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Literatur
Miloslav Formáneks "Rollback: Die Restauration des Kapitalismus in Tschechien"
Ein Buch zur „Liquidierung der Tschechoslowakei“
Von Anton Latzo

Nach der sogenannten Samtenen Revolution 1989 erfolgte in der Tschechoslowakei ein Systemwechsel. Nicht nur die politischen Institutionen wechselten ihre Inhaber, sondern auch die bis dahin volkseigenen Betriebe. Die beiden föderalen Staaten trennten sich, Tschechien wurde Mitglied der EU und der NATO. Und die Wirtschaft wurde sukzessive von westlichen Konzernen und Ketten übernommen. Der Autor, der Prager Philosoph, Soziologe und Politologe Miloslav Formánek, war Vorsitzender des theoretisch-analytischen Bereichs beim ZK der KP Böhmen und Mähren und ist Mitglied des Zentrums für Strategische und Theoretische Studien beim ZK der KPBM.
Als bewusster Mitgestalter sozialistischer Verhältnisse in der CSSR bis 1990 und aktiver Teilnehmer der Kämpfe für die Bewahrung und Durchsetzung der sozialistischen Ideen bis in die Gegenwart legt Formánek eine wissenschaftlich fundierte Analyse der tatsächlichen konterrevolutionären Vorgänge, der damit verbundenen Politik der „neuen Eliten“ und deren Ergebnisse in der CSSR vor, die wichtige Erkenntnisse für die Bewertung der Ereignisse in allen Ländern des heutigen Osteuropa vermittelt.
 
Es ist eine der wenigen Publikationen, die nach 1990 dieses Thema in dieser Breite und Tiefe behandeln. Sie wurde in hoher Qualität von Klaus Kukuk, einem profunden Kenner der tschechischen Verhältnisse und der Entwicklungen nach 1989, ins Deutsche übertragen und im Berliner Verlag am Park herausgegeben.
 
Ein Vorzug der Untersuchung besteht auch darin, dass der Autor zwischen ideologischer und antikommunistisch geprägter Begleitmusik und den tatsächlichen Geschehnissen unterscheidet. Er analysiert und bilanziert, was tatsächlich geschehen ist und welche Auswirkungen es für das Land und seine Bewohner hatte und hat. Auf diese Weise informiert er über das Innenleben in Tschechien, vermittelt aber auch Erkenntnisse, die beim Studium der Vorgänge in den anderen osteuropäischen Ländern von Nutzen sind. So stellt Formánek fest: „Der Sinn der kapitalistischen Restauration bestand nicht darin, Wohlstand für alle zu sichern, sondern in der Restitution privatwirtschaftlichen Eigentums. Dafür waren die rechtskonservativen Politiker alles zu opfern bereit: die sozialen Errungenschaften der Gesellschaft, den gemeinsamen Staat von Tschechen und Slowaken, sogar die staatliche und nationale Souveränität des Landes. … Selbstkritisch muss in diesem Zusammenhang auch gesagt werden, dass die linken Kräfte unwidersprochen diese demagogische Gleichsetzung von Demokratie und Kapitalismus hinnahmen. Mehr noch: Ein großer Teil wurde selbst zu Apologeten und redete der Restauration des Kapitalismus das Wort. … Eine gewöhnliche Konterrevolution nahm ihren Lauf und restaurierte in Böhmen und Mähren ein Gesellschaftssystem von gestern“. (S. 17/18)
 
Nach Auffassung des Autors durchlief die Restauration des Kapitalismus in der Tschechoslowakei vier grundlegende Phasen:
1.     die Etappe der grundlegenden institutionellen Veränderungen (1990-1993),
2.     die Etappe der Versuche zur Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik (1995-1998),
3.     die Etappe der Versuche zur Korrektur von Fehlern der Transformation und der Überführung der Tschechischen Republik in die EU (1999-2004) und
4.     schließlich die Etappe der großen Krise und sozialen Verwerfungen, die noch andauert.
 
In einem recht umfangreichen Kapitel untersucht der Autor den Verlauf des Privatisierungsprozesses. Er stellt fest, dass neben der Liberalisierung des Marktes die Veränderung der Eigentumsverhältnisse durch Privatisierung und Restitutionen und das Eindringen des ausländischen Kapitals die grundlegenden Faktoren waren, die die gegenwärtige Gestalt der tschechischen Ökonomik prägen.
 
Der politische Charakter dieser Maßnahmen sei darin sichtbar, dass nicht etwa von „nationalisiertem“, „verstaatlichtem“ oder „genossenschaftlichem Eigentum“ gesprochen wurde, sondern ausnahmslos „von Kommunisten gestohlenem Eigentum“.
Die Eigentumsverhältnisse in Tschechien wurden auf folgenden Wegen verändert:
a) einmal durch die Gesetze über die Restitutionen,
b) mit dem Gesetz über die kleine Privatisierung,
c) mit dem Gesetz über privates Unternehmertum der Bürger,
d) durch die unentgeltliche Übertragung von Staatseigentum auf die Gemeinden und
e) mit Hilfe des Gesetzes über die Transformation der Genossenschaften.
 
Nachdem er einzelne Wege behandelt, wendet sich der Autor besonders dem Gebiet der Restitutionen zu. Er weist darauf hin, dass Tschechien das einzige Land war, in dem ein solches Vorgehen praktiziert wurde. Das betraf besonders die Restitution des Bodens und die Restitutionen an die Kirchen. Schließlich wendet sich die Untersuchung dem ausländischen Kapital zu. Der Verkauf von Nationalvermögen an ausländische Interessenten wurde zur Hauptmethode der Privatisierung. Die Liberalisierungsprozesse ermöglichten eine massenhafte Mitwirkung supranationaler Gesellschaften in den Eigentums- und Unternehmensstrukturen innerhalb der Wirtschaft der Tschechischen Republik. „Der Zufluss ausländischen Kapitals erfolgte so unter Bedingungen, die sich das Kapital selbst gab. Das war jedoch nicht an Investitionen in dieses Land interessiert, sondern nur in sich selbst, in seinem eigenen Interesse.“ (S.64)
 
Außer den ökonomischen Folgen kommt der Autor zu dem Schluss: Die Mehrzahl bedeutender tschechischer Firmen wurde letzten Endes von supranationalen Gesellschaften geschluckt. „Offensichtlich war die konkrete Tendenz einflussreicher politischer Kreise in Deutschland, sich wirtschaftlich und sprachlich an deutsche Unternehmen gebundene Bereiche im Sinne der Subregionalisierung Mitteleuropas unterzuordnen. Es zeichnete sich die mögliche Gefahr einer ökonomisch angelegten Germanisierung von Teilregionen in der Tschechischen Republik ab“.(S. 66) Es wird eingeschätzt, dass in Tschechien 3.500 bis 4.000 deutsche Unternehmen tätig sind. Deutschland sei für die Tschechische Republik auch bislang der größte Handelspartner. Etwa ein Drittel des tschechischen Exports ist vom Absatz in Deutschland abhängig. „Die tschechische Ökonomik ist mit der deutschen nicht nur verknüpft, sondern geradezu existenziell abhängig und kopiert nahezu restlos ihre Bewegungen.“ (S. 77) Nachdem die Analyse weiter ausgedehnt wird (bis zur Medienlandschaft) kommt der Autor u.a. zu dem Schluss, dass die tschechische Volkswirtschaft ein Anhängsel der Ökonomik der EU ist, das als Sublieferant auftritt, dem autonomes know how fehlt, ein Verkäufer weniger qualifizierter Arbeitskräfte und Importeur von Lebensmitteln ist. (S. 75)
 
In einem weiteren Teil wird die soziale Frage zum Schwerpunkt der Untersuchung gemacht.   Die Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen habe bewirkt, „dass sich die Lage der 'Marktpartner', der Arbeiter, Angestellten und nichtbevorzugten Gruppen allmählich von der Lage ihrer Antipoden, der Unternehmer und Eigentümer jenseits der Grenzen eindeutig zu unterscheiden begann.“ (S.92) Die Frage des Rechts auf Arbeit, der Erneuerung der Beziehungen zwischen Unternehmer und Beschäftigten unter kapitalistischen Bedingungen und schließlich die Arbeitslosigkeit, die zu einer ständigen und beunruhigenden Erscheinung wurde, sind weitere Themen der Ausführungen zu diesem Komplex. Ebenso wendet sich der Autor den „alten und neuen Mittelschichten“, der Erneuerung des „Bauernstandes“ und dessen scharfe Differenzierung zu. Weitere wichtige Themen sind der Verfall des Lebensniveaus sowie die Entwicklung von Reichtum und Armut in Tschechien.
 
Danach betrachtet der Autor die Entwicklungen des politischen Systems. „Es dauerte nicht allzu lange und es begann die Abhängigkeit von Gliederungen der Staatsmacht von der Exekutive zutage zu treten. … Gleichzeitig begab sich die Staatsmacht in die Abhängigkeit von Grüppchen, Cliquen, Familien einflussreicher Politiker, die sich in Verbindung mit Kapitalgruppen (Paten) durchsetzten.“ Rasch wuchsen Macht und Kapital zusammen. (S.129) Konkreter werden diese Prozesse u.a. unter dem Stichwort Demokratie nachgezeichnet. Einen wichtigen Punkt sieht er in der „Liquidierung der Tschechoslowakei“, die „keineswegs unausweichlich notwendig“ war. (S. 140) „Die Gründe für die Trennung bestanden jedoch keineswegs in der 'Künstlichkeit' des Staates und in der 'problematischen' föderalen Gestaltung. Sie waren wesentlich tiefer in den Vorhaben der Großmächte über eine neue globale machtpolitische Gestaltung begründet.“ Die Tschechoslowakei wurde so als einer der ersten Staaten Mittelosteuropas in den Prozess der Balkanisierung hineingezogen. Im Weiteren wird die Entwicklung der Fragen der „De-Etatisierung“ und des Umgangs mit den Aufgaben des Staates und seiner Organe verfolgt. „Zur Achse der politischen Welt der Tschechischen Republik wurde entgegen jedweder politischen Logik eines wirklich demokratischen Systems, aber in Übereinstimmung mit der restaurierten kapitalistischen Ordnung, die Regierung.“ Ihre Dienstfertigkeit gegenüber den Unternehmern und den supranationalen Monopolen wurde gestärkt. (S.150) Es folgt die Behandlung der Entwicklung der staatlichen Verwaltung, der Ausnutzung des Rechts, der Ungleichbehandlung der Bürger bis hin zu Fragen der Entfernung der Armee vom Volk und ihrer „Profesionalisierung“. Relativ breiter Raum wird der Tätigkeit der nach 1990 amtierenden Präsidenten der Republik zugewiesen. Ebenso wird die Parteienentwicklung, die Entpolitisierung und Syndikalisierung sowie die Stellung der Bürger dargestellt.
 
Das den Fragen der Außenpolitik gewidmete Kapitel behandelt die verschiedenen Vorstellungen, die bei der Suche einer Konzeption wirksam wurden, die Entfernung von der Slowakei sowie die Probleme der Entwicklung der Standpunkte zur Souveränität Tschechiens. Die tschechische Außenpolitik nach 1989 „war tatsächlich die konsequente Fortsetzung der dominanten Richtung der Innenpolitik“. (S.224) Anknüpfend an die Außenpolitik der Tschechoslowakei wird darauf verwiesen, dass sie unter heutigen Bedingungen „kaum Ambitionen anmelden (kann) auf eine Rolle zwischen West und Ost“. Sie sei „aber auch nicht bereit, die Rolle einer Pufferzone zu übernehmen“. (S.227) Der Autor kommt zu dem Schluss, dass „eine übermäßige Unterordnung unter mächtige ausländische Einflussnahme … die ökonomische und politische sowie auch die ethnische, nationale, kulturelle Eigenständigkeit und Existenz gefährden (könnte)“. (S.228)
 
Einen relativ breiten Raum nehmen die Ausführungen zum Thema „Tschechien in der NATO und EU“ ein. Die Entscheidung, der NATO beizutreten, sei aus dem Bestreben des Regimes, das nach 1989 eingeführt wurde, erfolgt, sich selbst abzusichern. „Den NATO-Strategen war letzten Endes die Souveränität von Ländern wie Tschechien und Polen gleichgültig. Es interessierten sie die geostrategischen Vorteile“, meint Formánek. Der Sinn des Beitritts Tschechiens zur EU „bestand darin, die kapitalistischen Strukturen in der tschechischen Gesellschaft zu festigen, zu versuchen, bessere Bedingungen in der internationalen Konkurrenz zu schaffen. Die Entwicklung aber „blieb ungleichmäßig und wird es auch in der langfristigen Perspektive bleiben“. „Tschechien war langfristig zu einer semiperipheren ökonomischen Position verurteilt und suchte sich schwierig seinen Weg zwischen nationaler und globaler Identität“. (S. 241) Immer häufiger war es notwendig, auch „nüchtern die dunklen Seiten wahrzunehmen und zu bewerten, wie das reale Maß der sozialen Differenzierung, den Grad der Beschäftigungslosigkeit und das unbefriedigende Ausmaß der Armut.“ (S. 243)
 
Und schließlich wendet sich der Autor dem Schicksal der Kultur zu. Er stellt fest: „auf dem Gebiet der Kultur, in der Kultur der Beziehungen und des Umgangs, im kulturellen Erbe und auf dem Gebiet der lebendigen Kultur – einschließlich des Austauschs kultureller Werte mit dem Ausland – haben sich entgegen naiver Erwartungen schnell Werte durchgesetzt, die im kapitalistischen Betrieb üblich sind“. (S. 247) Seine Ausführungen wenden sich den zentralen Fragen der Lage in Bildung und Wissenschaft wie den Massenmedien und der Manipulationsinstrumente zu.
 
Die abschließenden Erwägungen beginnt Miloslav Formánek mit der Schlussfolgerung: „Unsere kleine tschechische Erfahrung bestätigt eine große Erfahrung: wie unendlich riskant ist es, scheinheilig die Emanzipation durch Rückkehr zum ancien regime, zu einem System, das sich nie aus inneren zerstörerischen Widersprüchen herauswinden konnte, zu erklären“.
 
Mit dieser Publikation wurde eine Arbeit vorgelegt, die umfassend informiert und dem Leser Anregungen zum Weiterdenken über grundsätzliche Fragen der Entwicklung der Gesellschaft und der Gestaltung aktueller Politik gibt. (PK)
 
Miloslav Formánek, "Rollback. Die Restauration des Kapitalismus in Tschechien",erschienen im Verlag am Park, Berlin, 2015, 310 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 978-3-945187-29-6

Anton Latzo, geb. 1938, ist Historiker und Politikwissenschaftler, war am Institut für Internationale Beziehungen der DDR in Potsdam-Babelsberg Lehrstuhlleiter für Geschichte und Politik der damaligen Warschauer Vertragsstaaten. Er verfolgt auch nach 1990 die Entwicklung und Politik dieser Länder und hat in letzter Zeit besonders zum Kampf in der Ukraine, zum 8. Mai und Betrachtungen zu anderen osteuropäischen Staaten veröffentlicht.




 


Online-Flyer Nr. 523  vom 12.08.2015



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