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Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

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Arbeit und Soziales
Einige Überlegungen zur aktuellen Debatte über die Tarifeinheit
Kontroverse Haltungen zum neuen Gesetzentwurf
Von Frank Deppe

Das Interesse am Thema „Einheitsgewerkschaft“ war in den vergangenen Jahren gering. Dennoch stoßen wir allenthalben auf Debatten, organisationspolitische Konflikte, politische Auseinandersetzungen, die mehr oder weniger direkt mit dem Thema „Einheitsgewerkschaft“ zu tun haben, z.B. aktuell bei der Gewerkschaft der Lokführer (GDL), die während ihres Streiks öffentlich nachdrücklich gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Tarifeinheit auftritt.


Hans Böckler
Quelle: DGB
1. Aktueller Bezug
1. Bei der Auseinandersetzung um diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung
stehen sich nicht allein Gewerkschaften, die außerhalb des DGB stehen, und DGB-Gewerkschaften gegenüber. Auch zwischen den DGB-Gewerkschaften – IGM und BCE auf der einen, ver.di, GEW, NGG auf der anderen Seite – ist die Stellung zum Gesetzentwurf kontrovers.
 
2. Zum Hintergrund des Gesetzentwurfes gehört: Kleine Berufsgewerkschaften, die außerhalb des DGB stehen, geraten aufgrund ihrer Streik-Militanz wie die GDL zunehmend in den Fokus des öffentlichen Interesses. Außerhalb des DGB erstarken ständische Berufsgewerkschaften z.B. von Ärzten, Piloten, Lokomotivführern. (1)
 
3. Zwischen Einzelgewerkschaften – vor allem zwischen den beiden größten Gewerkschaften, IG Metall und Ver.di – nehmen Konflikte um die Zuständigkeit für Mitgliederwerbung, Betriebsratswahlen und Tarifverträge in Unternehmen zu. Unter der Überschrift „Zwist unter Brüdern“ schrieb die „Wirtschaftswoche“ vom 9. 3. 15: „Wenn es um Macht und Mitglieder geht, ist es neuerdings häufig vorbei mit der brüderlichen Solidarität im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Seit das Bundesarbeitsgericht 2010 den Grundsatz ‚ein Betrieb – eine Gewerkschaft‘ kippte, suchen nicht nur renitente Spartenorganisationen wie die Lokführergewerkschaft GDL neue Betätigungsfelder. Auch viele DGB-Gewerkschaften verspüren nun die Verlockung, Mitgliederzahl und Beitragseinnahmen zu mehren, indem sie im Revier der Kollegen wildern“. Bei den jüngsten Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst der Länder reagierte die DGB-Gewerkschaft GEW verbittert darauf, dass Ver.di und der Beamtenbund einem Abschluss zustimmten, bei dem die Gleichstellung der angestellten Lehrer nicht erreicht wurde.
 
4. Nicht zu übersehen ist die Schwäche des DGB gegenüber den großen Einzelgewerkschaften. Diese ist nicht nur Resultat der organisationspolitischen Entscheidungen bei der Gründung des DGB im Jahre 1949, sondern auch Ergebnis eines „langen Sterbens der Einheitsgewerkschaft DGB“. (2)
 
5. Im Jahr 2015 wird des 70. Jahrestages der Befreiung von Faschismus und Krieg gedacht. Dieses Datum ist für die Linke besonders wichtig, um einen Kontrapunkt gegen die herrschende Geschichtspolitik zu setzen, die die „Sieger der Geschichte“ um die Jahre 1989 – 1991 inszenieren. Die Gründung der Einheitsgewerkschaft in den Jahren nach 1945 stand im Zeichen der weltweiten Losung „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus!“. Angesichts der zunehmenden Kriegsgefahren und des Aufstiegs rechtspopulistischer und neonazistischer Organisationen und Bewegungen in Europa ist es besonders wichtig, dass sich die Gewerkschaften ihrer geschichtlichen Wurzeln erinnern.
 
2. Der historische Ausgangspunkt
 
Einheitsgewerkschaften (auch Ansätze von Einheitsparteien) waren nach 1945 eine Antwort auf das „Zeitalter der Katastrophen“ (Eric Hobsbawm) auf die beiden Weltkriege, auf Weltwirtschaftskrise und Faschismus, auf das Verbot freier Gewerkschaften, die Verfolgung, Vertreibung, Ermordung unzähliger Angehöriger der Arbeiterbewegung. Am 8. Mai 1945 hatte das Bündnis von Sozialismus und Demokratie („Die Anti-Hitler-Koalition“) den Faschismus (und den deutschen und japanischen Imperialismus) besiegt. Auf der Tagesordnung standen eine „Neuordnung“ der Welt (UNO-Gründung, Erklärung der Menschenrechte, Ende des Kolonialismus) und eine „Neuordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik“ in den Nationalstaaten Europas. Deutschland war verkleinert, von den Siegermächten besetzt und „aufgeteilt“, seit 1949 in BRD und DDR. Die Linke, die sozialistische und kommunistische Linke mit ihren Parteien und Gewerkschaften gehörte zu den Siegern. „Neuordnung“ bedeutete: Poltische „Entnazifizierung“ plus – als Programm wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen – Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien, Planwirtschaft (zum Wiederaufbau nach dem Krieg), Wirtschaftsdemokratie und Sozialstaatlichkeit. Es ging darum, jene Produktions- und Machtverhältnisse zu verändern, aus denen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts (Kriege, Krisen, Faschismus) entstanden waren. Kapitalismus, Faschismus und Krieg waren als Zusammenhang begriffen! (3)
 
Dabei sollten auch historische Fehler und Versäumnisse der Arbeiterbewegung überwunden werden, die den Sieg des Faschismus in der Zwischenkriegsperiode ermöglicht hatten – insbesondere die Spaltung zwischen den verschiedenen weltanschaulich-politischen Strömungen in der Arbeiterbewegung: christliche, sozialdemokratisch-reformistische und kommunistisch-revolutionäre Strömungen und Organisationen. Neuordnung – so das herrschende Bewusstsein in der Linken – kann nur durch „Einheit“ verwirklicht werden. Die Einheit war so als politisches Projekt definiert!
 
So hat zum Beispiel der legendäre Führer der italienischen Sozialisten (PSI), Pietro Nenni, 1977 den „Geist“ dieser Jahre nach 1944 (in Italien) beschrieben: „Der Geist war fundamental auf die Einheit gerichtet („unitario“). Das erste Manifest wurde mit der Losung eröffnet: ‚eine Klasse, ein Ziel, eine Partei“ („una è la classe, una la meta, uno deve essere il partito“). Die Bestrebungen waren – hier in Italien – darauf ausgerichtet, die Spaltungen aus der ‚schmerzhaften Epoche‘ der Jahre 1921-2 mit den Kommunisten und den Reformisten zu überwinden. (4) Für die deutschen Gewerkschafter (wie Hans Böckler) hatte der Ruf von Wilhelm Leuschner – kurz vor seiner Hinrichtung durch die Nazis im September 1944 – „Schafft die Einheit!“ – eine starke symbolische Bedeutung. Daran knüpften auch antifaschistische und linke Gewerkschafter wie Willi Bleicher an, wenn sie immer wieder dazu aufforderten, die „Einheit wie einen Augapfel zu hüten“. Auch im „Manifest von Buchenwald“ wurde die Bildung von „antifaschistischen Einheitsgewerkschaften“ gefordert. (4)
 
3. Organisationsprinzipien der DGB-Gewerkschaften nach 1945
 
- Die Gründung der Einheitsgewerkschaft bedeutete die Überwindung des Prinzips der poltisch-weltanschaulichen Richtungsgewerkschaften (Christen, Sozialdemokraten, Kommunisten). Solche Richtungsgewerkschaften gibt es heute noch in zahlreichen Ländern der EU. Einheitsgewerkschaften gibt es noch in Österreich (ÖGB) sowie in den skandinavischen Ländern.
 
- Im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) schlossen sich Industriegewerkschaften (als Branchengewerkschaften) nach dem Prinzip („Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“) zusammen. Damit wurde das Prinzip der Berufsgewerkschaften, das bis 1933 vorgeherrscht hatte, überwunden. Sehr umstritten blieb bis zur DGB-Gründung im Jahre 1949 die Ablehnung einer
Sonderorganisation für die Angestellten in der Tradition des AFA-Bundes (im ADGB) vor 1933. Die Abspaltung DAG wurde erst mit der Ver.di-Gründung am Ende des Jahrhunderts überwunden. Im Bereich des öffentlichen Dienstes gab es nicht nur die Konkurrenz mit dem Deutschen Beamtenbund – es existierten am Anfang (und existieren bis heute) mehrere DGB-Gewerkschaften: ÖTV; GEW; Post DPG; Eisenbahner, GDED; Polizei, Gartenbau und Landwirtschaft, Kunst).
 
Mit dem Bekenntnis zur Einheitsgewerkschaft und der Ablehnung des Berufsverbandsprinzips bzw. von berufsständischen Organisationsprinzipien war zugleich der Anspruch verbunden, dass der DGB – als Dachverband – nicht nur für alle Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch für alle Lohnabhängigen sprechen darf und muss. Dem lag zugrunde, dass die Lohnabhängigen einerseits besondere – mit ihren Arbeits- und Berufserfahrungen, aber auch mit ihrer Qualifikation verbundene Interessen - andererseits aber auch (mit ihrer sozialen Existenz als Lohnabhängige
verbundene) allgemeine Interessen haben. Diese müssen in den Auseinandersetzungen mit der Gegenmacht des Kapitals und den – mit den Kapitalverbänden verbundenen – politischen Repräsentanten in Parlamenten und Regierungen von den Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden.
 
Der Gedanke der Einheitsgewerkschaften beruht somit auf dem Prinzip der Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen gegenüber dem gemeinsamen sozialen und politischen Gegner. Aufhebung der Konkurrenz zwischen den individuellen LohnarbeiterInnen und den verschiedenen Gruppen durch die Macht der kollektiven Interessenvertretung ist das Grundprinzip gewerkschaftlicher Organisierung und Interessenvertretung. (5) Allgemeine Interessen betreffen z. B. die Verteidigung der Demokratie, des Friedens, die Ablehnung des Faschismus, aber auch – in der Auseinandersetzung mit den Regierungen und ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik – Fragen der Wirtschaftsdemokratie, der Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik, der Bildungs- und der Kulturpolitik. Die Grundsatzprogramme des DGB – vor allem aber das sog. Münchener Programm des DGB-Gründungskongresses im Jahre 1949 – beinhalten stets politische Forderungen und Ziele im Interesse der Lohnabhängigen. Allerdings bezog sich das politische Mandat immer auch auf die politischen Parteien der Arbeiterbewegung und deren Bedeutung für die Gesetzgebung im Parlament. Das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften wurde besonders in der deutschen Sozialdemokratie nach dem Ende des Sozialistengesetzes (1891) immer wieder in großen Debatten (Neutralitätsdebatte, Massenstreikdebatte) thematisiert! (6)
 
Diese Dialektik von besonderen und allgemeinen Interessen der Lohnabhängigen spiegelt sich formell in der Organisationsstruktur. Im politischen Handeln selbst bedarf es immer wieder – ohne dass dabei das „Kerngeschäft“ der Einzelgewerkschaften (Tarifpolitik, Mitgliederwerbung, Betreuung der Betriebsräte, Rechtsschutz) in Frage gestellt wurde – der Erneuerung dieses allgemeinen, „politischen Mandats“ der Einheitsgewerkschaft in der Vermittlung mit den besonderen Interessen der Einzelgewerkschaften. Darin bestünde dann auch die politische Führungsaufgabe des DGB als dem „Dach“ der Einzelgewerkschaften – mit einem Schwerpunkt im politischen Raum. Politisierung heißt immer: Aggregierung und Verdichtung einer Vielfalt von besonderen Interessen! Hans Böckler, der erste Vorsitzende nach 1949, hat bis zu seinem frühen Tod im Februar 1951 diese Funktion z. B. in der Auseinandersetzung a) um das Montanmitbestimmungsgesetz (1950/51), und b) in der beginnenden Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz (1952) wahrgenommen. Viktor Agartz, der zu dieser Zeit Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB (WWI) war und als „Chefideologie“ des DGB galt, vertrat diese Programmatik gesellschaftspolitischer Reformen besonders konsequent – am Anfang allerdings noch in Überstimmung mit der Programmatik der SPD!
 
Gegen die Vorstellung von einer Allgemeinen Gewerkschaft, in der – wie beim FDGB in der sowjetischen Zone – die Industrieverbände Abteilungen der Gesamtorganisation sind, die also über eine „starke Zentrale“ verfügt, setzte sich beim DGB das Modell „schwache Zentrale“ (DGB), „starke Industrieverbände“ (mit Finanzhoheit und eigenständiger Tarifpolitik) durch. In der britischen Besatzungszone lehnten auch die Vertreter der Besatzungsmacht dieses Modell ab; dabei spielte die Furcht vor einem zu großen Einfluss der Kommunisten eine Rolle. Daraus folgte: die damals an Mitgliedern und Finanzen stärksten Einzelgewerkschaften (die IG Metall als
Industriegewerkschaft, die ÖTV als Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes und deren Führungen) waren gleichzeitig – nicht nur über den Delegiertenschlüssel bei den DGB-Kongressen – die Machtzentren im DGB. Allerdings: auch die kleineren Gewerkschaften (wie die IG Druck und Papier, die Leder-, Textil- und Holzgewerkschaften, die IG Bau-Steine-Erden) erfreuten sich einer relativen Autonomie. Diese trug z. B . bei der IG Druck und Papier dazu bei, dass – auch in den Hochzeiten des Kalten Krieges – sowohl in der Mitgliedschaft, bei den Betriebsräten und den (ehrenamtlichen wie hauptamtlichen) Funktionären der Organisation linke, klassenorientierte Einstellungen erhalten blieben. Diese Machtasymmetrie zwischen großen und den kleinen Gewerkschaften im DGB hat sich natürlich infolge der Fusionen bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts noch verstärkt. (PK)
 
Frank Deppe ist ein deutscher Politikwissenschaftler, ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac, gehört zum Redaktionsbeirat der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung und ist seit dem 1. Dezember 2012 im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Politische Theorie, Geschichte und Politik der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung gehören zu den Schwerpunkten seiner Forschung sowie die Politische Soziologie der Gewerkschaften, die Europäische Integration und Internationale Politische Ökonomie. Seinen Text werden wir in mehreren Teilen veröffentlichen.
 
(1) Ein empirischer Überblick zum „Gewerkschaftspluralismus“ findet sich bei Detlef Hensche: Hände weg von der Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Streikrecht. Über das Gesetz der Bundesregierung zur Tarifeinheit, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Analysen Nr. 17, Berlin o.J. (2015), S. 4 – 11.
(2) So Eberhard Fehrmann, Death of a Clown. Vom langen Sterben der Einheitsgewerkschaft DGB, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 6/2009.
(3) Vgl. Frank Deppe, 1945 – 1975: Was lehrt uns die Geschichte? In: Baier, Walter / Müller, Bernhard / Himmelstoss, Eva , Hrsg., Vereintes Europa – Geteiltes Europa, Transform Jahrbuch 2015, Hamburg: VSA, S. 70 – 96.
(4) Pietro Nenni, Intervista sul socialismo italiano, Bari 1977, S. 61/ 62.
(5) Dieter Sauer (Die neue Unmittelbarkeit des Marktes, in: Gewerkschaftliceh Monatshefte, 5 / 2003, S.258) hat diese Grundbestimmung gewerkschaftlicher Interessenvertretung sehr gut zusammengefasst: „Gewerkschaften wurden begründet, um die Risiken abzufedern, die aus dem Warencharakter der Arbeitskraft für ihren Besitzer, den konkreten Menschen, entstehen. Dies gilt für die Bedingungen des Verkaufs, den Preis, den es zu erzielen gilt, um das Einkommen und damit die materielle Existenz zu sichern, und genauso auch für die Bedingungen der Nutzung von Arbeitskraft im Arbeitsprozess, um zu verhindern, dass lebendige Arbeit durch maßlosen Gebrauch geschädigt oder gar zerstört wird. Gewerkschaften haben zusammen mit anderen Teilen der Arbeiterbewegung also dazu beigetragen, dass Arbeitskraft ‚dekommodifiziert’ wird, d.h. dass sie eben nicht wie eine einfache Ware behandelt wird, sondern besonderen Schutz erhält. Dieser Schutz wurde und wird – und das macht die Gewerkschaften aus – in solidarischen Formen erkämpft. Das ist die
Kernkompetenz der Gewerkschaften – und nichts anderes“..
(6) Vgl. dazu Frank Deppe, Partei und Gewerkschaft. Anmerkungen zu einem stets neu zu durchdenkenden Thema, in: Sozialismus, 1/2012, S. 35 – 44.
 
 
 


Online-Flyer Nr. 512  vom 27.05.2015



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