Pläne des neuen Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik Kamp
Die Artikel-5-Welt bald gegen Russland?
Von Hans Georg
Eine neue NATO-"Südstrategie" und eine erneute Erweiterung des Kriegsbündnisses stehen auf der Tagesordnung des heute beginnenden NATO-Außenministertreffens in Brüssel. Die südeuropäischen Mitgliedstaaten drängten schon eine Weile darauf, die Bündnisaktivitäten nicht ausschließlich auf Osteuropa zu fokussieren und einen neuen Schwerpunkt in der arabischen Welt zu bilden, berichtet der im Oktober ins Amt gehobene Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Karl-Heinz Kamp. Dies stehe nun zur Debatte. Dabei gehe es auch darum, Länder wie Jordanien oder Tunesien als "Partner" enger als bisher anzubinden - und sie für die Kriegführung in der arabischen Welt exklusiv aufzurüsten und zu trainieren. Dass die NATO darüber hinaus Montenegro jetzt den Beitritt vorschlagen will, richtet sich Kamp zufolge gegen Russland: Man wolle Moskau demonstrieren, dass man bei der Aufnahme neuer Mitglieder nicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen anderer Mächte bereit sei. Wie der BAKS-Präsident äußert, werde man sich stärker als bisher nicht mit der etwaigen Aufnahme der Ukraine als vielmehr mit einer Aufnahme Finnlands und Schwedens in das Kriegsbündnis befassen müssen.
BAKS-Präsident Karl-Heinz Kamp
Quelle: BAKS
Ein gemischtes Bild
Kurz vor dem Treffen der NATO-Außenminister, das am heutigen Dienstag begann, hat der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Karl-Heinz Kamp, Bilanz über den Entwicklungsstand des Bündnisses gezogen. Kamp nimmt bereits den nächsten NATO-Gipfel, der am 8. und 9. Juli 2016 in Warschau stattfinden soll, in den Blick. Dessen Vorbereitung dient auch das aktuelle Außenministertreffen. Kamp zufolge bietet die NATO zurzeit "ein gemischtes Bild".[1] Einerseits habe der neue Konflikt mit Russland "die Allianz geeint und ihre Kernfunktion als Verteidigungsbündnis reaktiviert"; man sehe sich "wieder den Realitäten einer 'Artikel-5-Welt' ausgesetzt, in der Bündnissolidarität nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages oberste Aufgabe ist". Andererseits gebe es Differenzen in der Frage, worauf die NATO ihren geografischen Schwerpunkt legen solle. Vor allem die südeuropäischen NATO-Mitglieder seien unzufrieden damit, dass das Bündnis sich zurzeit weitgehend auf den Machtkampf gegen Russland und damit auf Osteuropa fokussiere. Sie verlangten eine Ausweitung der Aktivitäten auf die arabische Welt.
Ankerstaaten in der arabischen Welt
Da auch die großen NATO-Staaten mit dieser Forderung sympathisieren, bereitet das westliche Kriegsbündnis in der Tat eine neue "Südstrategie" vor. Ein erster Bericht dazu soll auf dem heute beginnenden Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel vorgelegt werden; der Generalsekretär des westlichen Kriegsbündnisses, Jens Stoltenberg, stellt eine Verabschiedung auf dem NATO-Gipfel am 8./9. Juli 2016 in Warschau in Aussicht. Aktuellen Planungen zufolge wird es nicht nur darum gehen, eigene Einsatzszenarien zu entwickeln und die nötigen Kapazitäten dafür bereitzustellen. Man werde vor allem auch Verbündete in der Region an sich binden und für die Kriegführung fit machen, heißt es; genannt werden exemplarisch Irak, Jordanien und Tunesien (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Als Instrument dazu gilt die Einführung von "Partnerschaften" eines neuen Typs. Wie BAKS-Präsident Kamp erläutert, will die NATO künftig "gemäß ihrer Bedürfnisse Staaten" auswählen, "die - sofern sie dazu bereit sind - mit der NATO partnerschaftliche Aktivitäten durchführen". "Dabei geht es darum, von den Partnern Unterstützung etwa im Krisenmanagement zu erhalten und im Gegenzug durch Training oder Ausrüstungshilfe die Partnerstaaten zu effizientem Handeln zu befähigen." Die neuen "Partner" würden quasi zu NATO-"Ankerstaaten", vorerst wohl überwiegend oder sogar ausschließlich in der arabischen Welt.
Aggressiv nach Osten
In seiner Bilanz analysiert Kamp auch die jüngsten, aggressiv gegen Russland gerichteten NATO-Aktivitäten in Ost- und Südosteuropa. "Zur Überraschung mancher Bündnispartner hat sich gerade Deutschland am Aufbau neuer Verteidigungsfähigkeiten in Osteuropa besonders beteiligt", hält der BAKS-Präsident fest. Tatsächlich hat die Bundeswehr eine führende Rolle beim Aufbau der NATO-"Speerspitze" (Very High Readyness Joint Task Force, JTF) übernommen (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Geführt wird die VJTF im Fall einer Intervention vom Multinationalen Korps Nordost im polnischen Szczecin, in dem die Bundeswehr derzeit etwa 100 von rund 400 Soldaten sowie mit Generalleutnant Manfred Hofmann den Kommandeur stellt. In Verbindung mit dem Aufbau der VJTF hat die NATO in sechs Mitgliedstaaten Ost- und Südosteuropas sogenannte NATO Force Integration Units (NFIU) errichtet - kleine Stützpunkte, auf denen dauerhaft rund 40 Soldaten stationiert sind und die bei Bedarf binnen kürzester Frist von der NATO-"Speerspitze" genutzt werden können. NFIUs existieren mittlerweile in Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Bulgarien; weitere sollen in Ungarn und der Slowakei folgen.
Russland im Visier
Die besondere Bedeutung des Machtkampfs gegen Russland spiegelt sich in Kamps Analyse exemplarisch wider. Die russischen Streitkräfte hätten zuletzt mit ihren "Snap Exercises" bewiesen, dass sie "innerhalb zwei bis drei Tagen mehrere zehntausend Mann mobilisieren und konzentrieren" könnten, erklärt der BAKS-Präsident. "Dem wäre die weniger als 5.000 Mann umfassende schnelle Eingreiftruppe VJTF im Ernstfall nicht gewachsen", zumal deren reale Reaktionszeit "bestenfalls fünf bis sieben Tage" betrage. Daran müsse gearbeitet werden. Moskau entwickle - im Bewusstsein, der NATO trotz allem bei den konventionellen Waffen letztlich unterlegen zu sein - Konzepte, "um in Teilen Osteuropas im Konfliktfall mit sogenannten 'Area Denial'-Maßnahmen den NATO-Nachschub zu blockieren oder durch nukleare Drohungen das Bündnis zu spalten", schreibt Kamp. Er empfiehlt "entsprechende Gegen-Konzepte".
Keine Rücksichtnahme
Gegen Russland richtet sich auch die aktuelle NATO-Erweiterungspolitik. Wie berichtet wird, wollen die NATO-Außenminister auf ihrem aktuellen Treffen Montenegro die Aufnahme in das Bündnis anbieten. Das Land ist im Dezember 2006, lediglich sechs Monate nach seiner Abspaltung von Serbien, der NATO-"Partnership for Peace" beigetreten und hat schon kurze Zeit später begonnen, sich um den Beitritt zu dem Kriegsbündnis zu bemühen. Montenegro beteiligt sich am Afghanistan-Einsatz und stellt derzeit 14 Soldaten - ein Beitrag, der lediglich symbolische Bedeutung hat. Die NATO-Beitrittspläne sind im Land selbst stark umstritten und befeuern in diesen Tagen Proteste. Dennoch hat das westliche Bündnis Interesse. "Zwar ist der Beitrag, den Montenegro zur NATO leisten kann, verschwindend gering", räumt BAKS-Präsident Kamp ein. Doch sei sein NATO-Beitritt "vor allem ein politisches Signal auch gegenüber Russland, dass man an der Politik der offenen Tür festhält und kein russisches Veto gegenüber dem Prinzip der freien Bündniswahl akzeptiert". Dies zielt nicht nur auf die Debatte über einen möglichen NATO-Beitritt der Ukraine, von dem Kamp freilich schreibt, Berlin lehne ihn weiterhin ab; zur Begründung nennt er das zutreffende, aber strategisch vorgeschobene Argument, die "Integration ... der Ukraine als politisch zerstrittener sowie durch Korruption und schlechte Regierungsführung gelähmter Staat" sei "extrem schwierig".
Die NATO-Norderweiterung
Langfristig folgenreicher dürften allerdings Planungen sein, die bislang offiziell neutralen Staaten Schweden und Finnland in die NATO zu führen. In beiden Ländern sei die Mitgliedschaft in dem Kriegsbündnis "in der Vergangenheit ... nur als eine sehr entfernte Option erwogen" worden, stellt Kamp fest. Dies habe sich jedoch parallel zum Konflikt um die Ukraine "grundlegend verändert". "Der Warschauer Gipfel wird somit auf die in beiden Ländern anschwellende Debatte über eine NATO-Mitgliedschaft eingehen müssen", verlangt der BAKS-Präsident - "wann auch immer Helsinki und Stockholm einen Beitrittswunsch äußern werden". Käme es zum NATO-Beitritt der beiden Länder, dann wären die Reste militärischer Neutralität im europäischen Norden geschleift; die nördliche Einkreisung Russlands wäre komplett.[4](PK)
[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Karl-Heinz Kamp: Die Agenda des NATO-Gipfels von Warschau. Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 9/2015.
[2] S. dazu Die NATO-Südstrategie.
[3] S. dazu Kriegsführung im 21. Jahrhundert (I), Kriegsführung im 21. Jahrhundert (II) und Botschaft an die Weltöffentlichkeit.
[4] S. dazu Die NATO-Norderweiterung.
Diesen Bericht haben wir mit Dank von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59263 übernommrn.
Online-Flyer Nr. 539 vom 02.12.2015