NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 03. Dezember 2024  

Fenster schließen

Inland
Gespräch mit Ulrike von Wiesenau von der Initiative Berliner Wassertisch
Warum Deutschland mehr direkte Demokratie braucht
Von Peter Kleinert

Ulrike von Wiesenau ist Expertin für direkte Demokratie und arbeitet als Beraterin von NGO´s, Organisationen und Regierungsdelegationen. Die Pressesprecherin der erfolgreichen Initiative "Berliner Wassertisch" ist Mitbegründerin des direktdemokratischen Untersuchungsausschusses "Klaerwerk" und des Berliner Wasserrates. Anlässlich ihrer Podiums-teilnahme bei der "Linken Woche der Zukunft" der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben wir mit ihr ein Gespräch über direktdemokratische Beteiligung und Gremien der direkten Demokratie geführt.
 

Ulrike von Wiesenau, oft NEhZ-Autorin
Photo: Michal Eliasson
Peter Kleinert: Frau von Wiesenau, Sie setzen sich für mehr direktdemokratische Beteiligung ein und fordern eine weitergehende Einsetzung von Instrumenten und Gremien der direkten Demokratie und die Möglichkeit bundesweiter Volksentscheide. Wo sehen Sie die Defizite der repräsentativen Demokratie?
 
Ulrike von Wiesenau: Die Wahlen finden nur alle vier bis fünf Jahre statt. Entscheidungen über bestimmte Sachfragen, die in der Zwischenzeit aufkommen, entziehen sich dabei der Einflussnahme der Wählerschaft. Diese Art unwiderruflicher Blankoschecks darf es
angesichts der Entscheidungsdichte heutiger Demokratien nicht mehr geben. Die etablierte Politik muss ihre alleinige Definitionsmacht abgeben, direktdemokratische Partizipation sollte als selbstverständliche demokratische Teilhabe in das bestehende Gesellschaftsmodell integriert werden. Die politische Hauptforderung ist die nach Einführung von mehr und verbindlicheren direkt-demokratischen Elementen in das bundesdeutsche System, die der repräsentativen Demokratie als direkte Ausdrucksformen an die Seite gestellt werden.
 
An welche direkt-demokratischen Elemente oder Verfahren denken Sie?
 
Vor allem an zwei Instrumente: ein Initiativinstrument und ein Korrekturinstrument. Die Bevölkerung soll sowohl selbst Gesetze auf den Weg bringen können als auch Referenden über vom Parlament vorgelegte Gesetze und Entscheidungen durchführen können. Nehmen wir zur Veranschaulichung des Initiativinstruments folgendes Beispiel: Der "Berliner Wassertisch" konnte im Februar 2011 per Volksentscheid ein Gesetz beschließen lassen, welches die Offenlegung der geheimen Privatisierungsverträge beim Berliner Wasser zwingend vorschrieb. Diese Möglichkeit einer Volksgesetzgebung ist in Berlin seit 1995 in der Landesverfassung verankert. Seitdem hat nicht nur das Abgeordnetenhaus das Recht, Gesetze zu beschließen, zu verändern oder abzuschaffen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger. Solche Möglichkeiten sollte es auch auf Bundesebene geben.
 
Gegen die Verstärkung direkt-demokratischer Elemente wird oft der Einwand erhoben, die negative historische Erfahrung der Weimarer Republik, spräche dagegen. Wie sehen Sie diese Problematik?
 
Das Misstrauen gegen alle Formen direkter Demokratie sitzt in Deutschland tief, das ist wahr. Volksabstimmungen werden leicht mit der gefährlichen Herrschaft von Stimmungen uninformierter und wankelmütiger Bürger assoziiert. Die Ursachen für den Untergang der Weimarer Republik sind aber komplex und lassen sich keineswegs nur auf direktdemokratische Elemente zurückführen. Heutzutage besteht die Gefahr in der Unterwanderung der Repräsentativorgane durch den grassierenden Wirtschaftslobbyismus und einer zunehmenden Abwendung weiter Bevölkerungsteile von der Politik aufgrund mangelnder Einflussmöglichkeiten. Das bloße Recht, an Wahltagen Generalvollmachten an die politischen Entscheidungsträger auszustellen ist jedenfalls zu wenig, um eine Demokratie lebendig zu erhalten.
 
Warum setzen sich dann nicht mehr Politiker für die Verstärkung direkt-demokratischer Elemente ein?
 
Die etablierten Politiker sind in dieser Frage ambivalent: Einerseits sehen Sie, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik und der Möglichkeit ihrer Mitbestimmung gibt; sie wissen, dass sich die Bevölkerung weitaus stärker mit dem Gemeinwesen identifiziert, wenn es Möglichkeiten der direktdemokratischen Entscheidungsfindung gibt, und dass sie dann auch bereit ist, für das Gemeinwohl unpopuläre Reformen und Maßnahmen mit zu tragen. Andererseits befürchten die Politiker natürlich, dass ihre Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und das politische Feld heterogener wird. Es bestünde schließlich die Möglichkeit, dass bestimmte parlamentarische Entscheidungen so nicht mehr durchkämen, wie es jetzt geschieht und die Bürger mit der Gründung direktdemokratischer Gremien eine weitergehende politische Kreativität entfalten. Dies würde natürlich auch mehr Aufwand für die Politik bedeuten: Die Parteien müssten der Bevölkerung ihre Positionen erklären und sich mit neuen politischen Organen auseinandersetzen, um dann einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen.
 
Wie wollen Sie schutzwürdige Rechte vor direktdemokratischen Entscheidungen sichern?
 
Die direkte Demokratie unterliegt selbstverständlich der rechtsstaatlichen Kontrolle. Vor direktdemokratischen Abstimmungen muss es eine Prüfung geben, ob ein Gesetz mit dem Völkerrecht, dem Europarecht und dem Grundgesetz vereinbar ist. Nach dem Gesetzentwurf von "Mehr Demokratie e.V." für bundesweite Volksabstimmungen in Deutschland müssten Bundestag und Bundesregierung einen Antrag auf Volksbegehren zunächst prüfen und könnten das Bundesverfassungsgericht anrufen, falls sie ihn für unzulässig halten. Falls das Bundesverfassungsgericht ein Volksbegehren ganz oder teilweise für unzulässig erklärt, hätte die Initiative mehrere Monate Zeit, Teile ihres Vorschlags zu streichen oder ihn umzuformulieren. Durch diese präventive Normenkontrolle wäre gesichert, dass nur Vorlagen zur Abstimmung kommen, die dann auch umgesetzt werden können.
 
Zusätzlich zur Einführung der Volksentscheide und Volksgesetzgebung auf Bundesebene plädieren Sie im kommunal- und landespolitischen Bereich für eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an öffentlichen Unternehmen.
 
Ja, vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge. In Berlin gibt es zum Beispiel bei den Berliner Wasserbetrieben einen Beirat. In der bestehenden Form ist er jedoch vollkommen unbefriedigend, denn die Auswahl seiner Mitglieder ist undurchsichtig und seine Rechte sind gleich Null. Ein solcher Beirat sollte zumindest umfassende Informations- und Anhörungsrechte haben. Außerdem sollten dort neben Verbandsvertretern unabhängige Bürgerinnen und Bürger, die nicht etwa vom Unternehmen selbst bestimmt, sondern von der Bevölkerung – zum Beispiel via Internet – gewählt werden.
 
Was wollen Sie mit diesen Beteiligungsformen erreichen?
 
Durch die Ermöglichung der direkten Bürgerbeteiligung an öffentlichen Unternehmen der Daseinsvorsorge, soll sichergestellt werden, dass die Unternehmensentscheidungen sich an den gebotenen sozialen, ökologischen und ethischen Kriterien orientieren. In Zeiten, da die immer massivere Einflussnahme von Wirtschafts-Lobbyisten die Demokratie aushöhlt und
 die Führungskräfte in Verwaltung und öffentlichem Dienst sich im  Hinblick auf eine betriebswirtschaftliche Renditeorientierung gegenseitig zu übertreffen versuchen, muss die direkte Beteiligung und Kontrolle entschieden verstärkt werden, um die nötige Ausrichtung auf das Gemeinwohl herzustellen. Das gilt erst recht für öffentliche Unternehmen, die – etwa durch Teilprivatisierung im Rahmen sogenannter ‘Öffentlich-Privater-Partnerschaften‘ – dem direkten Einfluss der privaten Wirtschaft unterworfen sind.
 
Damit haben Sie in Berlin ja besonders negative Erfahrungen gemacht…
 
Ja, dort waren die Wasserbetriebe im Rahmen solch einer ‘Öffentlich-Privaten Partnerschaft‘ (PPP) teilprivatisiert worden. Nach 13 Jahren PPP waren die Wasserpreise um 35 Prozent gestiegen, drei Wasserwerke wurden geschlossen, ökologisch wichtige Wasserschutzgebiete in lukratives Bauland verwandelt, Verwertungsrechte auf Patente privatisiert und der Personalbestand der Berliner Wasserbetriebe massiv abgebaut. Aufgaben der Nachhaltigkeit wie Netzrehabilitation, Energieeffizienz und Reinigungsqualität wurden nur unzureichend angegangen, die Investitionen blieben hinter dem zurück, was von den Wasserkunden dafür bezahlt wurde, die Gewinne der Wasserbetriebe wurden zu Gunsten der Privaten ungleich verteilt, das Land Berlin haftete für die Gewinne der privaten „Partner" und hatte sich obendrein seiner Entscheidungsbefugnisse beraubt.
 
Im November 2013 kam es in Folge des Volksentscheids zur Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe. Trotz dieses positiven Beispiels der direkten politischen Einflussnahme stellt sich die Frage: Würden Ihre Vorschläge das Engagement der Bürgerinnen und Bürger nicht übermäßig beanspruchen?
 
Das glaube ich nicht. Entscheidend ist: Die gebotenen Möglichkeiten direkter Beteiligung dürfen keine ‘Mitmachfallen‘ in einer pseudodemokratischen Mitmachrepublik darstellen, das heißt, sie dürfen nicht nur dem ‚Akzeptanzmanagement‘ interessierter Kreise in Politik und Wirtschaft dienen, sondern die Bürgerinnen und Bürger müssen wirklich Einfluss nehmen können. Deshalb müssen alle Beteiligungsformen, insbesondere die Beteiligung an öffentlichen Unternehmen, mit spezifischen Rechten für die Bürgerinnen und Bürger verbunden sein. Wenn die Menschen erfahren, dass sie zwischen den Wahltagen tatsächlich Einfluss ausüben können, dann werden sie sich auf Dauer auch ausreichend beteiligen. Es muss ja nicht jeder überall mitmachen – das wäre auch eher kontraproduktiv - aber jeder sollte sich dort engagieren können, wo es ihm besonders wichtig ist.
 
Wären die Bürgerinnen und Bürger und Bürger nicht oft in ihrer Sachkompetenz überfordert?
 
Stuttgart 21 hat gezeigt, dass dies nicht zu befürchten ist. Diejenigen, die sich engagieren, können oft bereits nach kürzester Zeit auf Augenhöhe mit den sogenannten Experten diskutieren, sie sind häufig sogar besonders kreativ und beschreiten neue Lösungswege. Das bestätigen auch die Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung bei der Planung von großen öffentlichen Bauvorhaben und Ähnlichem.
 
Was halten sie von dem Einwand, zu viel Bürgerbeteiligung verlangsame die Entscheidungsprozesse unangemessen?
 
Das muss nicht sein, und wenn es tatsächlich einmal zur Verlangsamung von Prozessen kommt, so kann dies ausgeglichen werden durch eine schnellere und reibungslosere Umsetzung, da die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen in der Bevölkerung höher ist. Notwendige Informations- und Kommunikationsprozesse auszulassen hat sich noch immer gerächt, Proteste und Auseinandersetzungen rauben Zeit und führen zu einem massiven Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsproblem der Politik.
 
Angesichts der Anforderungen in der Arbeitswelt, der kompensatorischen Konsum- und Freizeitangebote und der eingeschränkten Informationsangebote durch die Massenmedien: Wie realistisch ist es, dass die Bürgerinnen und Bürger die direkt-demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten nutzen werden?
 
Keinesfalls unrealistisch, das Ganze ist ja als Prozess zu betrachten. Wenn die Menschen sehen, dass sie mitgestalten können, dann werden sich ihre Energien, die bisher in anderen Bereichen gebunden sind, verstärkt aufs Politische richten, längerfristig wird ein entsprechender Anpassungsdruck auf die genannten, zurzeit noch eher kontraproduktiven Umgebungsfaktoren ausgehen, wodurch diese dann positiv auf den partizipatorischen Prozess zurückwirken. Dies alles wird überdies die Qualität des politischen Führungspersonals verbessern. Nur die Möglichkeit zu besitzen, alle Jahre wieder am Wahltag einer Partei seine Stimme zu geben, die dann bei vielen einzelnen Fragen anders entscheidet, als man es für richtig hält, wirkt demotivierend. Ganz anders ist es, wenn man in Bereichen seiner Wahl beständig mitentscheiden oder zumindest die nötige Transparenz einfordern kann und gehört werden muss. Ich habe deshalb keinen Zweifel, dass die Bürgerinnen und Bürger die direkt-demokratischen Instrumente und Mitwirkungsmöglichkeiten nutzen und wahrnehmen würden.
Wichtig ist zu begreifen, dass repräsentative und direkte Demokratie sich nicht entgegen stehen, dass sie sich zu einer politischen Kultur der Teilhabe und beglaubigten Repräsentanz ergänzen, das ist das Demokratiegebot der Zukunft.
 
Frau von Wiesenau, ich danke Ihnen für dieses aufklärende Gespräch. (PK)
 
 
 
 
 


Online-Flyer Nr. 508  vom 29.04.2015



Startseite           nach oben