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Trinkhallen im Ruhrgebiet
„Ich geh ma eben anne Bude...“
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Einhundertundzehn Jahre ist es her, seit der Klicker-Flaschen- und Mineralwasserfabrikant Küpper die Genehmigung zur Errichtung der ersten Trinkhallen in Duisburg erhielt. Es waren schmuckvolle Pavillons, die er von den Stadtverordneten 1906 auf Widerruf für zwei mal fünf Jahre in Hamborn und Bruckhausen mietete. Der letzte von fünf Rundbauten befindet sich heute nach aufwändiger Renovierung auf dem Altmarkt in Hamborn und beherbergt seit 1985 einen Döner-Imbiss. Seit 1998 steht er unter Denkmalschutz. Am 20. August 2016 wird er Anlaufstelle am „Ersten Tag der Trinkhallen“ im Ruhrgebiet. Seit dem 6. Mai zeigt das Industriemuseum in Hattingen die Trinkhallenschau: „Zum Wohl. Getränke zwischen Kultur und Konsum“. Über mehrere Jahrzehnte hat Gerda Sökeland Trinkhallen im Ruhrgebiet fotografiert. Wir zeigen hier eine kleine Auswahl.
Marktplatz in Duisburg-Hamburg mit Trinkhallen-Pavillon (um 1906). Am 7. Februar 1906 fand in Hamborn eine Gemeinderatssitzung statt. Man beschloß, dem Antrag des Mineralwasserfabrikanten Küpper stattzugeben, auf den fünf Märkten der Gemeinde je eine Trinkhalle zu errichten.
alle Fotos: Gerda Sökeland aus ihrer Tonbildschau „Budenzauber“ (historische Vorlagen: Hamborner Verlag), Bildunterschriften nach Informationen von Gerda Sökeland
Heute ein Döner-Imbiß. Seit 1998 steht er unter Denkmalschutz. Der letzte der fünf historischen Rundbauten...
... von 1906 befindet sich heute nach aufwändiger Renovierung auf dem Altmarkt in Hamborn.
Duisburg-Hamborn: Abfüllung der selbstgemachten Limonaden in den Stadtfarben rot und grün im Betrieb Büker (seit 1913) in Klickerflaschen
Die Klicker-Flaschen wurden nach englischem Patent auch in Deutschland hergestellt. Im Flaschhals befand sich eine Glaskugel, die durch den Kohlesäurendruck gegen eine Dichtung gepresst wurde und so die Flasche verschloss. Geöffnet wurde mit einem Stöpsel (aus Holz), der den Klicker hinunter drückte.
Das war einmal eine stattliche Halle von Valentin Hetzel (um 1925) auf der Papiermühlenstraße in Hamborn. Frau Hetzel, hier im Fenster mit ihrer jüngsten Tochter, hatte neun Kinder. Ihr Mann war Steiger. Ihr Reich war die Trinkhalle. Hier traf sich auch die Nachbarschaft. Später betrieb die älteste Tochter den Kiosk unter ihrem Namen Schetzkens weiter (siehe unten).
Schwabenstraße in Hamborn stand zwischen Siedlung und Bahnhof. Die Holzhalle von Cornelius Büker hatte beide Weltkriege überstanden. Die Zeit nach 1945 war jedoch eine schlechte Zeit für die Trinkhallen. Außer Limonaden und einem legendären Heißgetränk gab es keine Angebote. Aber wenn Herr Büker ausnahmsweise auch Obst und Gemüse anzubieten hatte, pflegte er in der Halle zu übernachten, um seine Schätze zu bewachen. „Wunder“ (in Tüten für 1 DM!) kamen erst mit der D-Mark.
Bauplan für die Halle an der Schwabenstraße (Stadtarchiv Duisburg)
Cornelius Büker mit Tochter Wilhelmine (Aufnahme von 1926) verkaufte Limonade aus eigener Produktion
Neubau im Betrieb: Erfrischungshalle im Jubliläumshain Hamborn
Erfrischungshalle im Jubliläumshain Hamborn, Inhaber F. Schmitz (um 1917)
Im Märchengarten von Willy Göker in Essen
Mehr Kosmos als Kiosk: Treffpunkt für Jung und Alt, seit 1963 betrieben von Willy Göker
Essen: Im Wunderland von Willy Göker
„Sport und Kiosk gratulieren RW Essen zum Aufstieg in die Zweite Bundesliga“
Das Büdchen von Hüseyin Dagli in Ruhrort steht seit 1904 an dieser Stelle und hatte vorher seinen Platz zwischen den Hafenbrücken. Bei einem Trinkhallenwettbewerb von 1998 erhielt es den ersten Preis.
Verkaufshalle Schetzkens: Nachfahren von Valentin Hetzel und Frau. Ihre älteste Tochter führte – später als Frau Schetzkens – weiter die Regie über die Halle. 1933 wurde die neue Kirche gebaut. Die Trinkhalle stand im Weg. Man setzte sie kurzer Hand auf Räder und rollte sie in die nächste Straße neben das erste Siedlungshaus. Dort wurde sie im Krieg zerstört. Aber Frau Schetzkens selbst baute sie in Stein wieder auf.
Man brauchte das Büdchen nicht nur für den Verkauf. Die Schwiegertochter Luise Schetzkens erinnert sich genau: „Wir waren auch die einzigsten gewesen, die ein Telefon hatten in der ganzen Kolonie. Wer hatte denn 1951/52 ein Telefon. Dann ging das nachts klopf, klopf. Ich sach, wat is los? – Luise, ruf die Hebamme an. Mit mein Frau is et soweit.“ Luise Schetzkens hat im Jahr 2004 die Rolläden heruntergelassen. Für immer. Die alten Nachbarn waren gestorben oder weggezogen, der Bergbau stillgelegt, die Siedlung vernachlässigt oder leerstehend. Sie hat das Büdchen einfach stehen lassen und ist gegangen.
110 Jahre Walsumer Kiosk
Trinkhalle Alsan. In den letzten fünf Jahren (vor 2006) hat die Aufgabe traditionsreicher Trinkhallen durch ihre Jahrzehnte langen Betreiber einen Höhepunkt erreicht.
Die Häuschen werden in der Regel von Migranten übernommen. Damit reißt gewöhnlich die Erinnerung ab. Die alten Geschichten verstummen.
Namen nach Lagebezeichnung: Trinkhalle am Hochhaus
Duisburg-Hamborn. 1989 feierte die Familie Smrcka ihr 50jähriges Jubiläum an der Buschstraße. Einst Treffpunkt für Bergleute aus der angrenzenden Jupp-Kolonie und Fußballer von Hamborn 07.
Namen nach Lagebezeichnung. Kiosk am Luftschacht. Auch der Name ist heute Geschichte.
Nordmarkt Kiosk
Zeiterscheinung und neues Geschäftsmodell? Budenzauber im world wide web: kiosk-budenzauber.de
Die Vielfalt der Architektur nimmt wenig Bezug auf die ersten Trinkhallen von 1906 im Ruhrgebiet.
Weil eine Trinkhalle kein Ausschank ist, ist der Alkoholkonsum in der unmittelbaren Umgebung verboten.
“Kundengespräche“
Kundenwünsche und Bestellungen werden notiert.
Die Rheinperle
Dortmund-Eving: Das Häuschen aus dem Baujahr 1912 wurde als Transformatorenstation mitten in die Siedlung Kirdorf gestellt. Für einen verunglückten Bergmann wurde das Häuschen zur Trinkhalle umgebaut, um ihm eine Existenzgrundlage zu schaffen. Die heutige Betreiberin Frau Henkel ist seit 15 Jahren inzwischen vertraut mit allen ihren Kunden. Ihr Mann arbeitete im Hüttenwerk, bis es stillgelegt wurde. Jetzt wechseln sich beide in der Trinkhalle ab.
Eine Möglichkeit, den Kiosk attraktiv zu halten: man erwirbt die Schankerlaubnis, damit aus der Markttrinkhalle mit Toiletten ein Biergarten werden kann – wie hier in Wattenscheid
Döner, Kebab, Pizza... alles, was die Kunden wünschen
Koloniestraße in Duisburg. Hier gibt es Spezialitäten: Trinkhalle für Mensch und Hund...
Moderner Trinkhallen-Tempel am Bahnhof in Duisburg-Meiderich
Als die Stadt Duisburg auf Antrag des Unternehmers Küpper die Trinkhallen in Form von Kur-Pavillons auf Marktplätzen der Stadt errichtete, hoffte sie auf das Wohl des Volkes, das sich nach der schweren Arbeit in den Zechen und Gruben anti-alkoholischen Getränken zuwenden möge. Denn an den Trinkhallen gab es lediglich Mineralwasser und Limonaden (in patentierten Klickerflaschen) und sterilisierte Milch. Alkoholausgabe war per Auflage verboten.
Das Angebot fand großen Zulauf, so dass sich über Jahre und Jahrzehnte solche kleinen Versorgungsstationen in den Siedlungen, in Naherholungsgebieten und an Verkehrsknotenpunkten mehr und mehr ausbreiteten. Sie wurden Teil der Ruhrgebietskultur mit Zigtausenden in ihren besten Zeiten. So lange das deutsche Ladenschlussgesetz das Schließen der üblichen Geschäfte auf 18.30 Uhr verfügte, war es die Domäne der Kioskbesitzer zusätzlich zu Getränken, später auch Alkohol (der aber nicht in unmittelbarer Nähe verzehrt werden durfte), Zeitungen, Eiscreme und diverse praktische Kleinstgüter in Tante-Emma-Manier anzubieten.
„Ich geh ma eben anne Bude...“, bedeutete nicht nur, notwendige Besorgungen zu machen. Hier wurden die neuesten Nachrichten von Mund zu Mund verbreitet. Nicht alles konnte und musste in den Zeitungen stehen, was sich in der Straße und in der Zechenkolonie abspielte. Geschichten über menschliche und technische Generationen hinweg bilden den Mythos von Trinkhallen, der Bude oder dem Büdchen (nach schwedisch Bod) oder dem Kiosk, dessen Wortstamm dem Persischen entspringt. Die Trinkhalle, die Willy Göken seit 1963 in Essen betreibt, nennt sich „Treffpunkt für Jung und Alt“. „Sport und Kiosk gratulieren RW Essen zum Aufstieg in die Zweite Bundesliga“ ist in roter Schrift auf weißem Grund zu lesen. Die Umgebung ist wie eine Märchenwelt gestaltet – mit Ziegen, Wildschweinen und Zwergen. Ein einzigartiger Kosmos.
Aber die beliebten Orte litten mit der Einrichtung von Tankstellenshops, Supermärkten und schließlich mit der Verordnungs-Erweiterung von 1992 über Ladenöffnungszeiten. Zuvor schon waren viele der besonderen Verkaufsstellen von Zechenschließungen und Verödung der Wohngebiete betroffen. Untrennbar mit dem Verschwinden vieler Trinkhallen und mit dem Wechsel ihrer Betreiber unter schlechteren Bedingungen hin zu Migranten und – wie in den Anfängen – hoch ausgelasteten Familienbetrieben ist ein kultureller Wandel verbunden, der wiederum einen Richtungswechsel einläuten könnte: Kommunikation, die heute in Form von elektronischen Hilfsmitteln auch am Kiosk gehandelt wird, ist nicht durch menschliche Kontakte zu ersetzen. Das heutige Wort dazu heißt Lebensqualität. Und die läßt sich nicht allein mit Bargeld oder anderen Zahlungsmitteln erstehen.
Zur Autorin Gerda Sökeland:
Die 1931 in Duisburg geborene Medizinerin Gerda Sökeland betreibt mit ihrem fotografischen Werk soziale und historische Studien. Mehrfach publizierte sie, stellte aus und trug ihre Tonbildschauen im Rahmen von Veranstaltungen der Arbeiterfotografie vor. So zum Bühnenprogramm bei der photokina 2006 "Die Emscher" zur Geschichte der Emscher von der Quelle bis zur Mündung und vom Mittelalter bis heute. Zuletzt war sie 2015 im Rahmen von 25 Jahre Galerie Arbeiterfotografie an der Ausstellung „Stadtmassaker“ mit Fotos und ihrer Tonbildschau „Bruckhausen“ beteiligt.
www.gerdasoekeland.de
Siehe auch:
Fotogalerie "Klagewort vom großen Häusermord"
Galerie Arbeiterfotografie zeigt Fotos der Vernichtung eines Duisburger Stadtteils
NRhZ 537 vom 18.11.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22262
25 Jahre Galerie Arbeiterfotografie
Stadtmassaker – ein Krimi ohne Leichen?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 538 vom 25.11.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22292
Ausstellung „Zum Wohl. Getränke zwischen Kultur und Konsum“
6. Mai 2016 bis 26. März 2017
LWL-Industriemuseum
Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur
Henrichshütte Hattingen
Werksstraße 31-33
45527 Hattingen
Tel.: 02324 9247-140
https://www.lwl.org/industriemuseum/standorte/henrichshuette-hattingen
Online-Flyer Nr. 562 vom 18.05.2016
Trinkhallen im Ruhrgebiet
„Ich geh ma eben anne Bude...“
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Einhundertundzehn Jahre ist es her, seit der Klicker-Flaschen- und Mineralwasserfabrikant Küpper die Genehmigung zur Errichtung der ersten Trinkhallen in Duisburg erhielt. Es waren schmuckvolle Pavillons, die er von den Stadtverordneten 1906 auf Widerruf für zwei mal fünf Jahre in Hamborn und Bruckhausen mietete. Der letzte von fünf Rundbauten befindet sich heute nach aufwändiger Renovierung auf dem Altmarkt in Hamborn und beherbergt seit 1985 einen Döner-Imbiss. Seit 1998 steht er unter Denkmalschutz. Am 20. August 2016 wird er Anlaufstelle am „Ersten Tag der Trinkhallen“ im Ruhrgebiet. Seit dem 6. Mai zeigt das Industriemuseum in Hattingen die Trinkhallenschau: „Zum Wohl. Getränke zwischen Kultur und Konsum“. Über mehrere Jahrzehnte hat Gerda Sökeland Trinkhallen im Ruhrgebiet fotografiert. Wir zeigen hier eine kleine Auswahl.
Marktplatz in Duisburg-Hamburg mit Trinkhallen-Pavillon (um 1906). Am 7. Februar 1906 fand in Hamborn eine Gemeinderatssitzung statt. Man beschloß, dem Antrag des Mineralwasserfabrikanten Küpper stattzugeben, auf den fünf Märkten der Gemeinde je eine Trinkhalle zu errichten.
alle Fotos: Gerda Sökeland aus ihrer Tonbildschau „Budenzauber“ (historische Vorlagen: Hamborner Verlag), Bildunterschriften nach Informationen von Gerda Sökeland
Heute ein Döner-Imbiß. Seit 1998 steht er unter Denkmalschutz. Der letzte der fünf historischen Rundbauten...
... von 1906 befindet sich heute nach aufwändiger Renovierung auf dem Altmarkt in Hamborn.
Duisburg-Hamborn: Abfüllung der selbstgemachten Limonaden in den Stadtfarben rot und grün im Betrieb Büker (seit 1913) in Klickerflaschen
Die Klicker-Flaschen wurden nach englischem Patent auch in Deutschland hergestellt. Im Flaschhals befand sich eine Glaskugel, die durch den Kohlesäurendruck gegen eine Dichtung gepresst wurde und so die Flasche verschloss. Geöffnet wurde mit einem Stöpsel (aus Holz), der den Klicker hinunter drückte.
Das war einmal eine stattliche Halle von Valentin Hetzel (um 1925) auf der Papiermühlenstraße in Hamborn. Frau Hetzel, hier im Fenster mit ihrer jüngsten Tochter, hatte neun Kinder. Ihr Mann war Steiger. Ihr Reich war die Trinkhalle. Hier traf sich auch die Nachbarschaft. Später betrieb die älteste Tochter den Kiosk unter ihrem Namen Schetzkens weiter (siehe unten).
Schwabenstraße in Hamborn stand zwischen Siedlung und Bahnhof. Die Holzhalle von Cornelius Büker hatte beide Weltkriege überstanden. Die Zeit nach 1945 war jedoch eine schlechte Zeit für die Trinkhallen. Außer Limonaden und einem legendären Heißgetränk gab es keine Angebote. Aber wenn Herr Büker ausnahmsweise auch Obst und Gemüse anzubieten hatte, pflegte er in der Halle zu übernachten, um seine Schätze zu bewachen. „Wunder“ (in Tüten für 1 DM!) kamen erst mit der D-Mark.
Bauplan für die Halle an der Schwabenstraße (Stadtarchiv Duisburg)
Cornelius Büker mit Tochter Wilhelmine (Aufnahme von 1926) verkaufte Limonade aus eigener Produktion
Neubau im Betrieb: Erfrischungshalle im Jubliläumshain Hamborn
Erfrischungshalle im Jubliläumshain Hamborn, Inhaber F. Schmitz (um 1917)
Im Märchengarten von Willy Göker in Essen
Mehr Kosmos als Kiosk: Treffpunkt für Jung und Alt, seit 1963 betrieben von Willy Göker
Essen: Im Wunderland von Willy Göker
„Sport und Kiosk gratulieren RW Essen zum Aufstieg in die Zweite Bundesliga“
Das Büdchen von Hüseyin Dagli in Ruhrort steht seit 1904 an dieser Stelle und hatte vorher seinen Platz zwischen den Hafenbrücken. Bei einem Trinkhallenwettbewerb von 1998 erhielt es den ersten Preis.
Verkaufshalle Schetzkens: Nachfahren von Valentin Hetzel und Frau. Ihre älteste Tochter führte – später als Frau Schetzkens – weiter die Regie über die Halle. 1933 wurde die neue Kirche gebaut. Die Trinkhalle stand im Weg. Man setzte sie kurzer Hand auf Räder und rollte sie in die nächste Straße neben das erste Siedlungshaus. Dort wurde sie im Krieg zerstört. Aber Frau Schetzkens selbst baute sie in Stein wieder auf.
Man brauchte das Büdchen nicht nur für den Verkauf. Die Schwiegertochter Luise Schetzkens erinnert sich genau: „Wir waren auch die einzigsten gewesen, die ein Telefon hatten in der ganzen Kolonie. Wer hatte denn 1951/52 ein Telefon. Dann ging das nachts klopf, klopf. Ich sach, wat is los? – Luise, ruf die Hebamme an. Mit mein Frau is et soweit.“ Luise Schetzkens hat im Jahr 2004 die Rolläden heruntergelassen. Für immer. Die alten Nachbarn waren gestorben oder weggezogen, der Bergbau stillgelegt, die Siedlung vernachlässigt oder leerstehend. Sie hat das Büdchen einfach stehen lassen und ist gegangen.
110 Jahre Walsumer Kiosk
Trinkhalle Alsan. In den letzten fünf Jahren (vor 2006) hat die Aufgabe traditionsreicher Trinkhallen durch ihre Jahrzehnte langen Betreiber einen Höhepunkt erreicht.
Die Häuschen werden in der Regel von Migranten übernommen. Damit reißt gewöhnlich die Erinnerung ab. Die alten Geschichten verstummen.
Namen nach Lagebezeichnung: Trinkhalle am Hochhaus
Duisburg-Hamborn. 1989 feierte die Familie Smrcka ihr 50jähriges Jubiläum an der Buschstraße. Einst Treffpunkt für Bergleute aus der angrenzenden Jupp-Kolonie und Fußballer von Hamborn 07.
Namen nach Lagebezeichnung. Kiosk am Luftschacht. Auch der Name ist heute Geschichte.
Nordmarkt Kiosk
Zeiterscheinung und neues Geschäftsmodell? Budenzauber im world wide web: kiosk-budenzauber.de
Die Vielfalt der Architektur nimmt wenig Bezug auf die ersten Trinkhallen von 1906 im Ruhrgebiet.
Weil eine Trinkhalle kein Ausschank ist, ist der Alkoholkonsum in der unmittelbaren Umgebung verboten.
“Kundengespräche“
Kundenwünsche und Bestellungen werden notiert.
Die Rheinperle
Dortmund-Eving: Das Häuschen aus dem Baujahr 1912 wurde als Transformatorenstation mitten in die Siedlung Kirdorf gestellt. Für einen verunglückten Bergmann wurde das Häuschen zur Trinkhalle umgebaut, um ihm eine Existenzgrundlage zu schaffen. Die heutige Betreiberin Frau Henkel ist seit 15 Jahren inzwischen vertraut mit allen ihren Kunden. Ihr Mann arbeitete im Hüttenwerk, bis es stillgelegt wurde. Jetzt wechseln sich beide in der Trinkhalle ab.
Eine Möglichkeit, den Kiosk attraktiv zu halten: man erwirbt die Schankerlaubnis, damit aus der Markttrinkhalle mit Toiletten ein Biergarten werden kann – wie hier in Wattenscheid
Döner, Kebab, Pizza... alles, was die Kunden wünschen
Koloniestraße in Duisburg. Hier gibt es Spezialitäten: Trinkhalle für Mensch und Hund...
Moderner Trinkhallen-Tempel am Bahnhof in Duisburg-Meiderich
Als die Stadt Duisburg auf Antrag des Unternehmers Küpper die Trinkhallen in Form von Kur-Pavillons auf Marktplätzen der Stadt errichtete, hoffte sie auf das Wohl des Volkes, das sich nach der schweren Arbeit in den Zechen und Gruben anti-alkoholischen Getränken zuwenden möge. Denn an den Trinkhallen gab es lediglich Mineralwasser und Limonaden (in patentierten Klickerflaschen) und sterilisierte Milch. Alkoholausgabe war per Auflage verboten.
Das Angebot fand großen Zulauf, so dass sich über Jahre und Jahrzehnte solche kleinen Versorgungsstationen in den Siedlungen, in Naherholungsgebieten und an Verkehrsknotenpunkten mehr und mehr ausbreiteten. Sie wurden Teil der Ruhrgebietskultur mit Zigtausenden in ihren besten Zeiten. So lange das deutsche Ladenschlussgesetz das Schließen der üblichen Geschäfte auf 18.30 Uhr verfügte, war es die Domäne der Kioskbesitzer zusätzlich zu Getränken, später auch Alkohol (der aber nicht in unmittelbarer Nähe verzehrt werden durfte), Zeitungen, Eiscreme und diverse praktische Kleinstgüter in Tante-Emma-Manier anzubieten.
„Ich geh ma eben anne Bude...“, bedeutete nicht nur, notwendige Besorgungen zu machen. Hier wurden die neuesten Nachrichten von Mund zu Mund verbreitet. Nicht alles konnte und musste in den Zeitungen stehen, was sich in der Straße und in der Zechenkolonie abspielte. Geschichten über menschliche und technische Generationen hinweg bilden den Mythos von Trinkhallen, der Bude oder dem Büdchen (nach schwedisch Bod) oder dem Kiosk, dessen Wortstamm dem Persischen entspringt. Die Trinkhalle, die Willy Göken seit 1963 in Essen betreibt, nennt sich „Treffpunkt für Jung und Alt“. „Sport und Kiosk gratulieren RW Essen zum Aufstieg in die Zweite Bundesliga“ ist in roter Schrift auf weißem Grund zu lesen. Die Umgebung ist wie eine Märchenwelt gestaltet – mit Ziegen, Wildschweinen und Zwergen. Ein einzigartiger Kosmos.
Aber die beliebten Orte litten mit der Einrichtung von Tankstellenshops, Supermärkten und schließlich mit der Verordnungs-Erweiterung von 1992 über Ladenöffnungszeiten. Zuvor schon waren viele der besonderen Verkaufsstellen von Zechenschließungen und Verödung der Wohngebiete betroffen. Untrennbar mit dem Verschwinden vieler Trinkhallen und mit dem Wechsel ihrer Betreiber unter schlechteren Bedingungen hin zu Migranten und – wie in den Anfängen – hoch ausgelasteten Familienbetrieben ist ein kultureller Wandel verbunden, der wiederum einen Richtungswechsel einläuten könnte: Kommunikation, die heute in Form von elektronischen Hilfsmitteln auch am Kiosk gehandelt wird, ist nicht durch menschliche Kontakte zu ersetzen. Das heutige Wort dazu heißt Lebensqualität. Und die läßt sich nicht allein mit Bargeld oder anderen Zahlungsmitteln erstehen.
Zur Autorin Gerda Sökeland:
Die 1931 in Duisburg geborene Medizinerin Gerda Sökeland betreibt mit ihrem fotografischen Werk soziale und historische Studien. Mehrfach publizierte sie, stellte aus und trug ihre Tonbildschauen im Rahmen von Veranstaltungen der Arbeiterfotografie vor. So zum Bühnenprogramm bei der photokina 2006 "Die Emscher" zur Geschichte der Emscher von der Quelle bis zur Mündung und vom Mittelalter bis heute. Zuletzt war sie 2015 im Rahmen von 25 Jahre Galerie Arbeiterfotografie an der Ausstellung „Stadtmassaker“ mit Fotos und ihrer Tonbildschau „Bruckhausen“ beteiligt.
www.gerdasoekeland.de
Siehe auch:
Fotogalerie "Klagewort vom großen Häusermord"
Galerie Arbeiterfotografie zeigt Fotos der Vernichtung eines Duisburger Stadtteils
NRhZ 537 vom 18.11.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22262
25 Jahre Galerie Arbeiterfotografie
Stadtmassaker – ein Krimi ohne Leichen?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 538 vom 25.11.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22292
Ausstellung „Zum Wohl. Getränke zwischen Kultur und Konsum“
6. Mai 2016 bis 26. März 2017
LWL-Industriemuseum
Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur
Henrichshütte Hattingen
Werksstraße 31-33
45527 Hattingen
Tel.: 02324 9247-140
https://www.lwl.org/industriemuseum/standorte/henrichshuette-hattingen
Online-Flyer Nr. 562 vom 18.05.2016