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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Kultur und Wissen
Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (2)
Von Ute Bales

Ute Bales hat einen biografischen Roman zur Lebensgeschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle geschrieben, die keine 24 Jahre alt wird. Ihr Schicksal ist Krieg, der Erste Weltkrieg, die Liebe, die Tuberkulose, die Künstlergruppe Dada. Mit Kunst die Welt verändern!? Die NRhZ bringt Auszüge aus dem Roman. Teil 2 beschreibt die Zeit, als Max Ernst erstmals in Köln als Dadaist auftaucht: "Das erste, was Angelika von Max Ernst zu sehen bekommt, sieht aus wie in ein Säurebad gefallen. Es sind querulierende und irritierende Bilder voller Skelette, zerschnittener und zerstückelter Menschen und erotisch aufgeheizter Lebensgier."
 
Das Wetter an diesem Tag ist scheußlich. Schauer von Regen und Schnee wechseln sich ab. Es ist kalt und nass. In dicker Jacke, mit Schal und Mütze stapft Angelika neben Willy und Heinrich durch den Matsch.

Im Schneegestöber zieht ein Demonstrationszug der Kriegsbeschädigten am Denkmal für Wilhelm I. vorbei. Kriegskrüppel halten Pappschilder in die Höhe, Zettel mit Aufschriften kleben auf Rücken oder an Stöcken. Einer schreit: „Der Dank des Vaterlands! Millionen Tote und Verstümmelte! Und jetzt sind wir nichts als lästige, bettelnde Kriegszitterer!“ Sein Gesicht ist eingefallen, Rippen wölben sich unter einem fadenscheinigen Hemd, von dem einer der Ärmel schlaff an der Seite hängt. Er zieht eine Karre mit Gummirädern, worauf ein Bärtiger angebunden ist, dem Beine und Arme fehlen. „Wir haben Hunger!“, steht auf dem Pappschild, das sich der Einarmige umgehängt hat. Hinter ihnen hieven sich Amputierte mit schief hängenden Körpern auf Krücken voran und zeigen den entsetzten Passanten ihre Stümpfe. Blind geschossene Männer tasten sich vor, an den Armen tragen sie gelbe Binden, ihre Stöcke quietschen auf dem Pflaster. Nur selten wirft jemand eine Münze in die ausgestreckten Soldatenmützen. „Wir haben alles gegeben! Haben wir gekämpft, um jetzt zu verhungern?“ Kriegerwitwen bilden den Schluss: mager, mit blaugefrorenen Gesichtern, in denen Angst sitzt. Die meisten haben Kinder an der Hand. Angelika sieht, wie Fußgänger die Seite wechseln, sich abwenden, nicht wissen, wohin mit ihren Blicken. Manche flüchten in Seitengassen. „Seht euch das an!“, schreit Heinrich und zeigt auf den Zug der Verzweifelten. „Das sind wir! Ja, das sind wir! Herauskatapultiert aus allem. Keiner weiß, wie es weitergehen soll! Dieses Massenelend wird in einer riesigen Katastrophe enden. Die neue Regierung wird nie imstande sein, das zu schultern! Alle wollen eine Entschädigung, aber was glaubt ihr, wer soll das zahlen? Angelogen hat man uns, von Anfang an. Und die da“, wieder zeigt er auf die zerlumpten Demonstranten, „wenn sie Glück haben, kriegen sie Glasaugen und Krücken! Ansonsten nichts, gar nichts! Und dafür haben sie ihren Kopf hingehalten! Für nichts.“

Den ganzen Weg tobt Heinrich. Angelika will ihn beruhigen und hakt sich bei ihm ein. Willy geht schweigend neben ihnen her. Obwohl es nur um die Ecke ist, sind sie durchgefroren, als Heinrich im zweiten Stock eines düsteren Mietshauses anklopft.

Willy erinnert sich, den Mann mit den blauen Augen schon einmal gesehen zu haben. Als sie sich die Hände schütteln, stellt sich heraus, dass sie sich vor dem Krieg während der Werkbund-Ausstellung über den Weg gelaufen sind. Er nennt sich Dada-Max, was auffallend genug ist, kommt, noch während sie im Flur stehen und die nassen Jacken an eine mit Straußenfedern beklebte Garderobe hängen, sofort auf die Kunst und seine Pläne zu sprechen: Dass er noch nicht lange von der Westfront zurück sei, dass er Anschluss suche an die neuen künstlerischen Entwicklungen, dass ihn ausschließlich radikale Positionen interessieren und er dabei sei, eine der Dada-Bewegung in Zürich ähnliche Gruppe für Köln auf die Beine zu stellen.

Max kommt Angelika mit seinem weißblonden Haar, dem durchdringenden Blick aus wasserblauen Augen, der Adlernase und den unruhigen Schritten – alles an ihm bebt und vibriert - beinahe unwirklich vor. Er bittet alle in sein Atelier, zeigt auf eine Tür am Ende des Flures. In der Wohnung sieht es auf den ersten Blick bieder aus. Bunt bemalte, zusammengenagelte Figuren stehen herum. Es riecht nach Knochenleim und Farbe.

Das Atelier hat ein Fenster zum Ring. Alles ist voller Nippes und Kram. Angelika fällt ein Honigglas voll mit Stahlkugeln auf. Bücher und Zeitschriften stapeln sich bis unter die Decke. Blecheimer voller Naturmaterialien wie Baumrinden, Wurzelgehölz, Federn, Muscheln, Zweige, Kleiderfetzen stehen herum. Daneben Kartons mit abgespulten Garnrollen, Zahnrädchen, weggeworfenen Schnürsenkeln und Tapetenresten. Mittendrin eine Staffelei mit einer angefangenen Leinwand, davor eine Chaiselongue und zwei Sessel mit breiten Lehnen, von zwei rauchenden Männern besetzt, die augenscheinlich mit Heinrich und Willy bekannt sind, denn sie springen auf und begrüßen sich, indem sie die Handflächen aneinander schlagen und lachen. Auch Angelika lacht, denn einer der Männer trägt einen aufgeputzten Damenhut mit Federn, an dem Hühnerknochen baumeln, dazu seltsame wadenlange Hosen und ein Küchensieb um den Hals. „Das ist Hans Arp“, stellt Willy ihn vor, „lebt in Zürich. Hat dort den Dada-Sturm erlebt. Er ist öfter in Köln. Sein Vater lebt hier. Im Herbst will er umziehen. Was denkst du wohin? Natürlich nach Köln.“ Arp zieht mit einer ausladenden Handbewegung den Hut vom Kopf und verbeugt sich, indem er den linken Fuß in einem Bogen hinter den rechten setzt. „Le vrai honnête homme est celui qui ne se pique de rien.” Bevor Willy den anderen vorstellen kann, tänzelt Max dicht an Angelika heran, küsst ihr die Hand, während er einen ganz schnellen Luftsprung macht: „Und das hier – das ist mein Baargeld. Sein Name übrigens eine Referenz an seine Herkunft. Er hat etwas Weltmännisches, findet ihr nicht?“ Baargeld, der zweite Mann - er hat kurze braune Haare, dunkle Augen und einen stoppeligen Bart - küsst Angelika ebenfalls die Hand. „Er hat natürlich noch einen anderen Namen“, ergänzt Max, aber den hab ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass er in diesen schweinischen Krieg verwickelt war und dass er für die `Aktion´ schreibt. Politisch ziemlich aktiv übrigens. Und dieser nette Herr hier“, er zeigt auf sich selbst und verbeugt sich, „war auch in den Krieg verwickelt, wie wohl alle hier. Er war bei der Feldartillerie, freiwillig, zuerst etliche Monate Kaserne in Köln-Niehl und dann musste er raus in die Scheiße. Vier Jahre lang. Bis er ein Licht sah: das Cabaret Voltaire in Zürich.“

Dass er in der dritten Person von sich selbst spricht, irritiert Angelika und belustigt sie auch. So wie sie selbst, so hat auch Max etwas Leichtes, Lustiges. Sie weiß, dass sie ihm gefällt.

Sie setzen sich auf eine Chaiselongue, in die sie fast versinken. Angelika erfährt, dass Heinrich und Max schon vor dem Krieg in Heinrichs Atelier in der Erftstraße miteinander gemalt haben und wundert sich, dass Heinrich nie etwas davon erzählt hat. Eine Frau kommt herein. Sie ist zierlich, hat blondes lockiges Haar und eine feine, leicht gebogene Nase. Ihre Augen sind denen von Max ähnlich, groß und blau. „Das ist Lou“, sagt Max und redet wieder in der dritten Person, „sie hat gegen den erbitterten Widerstand ihrer Familie sowie der streng katholischen Familie Ernst den ehemaligen Studienkollegen und Leutnant Max Ernst geheiratet. Sie ist klug, weiß alles über Kunst. Ihr könnt sie alles fragen.“ Hinter Lou schleicht sich eine Katze ins Atelier. Lou setzt sich neben Angelika auf die Chaiselongue, krault die Katze, die um ihre Beine streicht und begrüßt Angelika, indem sie sagt: „Es ist gut, wenn auch ein paar Frauen hier mitmachen.“ Sie will wissen, ob und was Angelika malt, ob sie diesen oder jenen Maler kennt und diese oder jene Ausstellung gesehen hat. Angelika kennt weder die Maler, die Lou nennt, noch die Ausstellungen. Sie merkt, dass ihr Jahre fehlen und Erfahrung. Es stellt sich heraus, dass Lou in Kunstgeschichte promoviert und kommissarisch die Leitung des Wallraf-Richartz-Museums übernommen hat. Sie redet über Dinge, von denen Angelika nie gehört hat. Überhaupt scheinen sich alle in Kunstfragen auszukennen. Alle außer Angelika. Sie sitzt da, etwas geziert in den Bewegungen. Ihre Löckchen, die Bluse mit dem Rautenmuster, der helle Rock, sie selbst mit ihrem engelhaften Gesicht  – irgendetwas passt nicht. Sie spürt, dass sie auffällt, bemerkt die skeptischen und vorsichtigen Blicke, versucht mitzuhalten, äußert sich zurückhaltend.

Max erzählt von Lärmgedichten, von unsichtbaren Instrumenten, von betäubendem Getrommel auf Kesselpauken, von ohnmächtigen Frauen, von Rufen nach dem Irrenarzt, aber auch von unzähligen Künstlern, die der Krieg in die Schweiz getrieben hat und die dort ihre Freiheit nicht nur leben, sondern laut herausschreien. Was im Cabaret Voltaire los gewesen sein soll, kann sie kaum glauben.

Das erste, was Angelika von Max Ernst zu sehen bekommt, sieht aus wie in ein Säurebad gefallen. Es sind querulierende und irritierende Bilder voller Skelette, zerschnittener und zerstückelter Menschen und erotisch aufgeheizter Lebensgier. Da sind Krallen, Geschlinge, Gekröse, Gesichtslose, Uraffen, Walddämonen und Windsbräute, versteinerte Wälder, erstarrte Sonnen, erfrorene Städte, Labyrinthe mit raffenden Mäulern und lauernden Augen, auf den ersten Blick völlig orientierungslos. Er hat alles verarbeitet: Die magischen Visionen, die ihm die Lektüren Freuds eingaben, die kantigen Buchstaben und Zahlen, denen er beim Brotjob in einer typographischen Werkstatt begegnet ist. Viele der Bilder hat er unterschrieben mit: Dadamax. Angelika ahnt den Krieg hinter all dem. Sie erkennt Teile von Projektilen, Bomben und Fliegercockpits. Seine früheren Bilder sehen nämlich anders aus. Da hat er nutzlose Maschinen und Geisteskranke abgebildet. „Die hab ich während meiner Studienzeit in der Bonner Klinik gesehn“, erläutert er Angelika. „Damals haben nur einzelne Kranke am Rand der Gesellschaft gestanden, jetzt ist es die ganze Gesellschaft. Und deshalb ist es die Aufgabe der Kunst, dass wir uns diesem Elend stellen. Meine Werke sollen nicht gefallen, sondern aufheulen lassen.“ Willy beugt sich über eine Collage mit dämonenartigen Wesen und will wissen, ob er damit die Leute schockieren wolle. Max sieht auf das Bild, greift danach, legt es sich auf den Kopf, breitet die Arme aus und balanciert damit durch das Atelier. „Die Leute sind schon geschockt genug. Meine Bilder sind Stellungnahmen. Ich bin entschlossen, mittels Kunst einen Umsturz im Denken und Handeln zu bewirken. Was in Zürich passiert ist, Dada und so weiter, ist das Resultat der großen Schweinerei dieses blödsinnigen Krieges. Wie betäubt sind wir aus diesem Krieg zurückgekommen, sind es jetzt noch und müssen unserer Empörung doch irgendwie Luft machen! Wir können nicht so weitermachen und tun, als ob nichts passiert wäre.“ Max steigert die Lautstärke. „Und wie können wir uns empören? Na, indem wir die Grundlagen dieser verlogenen Zivilisation angreifen! Natürlich ist das schockierend für viele, aber das ist ja nicht unbedingt das Schlechteste!“

Alle stehen da, sehen zu, wie das Bild auf seinem Kopf immer wieder abrutscht, er es immer wieder hochschiebt und schließlich mit einem Buch beschwert. „Ja, die gepriesene Zivilisation! Ein Schutthaufen! Ich will zurückschlagen mit Angriffen auf die Grundlagen dieser Zivilisation, die den Krieg herbeigeführt haben. Wir müssen ihnen die Sinnlosigkeit dieser bürgerlichen Kultur vor Augen halten. Wir müssen laut sein, viel lauter als sie! Unsere Waffen sind Bilder, Texte, Fotos … und Lärm! Wir müssen schreien, so laut wir können! Wir müssen der Ekel sein! Und wo können wir am besten treffen? Mit Angriffen auf die Sprache, auf die Syntax, auf die Literatur!“ Angelika kann ihm nicht folgen. „Wie kann man Sprache denn angreifen?“ Max hüpft um sie herum, gibt Louises Katze einen Tritt, die fauchend zur Seite springt. „Ganz einfach, indem man gegen ihre Regeln verstößt: Bimm bamm bamm bumm bamm bamm bimm bamm bamm bumm bamm bamm, platsch bluff, bloff, bluff, razzz, zrrrr …“ Max dreht sich im Kreis, blökt wie ein Schaf, Buch und Bild auf seinem Kopf geraten ins Schwanken und fallen zu Boden. Angelika muss lachen. Ihr gefällt, was er tut. Er scheint auf seltsame Art frei zu sein, auch unbekümmert. Und geistreich und witzig. Sie steht auf, zieht Willy von der Chaiselongue, tänzelt mit ihm hinter Max her und singt: „Bäm, bam, bim, bim, fing, ting, ling, sing …“ Heinrich sieht sie entsetzt an, aber sie kann gar nicht aufhören zu lachen und zu tanzen. „Ting, kling, liri liri, piri piri …“ Willy geht es genauso. Baargeld schließt sich ihnen an, dann Lou, und dann stellt Arp sich in den Kreis und schreit: „Damals, nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich, hab ich den letzten Zug von Köln nach Paris genommen, den allerletzten Zug! Hurra!“ Dann trägt er vor, was er damals gedichtet hat. Dabei zieht er die Augenbrauen fast unter den Haaransatz und reißt die Augen auf: „Weh, unser guter Kaspar ist tot. Wer trägt nun die brennende Fahne im Zopf? Wer dreht die Kaffeemühle? Wer lockt das idyllische Reh? Auf dem Meer verwirrte er die Schiffe mit dem Wörtchen Parapluie und die Winde nannte er Bienenvater. Weh, weh, weh unser guter Kaspar ist tot! Heiliger Bimbam, Kaspar ist tot!“ Der einzige, der noch sitzt, ist Heinrich. Er sitzt regungslos mit übereinander geschlagenen Beinen. Plötzlich sagt er: „Wisst ihr eigentlich, dass Cöln wieder mit K geschrieben wird?“ Lou muss lachen, klopft ihm auf die Schultern: „Ja, und wir werden uns dran halten. So wie richtige, kleine Beamte.“




Ute Bales: Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle, Gebundene Ausgabe, 280 Seiten, Rhein-Mosel-Verlag, 2015, 19,80 Euro



Siehe auch:

Die Welt zerschlagen – Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Auszug 1: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22768
Auszug 3: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22808
Auszug 4: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22827
Auszug 5: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22845
Auszug 6: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22864

Filmclip
Lesung aus einem Roman zur Lebensgeschichte von Angelika Hoerle
Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
NRhZ 552 vom 09. März 2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22599

Online-Flyer Nr. 561  vom 11.05.2016



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