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Krieg und Frieden
Offener Brief an Bundeskanzlerin und Bundespräsident
Ausstieg aus der NATO – oder Finis Germaniae
Von Rolf Hochhuth
Von Rolf Hochhuth ist am 31. März 2016 zu seinem 85. Geburtstag sein neuestes Buch "Ausstieg aus der NATO" erschienen. Im August vergangenen Jahres hat er mit dem gleichen Titel einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin und Bundespräsident gerichtet, der mit dem Satz endet: "Sie wissen, wenn Sie nicht sofort handeln – das heißt, unseren Austritt aus der NATO erklären –, werden diese Brecht-Zeilen (Das große Karthago führte drei Kriege...) zum Nekrolog auf Deutschland!" Die Herrschaftsmedien ignorieren Brief und Buch. Aber auch ansonsten verhält es sich im Wesentlichen nicht anders. Das soll nicht so bleiben. Die NRhZ bringt den kompletten Offenen Brief und wirbt damit für das Buch, in dem der Offene Brief den Ausgangspunkt bildet.
Verehrte Frau Bundeskanzlerin, geehrter Herr Bundespräsident, ich vermute, die Bekanntgabe, die NATO stelle jetzt »schwere« Waffen in fast alle Staaten des an seiner Überflüssigkeit verendeten Warschauer Paktes, wird wie viele meiner Landsleute auch Sie alarmiert haben. Umso mehr, als die Antwort Herrn Putins keine 24 Stunden auf sich warten ließ: Er werde jetzt seine »atomare Streitmacht in Bereitschaft setzen« – meines Wissens das erste Mal seit Hiroshima, dass verbal ein Staatsoberhaupt dermaßen eindeutig mit Atomwaffen droht. »Mindestens 40 atomwaffenfähige Interkontinentalraketen modernster Bauart« solle seine Truppe noch in diesem Jahr geliefert bekommen!
Darf ich hoffen, dass Sie mich nicht für einen Panikmacher halten: Fast alles, was ich hier schreibe, basiert auf der Kritik, die US-Außenminister Henry Kissinger am 19. August in einem Interview in dem Magazin »The National Interest« geäußert hat. »Es besteht kein Zweifel, dass aus Moskauer Sicht es so ausgesehen haben muss, dass die Ukraine – bisher ein Heimspiel für Russland – aus dem Orbit Russlands herausgerissen werden soll: Danach hat Putin wie ein russischer Zar agiert, wie Nikolaus I. vor hundert Jahren. Ich entschuldige dieses Vorgehen nicht, aber ich setze es in den Kontext.« Und auch Theo Sommer schrieb zeitgleich in der »Zeit« von »den pausenlosen Demütigungen Russlands durch den Westen seit Ende der Sowjetunion«.
So maße ich mir an zu warnen: Allein Deutschlands Ausstieg aus der NATO verhindert Finis Germaniae!
Nachfolgend Begründungen, um die maßlose Provokation Moskaus durch die NATO zu belegen: Die Militärparade in Narva, 100 Meter – nicht Kilometer! – vor der russischen Grenze. Sie, Frau Bundeskanzlerin, konnten Gott sei Dank eine Teilnahme der Deutschen in der NATO noch verbieten. Ebenso wie Sie dankenswerterweise beim NATO-Manöver vor der Krim nur erlaubt haben, dass ein deutsches Versorgungsschiff, kein bewaffnetes, mitmachte. Ich möchte dazu einen beängstigenden Vergleich anstellen: Wie würde die gesamte amerikanische Nation zu Recht aufschreien, manövrierten russische Schiffe zwischen Kuba und der US-Küste?
Darf ich Ihnen empfehlen, in das Buch von Willy Wimmer zu sehen, 33 Jahre CDU-Mitglied im Bundestag, lange Zeit parlamentarischer Staatssekretär und Sprecher des Verteidigungsministeriums. Sein Titel: »Wiederkehr der Hasardeure«. Herr Wimmer berichtet unter anderem vom Entsetzen des Bundeskanzlers Kohl, als der Staatssekretär ihm 1989 melden musste, dass anlässlich der NATO-Übung »Wintex-Cimex 89« (exakt 100 Jahre nach Hitlers Geburt, der kein Deutscher war) Dresden und Potsdam nuklear weggemacht werden sollten, auf amerikanischen Befehl – wohlgemerkt aber von Deutschen selbst...! Kohl befahl, sofort aus der Übung auszusteigen: »Lasst diesen Unsinn!«
Dazu meine Frage, denn dergleichen steht ja nicht mehr in der ach so freien deutschen Presse: Ist das Bundeskanzleramt von der NATO-Führung derart entmündigt worden, dass die NATO solch selbstmörderischen Unsinn in der BRD veranstalten darf? Hat Kohls Befehl, dergleichen nicht mitzumachen – zur Folge gehabt, dass Ähnliches seither unterblieb – oder geht es weiter so? MUSS die deutsche Regierung weitere NATO-Veranstaltungen im gleichen Stil, mit ähnlichen Vorhaben auf deutschem Boden zulassen? Erfährt sie überhaupt vorab davon? Fühlen sich Deutsche – als NATO-Offiziere – nicht der deutschen Regierung, dem deutschen Volk verantwortlich, sondern der NATO?
Wie harmlos noch im 19. Jahrhundert Jacob Burckhardts Warnung: »Von allen Völkern sind die Deutschen die am raschesten assimilierbaren.« Sprich, abzurichten durch die Macht, die bei uns mehr imponiert als irgendwo sonst auf der Welt, wie pawlowsche Hunde. Sie wissen, ich kann nicht als Politiker sprechen, nur als Normalverbrauchter, wiederhole aber Herrn Kohls Befürchtungen, über die ausführlich in Wimmers Buch nachzulesen ist. Wimmer spricht da wörtlich vom »Toben in der NATO« anlässlich Kanzler Kohls Befehl zum deutschen Ausstieg aus dem kriminellen Manöver – das aber ganz offensichtlich, dort nachzulesen, allein Herr Kohl kriminell, weil selbstmörderisch fand! Keineswegs auch einer der Unterlinge in der NATO-Generalität, sprich in der des Pentagons... Was ist dem noch zu entnehmen als die absolute Entmündigung des deutschen Kontingents innerhalb der NATO?
Lesen wir heute, dass General Domröse die NATO-Manöver ausgerechnet in Polen – ohne jede Selbstironie »Noble Jump« genannt – selbstgefällig als den »Auftakt« weiterer Provokationen des Kremls ankündigt, dann ist allein dies der Beweis: Dem Mann wurde in keiner Minute zum Problem, dass nicht irgendwelche Europäer sich als Handlanger der USA gegen Russland missbrauchen lassen, sondern wir Deutsche allen voran, die wir aber doch die Einzigen sind, die bereits zweimal zur Krim stiefelten in nur 24 Jahren! Wem diese Ungeheuerlichkeit nicht einmal zum Problem wird – da werden Sie mir zustimmen, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundespräsident –, der sollte Mercedes-Verkäufer werden, aber doch nicht NATO-Stratege! Ich sage das, weil ich vermute, dass Sie beide, unsere verehrten Staatsoberhäupter, nicht anders denken dürfen. Zweifellos wird das hier schon erwähnte »Toben in der NATO«, sollten Sie, Frau Bundeskanzlerin, Sie, Herr Bundespräsident, das Bündnis verlassen, zu heute noch unvorhersehbaren Aufständen führen – möglicherweise sogar zur Zerstörung der NATO – und Sie, Frau Bundeskanzlerin, in höchste Lebensgefahr bringen. Sie wissen, auf General de Gaulle wurden drei (!) Attentate verübt, als er Frankreichs Ausstieg aus der NATO erklärt hat.
Missverstehen Sie mich nicht: Als mit 14 von den Amerikanern befreiter Hesse habe ich nie aufgehört, den USA dankbar hoch anzurechnen, erstens dass ihre Luftbrücke Westberlin vor Stalin gerettet hat, zweitens dass nur der Marshallplan das Wirtschaftswunder ermöglichte. Doch beide Leistungen zur Rettung der Freiheit sind, wenigstens in Westdeutschland, nun älter als ein halbes Jahrhundert. Staaten und ihr Verhalten aber bleiben so wenig wie jeder Einzelne sich immer gleich über Jahrzehnte hinweg, können das gar nicht, ob bewusst, ob nicht.
Die neue Tatsache: Es ist gar nicht zu leugnen beim Gewicht sogar schon der bestimmt nur sehr lückenhaften Informationen, die uns vorliegen – das Pentagon, bestimmt mehr als das Weiße Haus, ist als Auftraggeber der US-Rüstungsindustrie genötigt, einen Kriegsgrund ausfindig zu machen. Denn inzwischen gehen über 50 % (!) des US-Budgets in die Rüstung. (Vergleich: Bismarck gab selbst während seiner drei Kriege nie mehr als 25 % des Haushalts für sein Militär aus.) Natürlich fragt das Repräsentantenhaus, wo der Feind sein soll, der eine solche Aufrüstung rechtfertigt. So erfanden die US-Militärs die »Notwendigkeit«, Russland aufzuteilen – wogegen Altkanzler Schmidt neulich feststellte, dass die Ukraine niemals ein selbstständiges Staatswesen war, so wenig wie die Krim!
Auch muss ja gefragt werden: Wie hätten die Zaren reagiert (vier waren mit deutschen Fürstinnen verheiratet), wäre das Baltikum – dem Herr Putin zu Recht die Freiheit überließ, in die EU einzutreten, doch ist es nun sogar in der NATO! –, wie hätten Russen früher reagiert, würden die Balten sich Bismarcks Militärbündnis mit Wien angeschlossen haben? Durfte neulich die deutsche Verteidigungsministerin ausgerechnet den Balten für eine halbe Milliarde Waffen verkaufen – konnte sie den Bundeswehrschrott nicht an irgendeinen Staat in Lateinamerika entsorgen?
Sie beide wissen ungleich genauer als ich, ein nur durch die deutsche Einheitspresse an der Nase herumgeführter, wie die Presse selbst ziemlich Ahnungsloser: Es ist der feste Vorsatz des Pentagons, mit entscheidender Hilfe der NATO die Russen demnächst zum Angriff zu zwingen! Zweifellos hat auch Sie beide, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundespräsident, Scholl-Latours ausführliches Buch »Russland im Zangengriff« tief erschreckt. Das zwingt zur Güterabwägung.
Wer die drei Bände der Gespräche Bismarcks gelesen hat, der weiß, wie oft verjährte Bündnisabkommen zu Nasenringen werden. Was aber zu Bismarcks Zeiten noch völlig undenkbar war, beispiellos zynisch, ist – wie Sie wissen – Tatsache in der Gegenwart, obgleich noch vor Bundeskanzler Adenauer verschwiegen: Das Geheimabkommen Kreml-Weißes Haus von 1959, demzufolge allein »Germany« weggemacht wird: Sollte der Kalte in einen heißen Krieg »ausarten«, werde garantiert bei den vier Siegern von 1945, Russland, England, Frankreich, USA, keine Fensterscheibe kaputt gehen, sondern lediglich »Germany« atomar weggemacht! Henry Kissinger erwähnt solch ein Geheimabkommen auch in seinen Memoiren 1979. Diese Ruchlosigkeit ist noch in Kraft.
Entschuldigen Sie, dass ich hier an Absprachen erinnere, über die ja Sie beide unvergleichlich genauer informiert sind als ich – doch keineswegs der Bundesbürger. Ebenso wenig wie vom Ehrenwort Kanzler Kohls an Herrn Gorbatschow: Rücke er die Ostzone heraus – werde die NATO keinen Meter ostwärts vorrücken! Sie ist, wie Sie beide wissen, tausend Kilometer weitergerückt nach Osten – das ist ein Drittel des Weges nach Stalingrad...
Herr Gorbatschow war genötigt, das am 2. April 2009 zu kommentieren. Er gab Herrn Diekmann für die Bild-Zeitung folgendes Interview, das »natürlich« keine Zeitung erwähnte: »Kohl, US-Außenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass die NATO sich keinen Zentimeter nach Osten bewege würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat. Was hat es gebracht? Nur, dass die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen...« Diese Tatsache wurde auch von Ray McGovern bestätigt, der 27 Jahre lang Berater der CIA bei immerhin sieben Präsidenten der USA war. Die Angst also, dass Deutschland gemäß Brechts Voraussage von 1951 bald verschwunden sein wird, wenn nicht Sie, Frau Kanzlerin, und Sie, Herr Präsident, die sehr große Last des deutschen Austritts aus der NATO auf sich laden – doch, wie gesagt, auch Präsident General de Gaulle musste das einst riskieren –, ist mein einziger Grund für diese Petition. Und Sie beide noch mit dieser völlig sachlichen Diagnose Brechts zu belästigen:
»Das große Karthago führte drei Kriege.
Nach dem ersten war es noch mächtig,
nach dem zweiten noch bewohnbar,
nach dem dritten nicht mehr aufzufinden.«
Sie wissen, wenn Sie nicht sofort handeln – das heißt, unseren Austritt aus der NATO erklären –, werden diese Brecht-Zeilen zum Nekrolog auf Deutschland!
Rolf Hochhuth
Ausstieg aus der NATO - oder Finis Germaniae
Katastrophen und Oasen. Essays, Briefe, Gedichte
Verlag zeitgeist Print & Online, Erscheinungsdatum: 31. März 2016
Gebunden, 312 Seiten, über 30 Abb., 24,80 Euro
Siehe auch:
Sputnik-Interview mit Rolf Hochhuth zum Erscheinen des Buches "Ausstieg aus der NATO – oder Finis Germaniae"
„Wir Deutschen, willenlose Satelliten des Pentagons“
NRhZ Nr. 559 vom 27.04.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22744
Online-Flyer Nr. 560 vom 04.05.2016
Offener Brief an Bundeskanzlerin und Bundespräsident
Ausstieg aus der NATO – oder Finis Germaniae
Von Rolf Hochhuth
Von Rolf Hochhuth ist am 31. März 2016 zu seinem 85. Geburtstag sein neuestes Buch "Ausstieg aus der NATO" erschienen. Im August vergangenen Jahres hat er mit dem gleichen Titel einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin und Bundespräsident gerichtet, der mit dem Satz endet: "Sie wissen, wenn Sie nicht sofort handeln – das heißt, unseren Austritt aus der NATO erklären –, werden diese Brecht-Zeilen (Das große Karthago führte drei Kriege...) zum Nekrolog auf Deutschland!" Die Herrschaftsmedien ignorieren Brief und Buch. Aber auch ansonsten verhält es sich im Wesentlichen nicht anders. Das soll nicht so bleiben. Die NRhZ bringt den kompletten Offenen Brief und wirbt damit für das Buch, in dem der Offene Brief den Ausgangspunkt bildet.
Verehrte Frau Bundeskanzlerin, geehrter Herr Bundespräsident, ich vermute, die Bekanntgabe, die NATO stelle jetzt »schwere« Waffen in fast alle Staaten des an seiner Überflüssigkeit verendeten Warschauer Paktes, wird wie viele meiner Landsleute auch Sie alarmiert haben. Umso mehr, als die Antwort Herrn Putins keine 24 Stunden auf sich warten ließ: Er werde jetzt seine »atomare Streitmacht in Bereitschaft setzen« – meines Wissens das erste Mal seit Hiroshima, dass verbal ein Staatsoberhaupt dermaßen eindeutig mit Atomwaffen droht. »Mindestens 40 atomwaffenfähige Interkontinentalraketen modernster Bauart« solle seine Truppe noch in diesem Jahr geliefert bekommen!
Darf ich hoffen, dass Sie mich nicht für einen Panikmacher halten: Fast alles, was ich hier schreibe, basiert auf der Kritik, die US-Außenminister Henry Kissinger am 19. August in einem Interview in dem Magazin »The National Interest« geäußert hat. »Es besteht kein Zweifel, dass aus Moskauer Sicht es so ausgesehen haben muss, dass die Ukraine – bisher ein Heimspiel für Russland – aus dem Orbit Russlands herausgerissen werden soll: Danach hat Putin wie ein russischer Zar agiert, wie Nikolaus I. vor hundert Jahren. Ich entschuldige dieses Vorgehen nicht, aber ich setze es in den Kontext.« Und auch Theo Sommer schrieb zeitgleich in der »Zeit« von »den pausenlosen Demütigungen Russlands durch den Westen seit Ende der Sowjetunion«.
So maße ich mir an zu warnen: Allein Deutschlands Ausstieg aus der NATO verhindert Finis Germaniae!
Nachfolgend Begründungen, um die maßlose Provokation Moskaus durch die NATO zu belegen: Die Militärparade in Narva, 100 Meter – nicht Kilometer! – vor der russischen Grenze. Sie, Frau Bundeskanzlerin, konnten Gott sei Dank eine Teilnahme der Deutschen in der NATO noch verbieten. Ebenso wie Sie dankenswerterweise beim NATO-Manöver vor der Krim nur erlaubt haben, dass ein deutsches Versorgungsschiff, kein bewaffnetes, mitmachte. Ich möchte dazu einen beängstigenden Vergleich anstellen: Wie würde die gesamte amerikanische Nation zu Recht aufschreien, manövrierten russische Schiffe zwischen Kuba und der US-Küste?
Darf ich Ihnen empfehlen, in das Buch von Willy Wimmer zu sehen, 33 Jahre CDU-Mitglied im Bundestag, lange Zeit parlamentarischer Staatssekretär und Sprecher des Verteidigungsministeriums. Sein Titel: »Wiederkehr der Hasardeure«. Herr Wimmer berichtet unter anderem vom Entsetzen des Bundeskanzlers Kohl, als der Staatssekretär ihm 1989 melden musste, dass anlässlich der NATO-Übung »Wintex-Cimex 89« (exakt 100 Jahre nach Hitlers Geburt, der kein Deutscher war) Dresden und Potsdam nuklear weggemacht werden sollten, auf amerikanischen Befehl – wohlgemerkt aber von Deutschen selbst...! Kohl befahl, sofort aus der Übung auszusteigen: »Lasst diesen Unsinn!«
Dazu meine Frage, denn dergleichen steht ja nicht mehr in der ach so freien deutschen Presse: Ist das Bundeskanzleramt von der NATO-Führung derart entmündigt worden, dass die NATO solch selbstmörderischen Unsinn in der BRD veranstalten darf? Hat Kohls Befehl, dergleichen nicht mitzumachen – zur Folge gehabt, dass Ähnliches seither unterblieb – oder geht es weiter so? MUSS die deutsche Regierung weitere NATO-Veranstaltungen im gleichen Stil, mit ähnlichen Vorhaben auf deutschem Boden zulassen? Erfährt sie überhaupt vorab davon? Fühlen sich Deutsche – als NATO-Offiziere – nicht der deutschen Regierung, dem deutschen Volk verantwortlich, sondern der NATO?
Wie harmlos noch im 19. Jahrhundert Jacob Burckhardts Warnung: »Von allen Völkern sind die Deutschen die am raschesten assimilierbaren.« Sprich, abzurichten durch die Macht, die bei uns mehr imponiert als irgendwo sonst auf der Welt, wie pawlowsche Hunde. Sie wissen, ich kann nicht als Politiker sprechen, nur als Normalverbrauchter, wiederhole aber Herrn Kohls Befürchtungen, über die ausführlich in Wimmers Buch nachzulesen ist. Wimmer spricht da wörtlich vom »Toben in der NATO« anlässlich Kanzler Kohls Befehl zum deutschen Ausstieg aus dem kriminellen Manöver – das aber ganz offensichtlich, dort nachzulesen, allein Herr Kohl kriminell, weil selbstmörderisch fand! Keineswegs auch einer der Unterlinge in der NATO-Generalität, sprich in der des Pentagons... Was ist dem noch zu entnehmen als die absolute Entmündigung des deutschen Kontingents innerhalb der NATO?
Lesen wir heute, dass General Domröse die NATO-Manöver ausgerechnet in Polen – ohne jede Selbstironie »Noble Jump« genannt – selbstgefällig als den »Auftakt« weiterer Provokationen des Kremls ankündigt, dann ist allein dies der Beweis: Dem Mann wurde in keiner Minute zum Problem, dass nicht irgendwelche Europäer sich als Handlanger der USA gegen Russland missbrauchen lassen, sondern wir Deutsche allen voran, die wir aber doch die Einzigen sind, die bereits zweimal zur Krim stiefelten in nur 24 Jahren! Wem diese Ungeheuerlichkeit nicht einmal zum Problem wird – da werden Sie mir zustimmen, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundespräsident –, der sollte Mercedes-Verkäufer werden, aber doch nicht NATO-Stratege! Ich sage das, weil ich vermute, dass Sie beide, unsere verehrten Staatsoberhäupter, nicht anders denken dürfen. Zweifellos wird das hier schon erwähnte »Toben in der NATO«, sollten Sie, Frau Bundeskanzlerin, Sie, Herr Bundespräsident, das Bündnis verlassen, zu heute noch unvorhersehbaren Aufständen führen – möglicherweise sogar zur Zerstörung der NATO – und Sie, Frau Bundeskanzlerin, in höchste Lebensgefahr bringen. Sie wissen, auf General de Gaulle wurden drei (!) Attentate verübt, als er Frankreichs Ausstieg aus der NATO erklärt hat.
Missverstehen Sie mich nicht: Als mit 14 von den Amerikanern befreiter Hesse habe ich nie aufgehört, den USA dankbar hoch anzurechnen, erstens dass ihre Luftbrücke Westberlin vor Stalin gerettet hat, zweitens dass nur der Marshallplan das Wirtschaftswunder ermöglichte. Doch beide Leistungen zur Rettung der Freiheit sind, wenigstens in Westdeutschland, nun älter als ein halbes Jahrhundert. Staaten und ihr Verhalten aber bleiben so wenig wie jeder Einzelne sich immer gleich über Jahrzehnte hinweg, können das gar nicht, ob bewusst, ob nicht.
Die neue Tatsache: Es ist gar nicht zu leugnen beim Gewicht sogar schon der bestimmt nur sehr lückenhaften Informationen, die uns vorliegen – das Pentagon, bestimmt mehr als das Weiße Haus, ist als Auftraggeber der US-Rüstungsindustrie genötigt, einen Kriegsgrund ausfindig zu machen. Denn inzwischen gehen über 50 % (!) des US-Budgets in die Rüstung. (Vergleich: Bismarck gab selbst während seiner drei Kriege nie mehr als 25 % des Haushalts für sein Militär aus.) Natürlich fragt das Repräsentantenhaus, wo der Feind sein soll, der eine solche Aufrüstung rechtfertigt. So erfanden die US-Militärs die »Notwendigkeit«, Russland aufzuteilen – wogegen Altkanzler Schmidt neulich feststellte, dass die Ukraine niemals ein selbstständiges Staatswesen war, so wenig wie die Krim!
Auch muss ja gefragt werden: Wie hätten die Zaren reagiert (vier waren mit deutschen Fürstinnen verheiratet), wäre das Baltikum – dem Herr Putin zu Recht die Freiheit überließ, in die EU einzutreten, doch ist es nun sogar in der NATO! –, wie hätten Russen früher reagiert, würden die Balten sich Bismarcks Militärbündnis mit Wien angeschlossen haben? Durfte neulich die deutsche Verteidigungsministerin ausgerechnet den Balten für eine halbe Milliarde Waffen verkaufen – konnte sie den Bundeswehrschrott nicht an irgendeinen Staat in Lateinamerika entsorgen?
Sie beide wissen ungleich genauer als ich, ein nur durch die deutsche Einheitspresse an der Nase herumgeführter, wie die Presse selbst ziemlich Ahnungsloser: Es ist der feste Vorsatz des Pentagons, mit entscheidender Hilfe der NATO die Russen demnächst zum Angriff zu zwingen! Zweifellos hat auch Sie beide, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundespräsident, Scholl-Latours ausführliches Buch »Russland im Zangengriff« tief erschreckt. Das zwingt zur Güterabwägung.
Wer die drei Bände der Gespräche Bismarcks gelesen hat, der weiß, wie oft verjährte Bündnisabkommen zu Nasenringen werden. Was aber zu Bismarcks Zeiten noch völlig undenkbar war, beispiellos zynisch, ist – wie Sie wissen – Tatsache in der Gegenwart, obgleich noch vor Bundeskanzler Adenauer verschwiegen: Das Geheimabkommen Kreml-Weißes Haus von 1959, demzufolge allein »Germany« weggemacht wird: Sollte der Kalte in einen heißen Krieg »ausarten«, werde garantiert bei den vier Siegern von 1945, Russland, England, Frankreich, USA, keine Fensterscheibe kaputt gehen, sondern lediglich »Germany« atomar weggemacht! Henry Kissinger erwähnt solch ein Geheimabkommen auch in seinen Memoiren 1979. Diese Ruchlosigkeit ist noch in Kraft.
Entschuldigen Sie, dass ich hier an Absprachen erinnere, über die ja Sie beide unvergleichlich genauer informiert sind als ich – doch keineswegs der Bundesbürger. Ebenso wenig wie vom Ehrenwort Kanzler Kohls an Herrn Gorbatschow: Rücke er die Ostzone heraus – werde die NATO keinen Meter ostwärts vorrücken! Sie ist, wie Sie beide wissen, tausend Kilometer weitergerückt nach Osten – das ist ein Drittel des Weges nach Stalingrad...
Herr Gorbatschow war genötigt, das am 2. April 2009 zu kommentieren. Er gab Herrn Diekmann für die Bild-Zeitung folgendes Interview, das »natürlich« keine Zeitung erwähnte: »Kohl, US-Außenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass die NATO sich keinen Zentimeter nach Osten bewege würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat. Was hat es gebracht? Nur, dass die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen...« Diese Tatsache wurde auch von Ray McGovern bestätigt, der 27 Jahre lang Berater der CIA bei immerhin sieben Präsidenten der USA war. Die Angst also, dass Deutschland gemäß Brechts Voraussage von 1951 bald verschwunden sein wird, wenn nicht Sie, Frau Kanzlerin, und Sie, Herr Präsident, die sehr große Last des deutschen Austritts aus der NATO auf sich laden – doch, wie gesagt, auch Präsident General de Gaulle musste das einst riskieren –, ist mein einziger Grund für diese Petition. Und Sie beide noch mit dieser völlig sachlichen Diagnose Brechts zu belästigen:
»Das große Karthago führte drei Kriege.
Nach dem ersten war es noch mächtig,
nach dem zweiten noch bewohnbar,
nach dem dritten nicht mehr aufzufinden.«
Sie wissen, wenn Sie nicht sofort handeln – das heißt, unseren Austritt aus der NATO erklären –, werden diese Brecht-Zeilen zum Nekrolog auf Deutschland!
Rolf Hochhuth
Ausstieg aus der NATO - oder Finis Germaniae
Katastrophen und Oasen. Essays, Briefe, Gedichte
Verlag zeitgeist Print & Online, Erscheinungsdatum: 31. März 2016
Gebunden, 312 Seiten, über 30 Abb., 24,80 Euro
Siehe auch:
Sputnik-Interview mit Rolf Hochhuth zum Erscheinen des Buches "Ausstieg aus der NATO – oder Finis Germaniae"
„Wir Deutschen, willenlose Satelliten des Pentagons“
NRhZ Nr. 559 vom 27.04.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22744
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