenlaternen. Dennoch ist die Frage des Ablösens bzw. der Verringerung der enormen RWE-Abhängigkeit in Mülheim tabu und nicht diskutabel.
 
Die Mülheimer Innenstadt wurde genau wie die Stadtfinanzen im letzten Jahrzehnt massiv ruiniert, nicht zuletzt durch ein ziemlich zweifelhaftes Prestigeprojekt namens Ruhrbania, mit dem die gesamte Innenstadt umgekrempelt und vieles zerstört wurde. Mit gigantischen städtischen Vorleistungen entstanden so potthäßliche Betonklötze, ein albernes Hafenbeck`schen und eine „Promenade“ von vielleicht 150m ohne Schaufenster o.ä., wofür promenieren sich lohnen könnte. Dafür wurden Rathausneubau, Bücherei, Ärztehaus, eine Hauptverkehrsstraße, ein Gartendenkmal mit Park, der Platz der deutschen Einheit, noch geplant das Gesundheitshaus, die AOK und das ex-Arbeitsamt, usw. geopfert, um Bauland nah der Ruhr freizumachen und verkaufen zu können. Die Verkehrsführung wurde mit bereits jetzt über 50 Mio. € noch schlechter gemacht als vorher, was zusammen mit langjährigen Großbaustellen vielen Geschäften den Garaus gemacht hat, am Schlimmsten dem Kaufhof. Von allen 65 Großstadt-Innenstädten in Deutschland, die seit über 10 Jahren systematisch beobachtet und bewertet werden, hat die Mülheimer Innenstadt mit Platz 65 am meisten verloren. Die vielen Leerstände sind erschreckend.
 
Unabhängig von all den Problemen aber galt bisher, dass Mülheim von allen Ruhrgebietsstädten die weitaus besten Voraussetzungen hatte: Eine insgesamt robuste, vielfältige Wirtschaft und stets für das Ruhrgebiet niedrigste Arbeitslosigkeit. Doch auch dabei hängen nun düstere Wolken über der Heimatstadt von Ministerpräsidentin Kraft:
Neben den massiven Verlusten von höher qualifizierten Arbeitsplätzen in den anderen Teilstädten des Ruhrgebiets (zuletzt Opel, Hochtief, Thyssen-Krupp, Karstadt, Eon, RWE usw.), wo nicht wenige Mülheimer beschäftigt waren und sind, trifft es nun die Mülheimer Wirtschaft vor Ort auch in etlichen ihrer wichtigsten Teile: Siemens (früher KWU) baut hunderte Stellen ab, Tengelmann verkauft seine Läden oder schließt sie, womit weitere hunderte Stellen in der Zentrale wegfallen werden, Putin hat die South-stream-Pipeline gekanzelt, womit bei der Röhrenproduktion der Mannesmann-Nachfolgefirmen in Mülheim weitere hunderte Arbeitsplätze verloren gehen, die Gagfah wurde von Annington geschluckt, womit in der Zentrale in Mülheim weitere hunderte Arbeitsplätze gefährdet sind, Brenntag, die erfolgreichste aller Mülheimer Firmen, wird demnächst ihren Sitz nach Essen verlagern, verschiedene bisherige Zulieferfirmen für Thyssen-Krupp oder RWE oder …. werden auf Dauer schließen müssen uswusf..
 
Kurzum: Die Lage ist so bedrohlich, wie seit Kriegsende noch nie. Und was tun Politik und die WAZ als einzig verbliebene Zeitung, der zudem Lokalradio und Anzeigenblättchen ebenfalls gehören? Sie ignorieren vor Ort alle Probleme und versuchen, möglichst viele Erfolgsmeldungen zu verbreiten. Irgendwie muss ja auch der OB-Wahlkampf mal bald in die Gänge kommen, gell. Der ist eigentlich überflüssig wie ein Kropf und die isolierte OB-Wahl findet nur statt, weil Frau SPD-OB Mühlenfeld nicht auf ein von CDU/FDP geschenktes Jahr als OB verzichten wollte, was aber ihre SPD in Düsseldorf wieder rückgängig gemacht hat. Urplötzlich im Frühjahr verkündete sie dann auch noch selbst zum Entsetzen ihrer überraschten SPD-Partei, dass sie selbst nicht mehr antreten will, vgl. „Abgang der OB überraschend? Oder nur: Wir haben fertig?“. Dafür aber will sie auch als nicht-OB im erlauchten RWE-Aufsichtsrat bleiben. Na denn!
 
Bedenkt man alle Riesenkrisen der Stadt Mülheim wie bilanzielle Überschuldung, extreme RWE-Abhängigkeit, ÖPNV-Debakel, Innenstadtkrise, massive städtebauliche Fehlentwicklungen und drohendes bzw. bevorstehendes Ausbluten wichtiger Betriebe, so ist es schieres Wunschdenken, dass just Mülheim der Krise trotze, die nicht nur droht, über der Ruhrbaniastadt hereinzubrechen, sondern bereits voll zugange ist trotz der Vergrößerung der Zentrale von Aldi-Süd.
 
Mit Image-Kampagnen wie dem folgenden WAZ-Artikel kann man/frau zwar in der Öffentlichkeit vielleicht jede Krisenstimmung durch das Prinzip Hoffnung ersetzen. Zur Lösung aber trägt es nicht bei, im Gegenteil: Es begründet das gefährliche „Weitermachen wie gehabt“. Die griechische Tragödie hat wohl nicht zum Nachdenken etwa in Mülheim geführt. Auch dort leugneten Traumtänzer die Probleme jahrelang bis zum bitteren Zusammenbruch und seinen Folgen. Und die EU schaute einfach weg, genau wie die Aufsichtsbehörden dies bei Mülheim seit längerem tun.
 
(1) vgl. u.a. http://www.mbi-mh.de/2013/12/27/absteigerregion-ruhrgebiet
 oder http://www.mbi-mh.de/2014/03/09/die-ruhrgebietskrise-und-die-energie(rueck)wende
 
Lothar Reinhard ist Fraktionssprecher der Mülheimer Büberinitiativen (MBI)
 
WAZ-Artikel 15.4.:
Mülheim trotzt der Krise
 
Mülheim. Siemens, Kaiser’s Tengelmann, Europipe: In Mülheim häufen sich schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft. Doch Stadt und Unternehmer lassen sich nicht entmutigen.

Mülheim gilt als die Stadt der Millionäre mit nur acht Prozent Arbeitslosigkeit, in der man im Grünen leben kann. Doch in diesen Monaten treffen die 170.000-Einwohner-Kommune globale Trends wie die Energiewende und die Digitalisierung mit voller Wucht. Arbeitsplatzabbau bei den Kraftwerksbauern von Siemens, Kurzarbeit bei den Röhrenwerken, Kaiser’s Tengelmann vor unsicherer Zukunft und der weltgrößte Chemiehändler Brenntag vor der Abwanderung nach Essen. Und der Wohnungsriese Gagfah geht in der Bochumer Annington auf. Steckt der Wirtschaftsstandort Mülheim in der Krise?

„Die Lage ist besorgniserregend. Sie produziert aber keine spürbar große Unruhe in der Stadt“, sagt Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld (SPD). „Wir sind diesen wirtschaftlichen Phasen unterworfen.“ Eine Betroffenheit wie in Bochum, als im Dezember 2014 das dortige Opel-Werk schloss, gebe es in Mülheim nicht. Die Stadt, so Mühlenfeld, leide derzeit besonders unter den Folgen der Globalisierung und Digitalisierung.

„Immerhin bleibt Brenntag im Ruhrgebiet“

Die Alarmglocken vermag auch Hanns-Peter Windfeder nicht zu läuten. Der Inhaber der 50 Mitarbeiter zählenden Werbeagentur Q-Marketing ist Vorsitzender der Mülheimer Wirtschaftsvereinigung (UMW), zu der 180 Unternehmen gehören. „Unsere mittelständische Struktur hilft uns darüber hinweg, dass einige große Konzerne in der Stadt gerade in der Krise stecken“, so Windfeder.

Der Unternehmerverbandsvorsitzende will sich deshalb gar nicht lange damit beschäftigen, Trübsal zu blasen. „Wir können doch ohnehin nicht die Entscheidung des russischen Präsidenten beeinflussen, die Gasleitung Southstream zu stoppen.“ Wladimir Putin hatte das Projekt als Konsequenz aus den Wirtschaftssanktionen gegen Russland gestoppt. Das Mülheimer Großrohrwerk leidet darunter.

Windfeder bedauert zwar, dass die Brenntag das ehemalige Stinnes-Hochhaus an der Autobahn A 40 in Richtung Essen verlassen will. „Immerhin können wir dieses wichtige Unternehmen aber im Ruhrgebiet halten“, so der Sprecher der Mülheimer Wirtschaft. Sein Verband konzentriere sich deshalb auf Faktoren, auf die Akteure vor Ort Einfluss haben: „Mit seiner hohen Gewerbesteuer ist das Ruhrgebiet eher schlecht unterwegs. Und wir brauchen mehr Gewerbe- und Industrieflächen – insbesondere in Mülheim.“

Familienfreundlichkeit und Bildung

Trotz der aktuell vielen schlechten Wirtschaftsnachrichten ist Jürgen Schnitzmeier, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Mülheim & Business überzeugt, dass die Ruhrstadt gar nicht schlecht da stehe. Zwischen 2003 und 2013 hat Mülheim laut Statistischem Landesamt bei der Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter im verarbeitenden Gewerbe um 34,5 Prozent zugelegt.

„Damit liegen wir in NRW mit an der Spitze“, so Schnitzmeier. Zudem konzentriere sich die Stadt auf ihre Stärken bei Unternehmensgründungen und kleinen und mittleren Unternehmen auf dem Gebiet Forschung und Entwicklung. Oberbürgermeisterin Mühlenfeld: „Wir setzen auf Familienfreundlichkeit und den weiteren Ausbau der Bildungsinfrastruktur. Bildung ist längst kein belächelter Standortfaktor mehr.“
Aldi Süd expandiert
 
Aldi Süd expandiert

Und so macht Mülheim auch positiv von sich reden: Der Discounter Aldi Süd baut seine Unternehmenszentrale im Stadtteil Styrum und den Standort für das internationale Geschäft im Stadtteil Saarn gewaltig aus. Von bis zu 1000 zusätzlichen Arbeitsplätzen ist die Rede. Der Neubau der Hochschule Ruhr-West soll Ende des Jahres fertiggestellt sein und 250 zusätzliche Stellen bieten. Und im neuen Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion sollen bis zu 400 internationale Wissenschaftler daran tüfteln, wie grüner Strom aus Sonne, Wind und Wasser gespeichert werden kann.
Autor: Frank Meßing
(PK)


Online-Flyer Nr. 507  vom 22.04.2015



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