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Palästina/Israel: Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit
Der Rattenfänger von Zion
Von Uri Avnery
DIE KLEINE Stadt Hameln ist nicht weit von meinem Geburtsort entfernt. Einmal litt sie unter einer Rattenplage. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Bürger an einen Rattenfänger und versprachen ihm tausend Gulden, wenn er sie von der Rattenplage befreien würde. Der Rattenfänger nahm seine Pfeife und spielte eine so süße Melodie, dass alle Ratten aus ihren Höhlen kamen und ihm nachliefen. Er führte sie in die Weser und dort ertranken alle. Als die Bürger von der Rattenplage befreit waren, wollten sie nicht zahlen. Da nahm der Rattenfänger noch einmal seine Pfeife und spielte eine noch süßere Melodie. Die Kinder der Stadt waren davon bezaubert und sammelten sich um ihn. Er führte sie direkt zum Fluss, in dem sie alle ertranken.* Benjamin Netanjahu ist unser Rattenfänger. Die Leute von Israel sind von seinen Melodien bezaubert und folgen ihm in Richtung Fluss. Auch die Bürger, denen bewusst ist, was da geschieht, sehen nur zu. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Wie soll man die Kinder retten?
DAS ISRAELISCHE Friedenslager ist verzweifelt. Kein Retter ist in Sicht. Viele sitzen nur noch vor ihrem Fernseher und ringen die Hände. Unter den Übrigen geht die Debatte weiter. Kommt die Rettung aus Israel oder kommt sie von außen? Die neuesten Beiträge zu dieser Debatte kommen von Amos Schocken, dem Besitzer der Zeitung "Haaretz". Er hat einen seiner seltenen Artikel geschrieben und darin behauptet er, jetzt könnten uns nur noch Kräfte von außen retten.
Rattenfänger (Montage: arbeiterfotografie.com)
Zuerst einmal will ich sagen, dass ich Schocken bewundere. "Haaretz" (Das Land) ist eine der letzten Bastionen der israelischen Demokratie. Die gesamte Mehrheit der Rechten verflucht und verabscheut das Blatt. Es führt die intellektuelle Schlacht für Demokratie und Frieden. Inzwischen sind die Printmedien in Israel und in der ganzen Welt in ernster Notlage. Aus meiner eigenen Erfahrung als Besitzer und Herausgeber einer Zeitschrift – der die Schlacht verlor – weiß ich genau, wie heroisch und herzzerreißend diese Arbeit ist.
Der Vergleich Israels mit Südafrika fast unumgänglich
Schocken schreibt in seinem Artikel, es bestehe keine Hoffnung, dass der Kampf zur Rettung Israels erfolgreich von innen geführt werden könne, und deshalb müssten wir den von außen kommenden Druck verstärken: die zunehmende weltweite Bewegung für politischen, wirtschaftlichen und akademischen Boykott Israels.
Ein weiterer bekannter Israeli, der diese Sichtweise teilt, ist der ehemalige Gesandte in Südafrika und jetzige Universitätsdozent Alon Liel. Liel stützt sich auf seine eigene Erfahrung und behauptet, es sei der weltweite Boykott gewesen, der das Apartheidregime in Südafrika in die Knie gezwungen habe.
Es liegt mir fern, das Zeugnis eines derart überragenden Experten zu bestreiten. Ich war nie in Südafrika, um selbst zu sehen. Aber ich habe mit vielen Schwarzen und Weißen gesprochen, die das miterlebt haben, und ich habe einen etwas anderen Eindruck gewonnen.
DIE VERSUCHUNG, das heutige Israel mit dem Südafrika der Apartheid zu vergleichen, ist groß. Tatsächlich ist der Vergleich fast unumgänglich. Aber was kommt dabei heraus? Die im Westen akzeptierte Ansicht ist, dass es der internationale Boykott des grauenhaften Apartheidregimes gewesen sei, was ihm das Genick gebrochen habe. Es ist eine tröstliche Ansicht: Das Weltgewissen erwachte und zerschmetterte die Bösewichte.
Aber das ist die Außensicht. Die Innensicht scheint eine ganz andere zu sein. Aus der Innensicht weiß man die Hilfe der internationalen Gemeinschaft durchaus zu schätzten, den Sieg jedoch schreibt man dem Kampf der schwarzen Bevölkerung selbst zu: ihrer Leidensbereitschaft, ihrem Heroismus, ihrer Beharrlichkeit. Sie benutzte viele unterschiedliche Methoden, darunter Terrorismus und Streiks, um schließlich das Aufrechterhalten der Apartheid unmöglich zu machen.
Der internationale Druck trug dazu bei, indem er die Weißen in Südafrika zunehmend ihre Isolierung erkennen ließ. Einige Maßnahmen, z.B. der internationale Boykott südafrikanischer Sportler, waren besonders schmerzhaft. Aber ohne den Kampf der schwarzen Bevölkerung selbst wäre der internationale Druck wirkungslos geblieben.
Die größte Anerkennung gebührt den weißen Südafrikanern, die große persönliche Risiken auf sich nahmen, um den Kampf der Schwarzen, darunter auch Terrorismus, aktiv zu unterstützten. Viele von ihnen waren Juden. Einige flohen nach Israel. Einer von ihnen war mein Freund und Nachbar Arthur Goldreich. Die israelische Regierung unterstützte natürlich das Apartheidregime. Selbst bei einem oberflächlichen Vergleich der beiden Fälle zeigt sich, dass sich das israelische Apartheidregime eines bedeutenden Kapitals erfreut – das besaß Südafrika nicht.
Die weißen Regierenden in Südafrika wurden in der ganzen Welt verabscheut, weil sie im Zweiten Weltkrieg ziemlich offen die Nazis unterstützt hatten. Die Juden waren die Opfer der Nazis. Der Holocaust ist ein riesiges Kapital für die israelische Propaganda. Ebenso die Bezeichnung aller Kritiker Israels als Antisemiten. Das ist in diesen Tagen eine sehr wirkungsvolle Waffe. (Mein neuester Beitrag: „Wer ist ein Antisemit? Einer, der die Wahrheit über die Besetzung sagt.“)
Nach Arafats Isolierung und Ermordung kein neuer Nelson Mandela in Sicht
Die unkritische Unterstützung der israelischen Regierung durch die mächtigen jüdischen Gemeinden in aller Welt ist etwas, von dem die Weißen in Südafrika nicht einmal träumen konnten. Und natürlich ist kein Nelson Mandela in Sicht. Zumindest nicht nach Arafats Isolierung und seiner Ermordung. Paradoxerweise liegt ein kleines bisschen Rassismus in der Ansicht, dass es die Weißen in der westlichen Welt gewesen seien, die die Schwarzen in Südafrika erlöst hätten, und nicht die schwarzen Südafrikaner selbst.
Es gibt einen weiteren großen Unterschied zwischen den beiden Situationen. Die jüdischen Israelis können auf Grund ihrer Abhärtung durch Jahrhunderte der Verfolgung in der christlichen Welt auf Druck von außen anders reagieren, als man erwarten würde. Druck von außen kann sich als kontraproduktiv erweisen. Er kann den alten jüdischen Glauben neu betätigen, dass Juden nicht wegen dessen, was sie tun, sondern wegen dessen, was sie sind, verfolgt werden. Das ist eines von Netanjahus wichtigsten Verkaufsargumenten.
Vor vielen Jahren sang einmal eine Unterhaltungsgruppe für die Armee den fröhlichen Song, der mit den Worten begann: „Die ganze Welt ist gegen uns/Aber uns ist das schnurzegal…“, und tanzte nach seiner Melodie. Das betrifft auch die Kampagne für Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen, BDS. Vor 18 Jahren waren meine Freunde und ich die ersten, die den Produkten aus den Siedlungen den Boykott erklärten. Wir wollten einen Keil zwischen Israelis und Siedler treiben. Deshalb erklärten wir den Boykott nicht den Produkten aus dem eigentlichen Israel, weil das die normalen Israelis den Siedlern in die Arme treiben würde. Nur die direkte Unterstützung der Siedlungen sollte zurückgewiesen werden. Das ist auch heute noch meine Meinung. Aber jeder im Ausland sollte seine Entscheidung selbst treffen. Dabei sollte er immer daran denken, dass das Hauptziel darin besteht, die öffentliche Meinung im eigentlichen Israel zu beeinflussen.
Täglich neue Gesetze, von denen einige nach Faschismus riechen
DIE „INNEN–AUSSEN“-Debatte klingt vielleicht rein theoretisch, aber das ist sie nicht. Sie hat sehr praktische Implikationen. Das israelische Friedenslager ist verzweifelt. Größe und Macht der Rechten nehmen zu. Fast täglich werden unerträgliche neue Gesetze eingebracht und erlassen. Einige riechen unverkennbar nach Faschismus. Unser Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat sich mit einem Haufen männlicher und weiblicher Rowdies, besonders aus seinem Likud, umgeben, mit denen verglichen er selbst liberal ist. Die Hauptoppositionspartei „Zionistisches Lager“ (alias Arbeitspartei) könnte man den zweiten Likud nennen.
Außer einigen Dutzend Randgruppen, die dieser Tendenz trotzen und von denen jede in der von ihr gewählten Nische bewundernswerte Arbeit leistet, lähmt sich das Friedenslager durch seine Verzweiflung selbst. Ihr Motto könnte durchaus sein: „Da ist nichts mehr zu machen. Es hat keinen Sinn, irgendetwas zu tun.“ (Im gemeinsamen Kampf innerhalb Israels wäre auch jüdisch-arabische Zusammenarbeit wichtig. Die ist jetzt leider nicht vorhanden.)
In diesem Klima ist die Idee, dass nur Druck von außen Israel retten könnte, tröstlich. Irgendwelche Leute da draußen werden die Arbeit für uns schon tun. Wir wollen also die Freuden der Demokratie genießen, solange wir sie noch haben. Ich weiß, dass Schocken, Liel und allen anderen, die ihren täglichen Kampf kämpfen, nichts ferner liegt als diese Gedanken. Aber ich fürchte, dass derartige Gedanken die Schlussfolgerung aus ihren Ansichten sein können.
Den guten Kampf – innen, außen und überall – fortsetzen
WER HAT also recht: diejenigen, die glauben, dass nur der Kampf im Inneren Israels uns retten kann, oder diejenigen, die ihr Vertrauen ganz und gar auf den Druck von außen setzen? Meine Antwort ist: weder die einen noch die anderen. Oder besser: beide.
Diejenigen, die im Inneren kämpfen, brauchen alle Unterstützung von außen, die sie nur bekommen können. Alle moralischen Menschen aller Länder der Welt sollten es als ihre Pflicht ansehen, den Gruppen und Einzelnen in Israel darin beizustehen, dass sie ihren Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit fortführen. Wenn ihnen Israel am Herzen liegt, sollten sie diesen tapferen Gruppen moralisch, politisch und materiell zur Hilfe kommen. Damit der Druck von außen jedoch wirksam werden kann, müssen sie sich mit dem Kampf im Inneren verbinden können, ihn publik machen und Unterstützung für ihn gewinnen. Sie können damit denen, die schon verzweifeln, neue Hoffnung geben. Nichts ist lebenswichtiger. Der Regierung ist das klar. Deshalb erlässt sie alle möglichen Gesetze, um die israelischen Friedensgruppen von der Hilfe von außen abzuschneiden. Wir wollen also den guten Kampf – innen, außen und überall – fortsetzen.
* In Deutschland ist die Fassung der Brüder Grimm weiter verbreitet. Dort heißt es: „Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. ...Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg, wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.“ (http://literaturnetz.org/5504)
Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.
Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)
Online-Flyer Nr. 547 vom 03.02.2016
Palästina/Israel: Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit
Der Rattenfänger von Zion
Von Uri Avnery
DIE KLEINE Stadt Hameln ist nicht weit von meinem Geburtsort entfernt. Einmal litt sie unter einer Rattenplage. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Bürger an einen Rattenfänger und versprachen ihm tausend Gulden, wenn er sie von der Rattenplage befreien würde. Der Rattenfänger nahm seine Pfeife und spielte eine so süße Melodie, dass alle Ratten aus ihren Höhlen kamen und ihm nachliefen. Er führte sie in die Weser und dort ertranken alle. Als die Bürger von der Rattenplage befreit waren, wollten sie nicht zahlen. Da nahm der Rattenfänger noch einmal seine Pfeife und spielte eine noch süßere Melodie. Die Kinder der Stadt waren davon bezaubert und sammelten sich um ihn. Er führte sie direkt zum Fluss, in dem sie alle ertranken.* Benjamin Netanjahu ist unser Rattenfänger. Die Leute von Israel sind von seinen Melodien bezaubert und folgen ihm in Richtung Fluss. Auch die Bürger, denen bewusst ist, was da geschieht, sehen nur zu. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Wie soll man die Kinder retten?
DAS ISRAELISCHE Friedenslager ist verzweifelt. Kein Retter ist in Sicht. Viele sitzen nur noch vor ihrem Fernseher und ringen die Hände. Unter den Übrigen geht die Debatte weiter. Kommt die Rettung aus Israel oder kommt sie von außen? Die neuesten Beiträge zu dieser Debatte kommen von Amos Schocken, dem Besitzer der Zeitung "Haaretz". Er hat einen seiner seltenen Artikel geschrieben und darin behauptet er, jetzt könnten uns nur noch Kräfte von außen retten.
Rattenfänger (Montage: arbeiterfotografie.com)
Zuerst einmal will ich sagen, dass ich Schocken bewundere. "Haaretz" (Das Land) ist eine der letzten Bastionen der israelischen Demokratie. Die gesamte Mehrheit der Rechten verflucht und verabscheut das Blatt. Es führt die intellektuelle Schlacht für Demokratie und Frieden. Inzwischen sind die Printmedien in Israel und in der ganzen Welt in ernster Notlage. Aus meiner eigenen Erfahrung als Besitzer und Herausgeber einer Zeitschrift – der die Schlacht verlor – weiß ich genau, wie heroisch und herzzerreißend diese Arbeit ist.
Der Vergleich Israels mit Südafrika fast unumgänglich
Schocken schreibt in seinem Artikel, es bestehe keine Hoffnung, dass der Kampf zur Rettung Israels erfolgreich von innen geführt werden könne, und deshalb müssten wir den von außen kommenden Druck verstärken: die zunehmende weltweite Bewegung für politischen, wirtschaftlichen und akademischen Boykott Israels.
Ein weiterer bekannter Israeli, der diese Sichtweise teilt, ist der ehemalige Gesandte in Südafrika und jetzige Universitätsdozent Alon Liel. Liel stützt sich auf seine eigene Erfahrung und behauptet, es sei der weltweite Boykott gewesen, der das Apartheidregime in Südafrika in die Knie gezwungen habe.
Es liegt mir fern, das Zeugnis eines derart überragenden Experten zu bestreiten. Ich war nie in Südafrika, um selbst zu sehen. Aber ich habe mit vielen Schwarzen und Weißen gesprochen, die das miterlebt haben, und ich habe einen etwas anderen Eindruck gewonnen.
DIE VERSUCHUNG, das heutige Israel mit dem Südafrika der Apartheid zu vergleichen, ist groß. Tatsächlich ist der Vergleich fast unumgänglich. Aber was kommt dabei heraus? Die im Westen akzeptierte Ansicht ist, dass es der internationale Boykott des grauenhaften Apartheidregimes gewesen sei, was ihm das Genick gebrochen habe. Es ist eine tröstliche Ansicht: Das Weltgewissen erwachte und zerschmetterte die Bösewichte.
Aber das ist die Außensicht. Die Innensicht scheint eine ganz andere zu sein. Aus der Innensicht weiß man die Hilfe der internationalen Gemeinschaft durchaus zu schätzten, den Sieg jedoch schreibt man dem Kampf der schwarzen Bevölkerung selbst zu: ihrer Leidensbereitschaft, ihrem Heroismus, ihrer Beharrlichkeit. Sie benutzte viele unterschiedliche Methoden, darunter Terrorismus und Streiks, um schließlich das Aufrechterhalten der Apartheid unmöglich zu machen.
Der internationale Druck trug dazu bei, indem er die Weißen in Südafrika zunehmend ihre Isolierung erkennen ließ. Einige Maßnahmen, z.B. der internationale Boykott südafrikanischer Sportler, waren besonders schmerzhaft. Aber ohne den Kampf der schwarzen Bevölkerung selbst wäre der internationale Druck wirkungslos geblieben.
Die größte Anerkennung gebührt den weißen Südafrikanern, die große persönliche Risiken auf sich nahmen, um den Kampf der Schwarzen, darunter auch Terrorismus, aktiv zu unterstützten. Viele von ihnen waren Juden. Einige flohen nach Israel. Einer von ihnen war mein Freund und Nachbar Arthur Goldreich. Die israelische Regierung unterstützte natürlich das Apartheidregime. Selbst bei einem oberflächlichen Vergleich der beiden Fälle zeigt sich, dass sich das israelische Apartheidregime eines bedeutenden Kapitals erfreut – das besaß Südafrika nicht.
Die weißen Regierenden in Südafrika wurden in der ganzen Welt verabscheut, weil sie im Zweiten Weltkrieg ziemlich offen die Nazis unterstützt hatten. Die Juden waren die Opfer der Nazis. Der Holocaust ist ein riesiges Kapital für die israelische Propaganda. Ebenso die Bezeichnung aller Kritiker Israels als Antisemiten. Das ist in diesen Tagen eine sehr wirkungsvolle Waffe. (Mein neuester Beitrag: „Wer ist ein Antisemit? Einer, der die Wahrheit über die Besetzung sagt.“)
Nach Arafats Isolierung und Ermordung kein neuer Nelson Mandela in Sicht
Die unkritische Unterstützung der israelischen Regierung durch die mächtigen jüdischen Gemeinden in aller Welt ist etwas, von dem die Weißen in Südafrika nicht einmal träumen konnten. Und natürlich ist kein Nelson Mandela in Sicht. Zumindest nicht nach Arafats Isolierung und seiner Ermordung. Paradoxerweise liegt ein kleines bisschen Rassismus in der Ansicht, dass es die Weißen in der westlichen Welt gewesen seien, die die Schwarzen in Südafrika erlöst hätten, und nicht die schwarzen Südafrikaner selbst.
Es gibt einen weiteren großen Unterschied zwischen den beiden Situationen. Die jüdischen Israelis können auf Grund ihrer Abhärtung durch Jahrhunderte der Verfolgung in der christlichen Welt auf Druck von außen anders reagieren, als man erwarten würde. Druck von außen kann sich als kontraproduktiv erweisen. Er kann den alten jüdischen Glauben neu betätigen, dass Juden nicht wegen dessen, was sie tun, sondern wegen dessen, was sie sind, verfolgt werden. Das ist eines von Netanjahus wichtigsten Verkaufsargumenten.
Vor vielen Jahren sang einmal eine Unterhaltungsgruppe für die Armee den fröhlichen Song, der mit den Worten begann: „Die ganze Welt ist gegen uns/Aber uns ist das schnurzegal…“, und tanzte nach seiner Melodie. Das betrifft auch die Kampagne für Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen, BDS. Vor 18 Jahren waren meine Freunde und ich die ersten, die den Produkten aus den Siedlungen den Boykott erklärten. Wir wollten einen Keil zwischen Israelis und Siedler treiben. Deshalb erklärten wir den Boykott nicht den Produkten aus dem eigentlichen Israel, weil das die normalen Israelis den Siedlern in die Arme treiben würde. Nur die direkte Unterstützung der Siedlungen sollte zurückgewiesen werden. Das ist auch heute noch meine Meinung. Aber jeder im Ausland sollte seine Entscheidung selbst treffen. Dabei sollte er immer daran denken, dass das Hauptziel darin besteht, die öffentliche Meinung im eigentlichen Israel zu beeinflussen.
Täglich neue Gesetze, von denen einige nach Faschismus riechen
DIE „INNEN–AUSSEN“-Debatte klingt vielleicht rein theoretisch, aber das ist sie nicht. Sie hat sehr praktische Implikationen. Das israelische Friedenslager ist verzweifelt. Größe und Macht der Rechten nehmen zu. Fast täglich werden unerträgliche neue Gesetze eingebracht und erlassen. Einige riechen unverkennbar nach Faschismus. Unser Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat sich mit einem Haufen männlicher und weiblicher Rowdies, besonders aus seinem Likud, umgeben, mit denen verglichen er selbst liberal ist. Die Hauptoppositionspartei „Zionistisches Lager“ (alias Arbeitspartei) könnte man den zweiten Likud nennen.
Außer einigen Dutzend Randgruppen, die dieser Tendenz trotzen und von denen jede in der von ihr gewählten Nische bewundernswerte Arbeit leistet, lähmt sich das Friedenslager durch seine Verzweiflung selbst. Ihr Motto könnte durchaus sein: „Da ist nichts mehr zu machen. Es hat keinen Sinn, irgendetwas zu tun.“ (Im gemeinsamen Kampf innerhalb Israels wäre auch jüdisch-arabische Zusammenarbeit wichtig. Die ist jetzt leider nicht vorhanden.)
In diesem Klima ist die Idee, dass nur Druck von außen Israel retten könnte, tröstlich. Irgendwelche Leute da draußen werden die Arbeit für uns schon tun. Wir wollen also die Freuden der Demokratie genießen, solange wir sie noch haben. Ich weiß, dass Schocken, Liel und allen anderen, die ihren täglichen Kampf kämpfen, nichts ferner liegt als diese Gedanken. Aber ich fürchte, dass derartige Gedanken die Schlussfolgerung aus ihren Ansichten sein können.
Den guten Kampf – innen, außen und überall – fortsetzen
WER HAT also recht: diejenigen, die glauben, dass nur der Kampf im Inneren Israels uns retten kann, oder diejenigen, die ihr Vertrauen ganz und gar auf den Druck von außen setzen? Meine Antwort ist: weder die einen noch die anderen. Oder besser: beide.
Diejenigen, die im Inneren kämpfen, brauchen alle Unterstützung von außen, die sie nur bekommen können. Alle moralischen Menschen aller Länder der Welt sollten es als ihre Pflicht ansehen, den Gruppen und Einzelnen in Israel darin beizustehen, dass sie ihren Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit fortführen. Wenn ihnen Israel am Herzen liegt, sollten sie diesen tapferen Gruppen moralisch, politisch und materiell zur Hilfe kommen. Damit der Druck von außen jedoch wirksam werden kann, müssen sie sich mit dem Kampf im Inneren verbinden können, ihn publik machen und Unterstützung für ihn gewinnen. Sie können damit denen, die schon verzweifeln, neue Hoffnung geben. Nichts ist lebenswichtiger. Der Regierung ist das klar. Deshalb erlässt sie alle möglichen Gesetze, um die israelischen Friedensgruppen von der Hilfe von außen abzuschneiden. Wir wollen also den guten Kampf – innen, außen und überall – fortsetzen.
* In Deutschland ist die Fassung der Brüder Grimm weiter verbreitet. Dort heißt es: „Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. ...Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg, wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.“ (http://literaturnetz.org/5504)
Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.
Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)
Online-Flyer Nr. 547 vom 03.02.2016