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Literatur
Aus der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" – Folge 1
1968 – AktionsKomitee Kammerspiele München
Von Erasmus Schöfer
Am 4. Juni 1931 – vor jetzt nahezu 85 Jahren – ist er geboren: Erasmus Schöfer. Seit 1962 ist er als freier Schriftsteller tätig. 1965 zieht er nach München, wo er sich gegen die Notstandsgesetze und später in der Ostermarschbewegung engagiert. 1969 ist er Mitgründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt". Zwischen 2001 und 2008 erscheint seine Sisyfos-Tetralogie, ein auf vier Bände angelegter Romanzyklus "Die Kinder des Sisyfos" (Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001; Zwielicht, 2004; Sonnenflucht, 2005; Winterdämmerung, 2008) über die deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1989, die die Erinnerung an eine Linke vergegenwärtigt und bewahrt, die zwar erhebliche Veränderungen in Gang setzte, ihr Ziel, eine humane sozialistische Gesellschaftsordnung, jedoch verfehlte. Die NRhZ bringt aus den vier, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassenden Bänden neun Auszüge – Folge 1 aus "Ein Frühling irrer Hoffnung".
Erasmus Schöfer mit seiner Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" (Foto aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 68er Köpfe)
Eine Woche heftiger Auseinandersetzungen
Eine Woche lang gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Pariser Studenten und der Mobilen Polizei CRS, welche die Sorbonne besetzt hatte, um Kundgebungen zu verhindern. Tausende demonstrierten deshalb im Quartier Latin um die Universität und verteidigten sich mit Pflastersteinen gegen die mit Tränengas und Knüppeln angreifende Polizei. Dutzende von umgestürzten und ausgebrannten Autos zeugten in den Fernsehnachrichten von erbitterten Kämpfen bei den nächtlichen Straßenschlachten. Bei den Pariser Korrespondenten tauchten Erinnerungen an Bastillesturm und Commune auf und Sorgen um den Bestand der Fünften Republik. Von achtzigtausend Teilnehmern des Sternmarschs auf Bonn hatte der Reporter gesprochen, der die Kamerafahrten über die Hofgartenwiese kommentierte, auf der ein maibuntes friedliches Volk den Reden von der Tribüne applaudierte, überwölkt von Transparenten Slogans skandierte und Würstchen aß. Unter dem die halbe UniversitätsFassade verdeckenden Tuch mit der menschhohen Aufschrift ES IST DIE PFLICHT EINES JEDEN DEMOKRATEN DEN NOTSTANDSSTAAT ZU BEKÄMPFEN forderte der Mann mit der Baskenmütze, Deutschlands berühmtester lebender Schriftsteller, die SPD zur Verhinderung der NotstandsGesetze auf und nannte Radikalismus einen Ehrentitel. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schaffte seine Funktionäre gleichzeitig zum gesitteten eignen Protest in die Dortmunder Westfalenhalle statt an den Rand der Bonner Bannmeile zu den APOisten. Blamierte so die deutsche Arbeiterbewegung vor der französischen, die auf den Champs Elysées – lief nach der Probenbesprechung in der TeaterKantine die Feuermeldung - in Stärke einer halben Million den Studenten an die Seite strömte und mit dem vierundzwanzigstündigen Generalstreik die Republik de Gaulles erschütterte.
Unruhe bei den Münchner Kammerspielen
Am Mittwoch lagen in der Kantine auf allen Tischen Handzettel der Münchner Ortsverwaltung der ÖTV, in denen mitgeteilt wurde, dass die Beschlüsse des Geschäftsführenden Hauptvorstands für alle Ortsgruppen verbindlich seien, insbesondere der Beschluss, daß die Gewerkschaft ÖTV nicht zu Proteststreiks aufrufen wird, und daß örtliche Aktionen gegen die Notstandsgesetze nur im Einvernehmen mit dem Geschäftsführenden Hauptvorstand geplant und durchgeführt werden dürfen. Eine Solidarisierung mit Gruppen außerhalb der Gewerkschaften und Teilnahme an Aktionskomitees mit solchen Gruppen kommt nicht infrage.
Bei der Betriebsversammlung musste Kirchlechner seine Empörung nicht spielen. Da hatte er sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, um für das Ensemble eine vernünftige Resolution auf die Beine zu stellen und dann das! Er schwenkte das Papier über den versammelten Köpfen der Angestellten Arbeiter und Schauspieler – so versucht ein armseliges Häuflein hochbezahlter Spitzenfunktionäre den Willen hunderttausender Mitglieder zu gängeln! Eindeutiger können die Gewerkschaftsbosse nicht demonstrieren, wie sehr sie sich diesen Namen auch in Deutschland verdient haben! Kirch forderte die Kollegen von der Technik auf, sich nicht von ihren abgehobenen Vertretern im Nadelstreifenanzug einschüchtern zu lassen, die wahrscheinlich in den Jahren der Konzertierten Aktion vergessen hätten zu wem sie gehören. Sondern solidarisch zu sein im Widerstand, mit der Mehrheit dieses ihres Teaterbetriebs.
Die Bruhn glaubte zu Bliss und Lena, dass Kirch in der Nacht noch den Danton gelesen hatte. Der ÖTV Obmann sprang aber sofort auf, unerschrocken von dem massiven Beifall für Kirchlechner, er ließe sich nicht durch solche Brandreden von seiner gewählten Führung auseinanderdividieren, aus Verantwortung wolle die vermeiden, dass die Kollegen in anarchistische Aktionen getrieben würden, die ihnen wenn nicht den Kopf, dann doch den Arbeitsplatz kosten können. Oder ob sie die zwei Toten von Ostern vergessen hätten? Ob sie Barrikaden und brennende Autos in der Maximilianstraße sehen wollten, nach Pariser Vorbild? Der Kollege Kirchlechner solle sagen, ob er seine Wohnung für einen gefeuerten Bühnenarbeiter großherzig zur Verfügung stellen würde, der dann auch seine Werkswohnung verliert?
Bruno Ganz schlug doch etwas mehr Heiterkeit vor, im Musentempel, und bat mit leichtem Grinsen um die Mundwinkel um drei Minuten Konzentration für die erste und hoffentlich vor diesem Gremium einzige Lesung der Erklärung zu den Notstandsgesetzen, die von der am Montag eingesetzten Fünferbande ausgearbeitet worden sei. Also passt gut auf, damit ihr gleich darüber abstimmen könnt! Er reckte sich in seine ganze überdurchschnittliche Länge und las auf die Köpfe herab:
ERKLÄRUNG ZU DEN NOTSTANDSGESETZEN
Abgegeben von Angehörigen des künstlerischen und technischen Personals der Kammerspiele München:
Trotz des wachsenden Widerstandes aus allen Teilen der Bevölkerung hat der Bundestag die Notstandsgesetze in 2. Lesung verabschiedet. Die 3. Lesung, und damit die endgültige Verabschiedung, steht unmittelbar bevor. Zwar haben die öffentlichen Proteste der Gesetzgegner die Parteien der Großen Koalition zu Entschärfungen der ursprünglichen Regierungsvorlage veranlaßt, dennoch bedeuten die Notstandsgesetze auch in ihrer vorliegenden Fassung nicht etwa eine Ergänzung des Grundgesetzes – wie deren Befürworter uns weismachen wollen – sondern eine prinzipielle Änderung und Aushöhlung der Verfassung:
Daraus wird ersichtlich, dass die Notstandsgesetze nicht nur die Aufhebung wesentlicher bürgerlicher Grundrechte, die Stärkung der exekutiven Gewalt und damit die Selbstentmachtung des Parlaments bedeuten, sondern auch die entscheidende Beschränkung der politischen Rechte der organisierten Arbeiterschaft zum Ziel haben.
Diesen Sachverhalt versuchen die Parteien durch Schönfärberei, unzureichende Information der Bevölkerung und große Hast bei der Verabschiedung der letzten Fassung der Gesetze zu verschleiern. Wir sind der Meinung, dass damit sowohl die Parteien als auch das Parlament ihren verfassungsmäßigen Auftrag, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, nicht erfüllt haben.
Daraus entsteht für uns die Notwendigkeit – und es bleibt unsre letzte Chance – uns überall an unseren Arbeitsplätzen selbst zu organisieren, das heißt uns zu Diskussionen zusammenzufinden, um dort konkrete Formen des Widerstands gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze gemeinsam zu beschließen.
Wir fordern daher alle Kolleginnen und Kollegen an den Theatern der Bundesrepublik und Westberlins auf, sich unserer Aktion anzuschließen und in der Zeit bis zum oder möglichst am Vorabend der 3. Lesung der Notstandsgesetze in ihren Theatern politische Warnstreiks durchzuführen. Die dabei gegebene Möglichkeit, mit dem Publikum zu diskutieren, sollte unbedingt genutzt werden.
Wir fordern unser Publikum, wir fordern alle Arbeiter, Angestellten, Studenten und Schüler auf, sich mit den unteren Gewerkschaftsorganen ihrer Bezirke zu AktionsKomitees zusammenzuschließen, um durch Streiks die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu verhindern.
Abstimmung
Ich bin einer von den Fünfen, wie ihr wisst, und ich find die Sache unheimlich gut und denk, alle können dem zustimmen und wenn das schnell läuft, haben wir genug Zeit darüber zu reden, was wir außer großen Worten noch gemeinsam aushecken wollen.
Lena und Christiane, das sah Bliss mit einem schnellen Blick rechtslinks, hatten ein leicht amüsiertes Lächeln aufgesetzt, auch die Giehse schaute irgendwie gerührt Richtung Ganz, der herbe Charme des jungen Schauspielers wirkte offenbar bei Frauen stärker als die politische Argumentation des Textes. Sogar Maria Singer schien dem erlegen oder hatte die Sprengkraft der Forderungen nicht erkannt, blickte jedenfalls eher verklärt als empört zu ihrem WahlSohn. So konzentriert wie suggestiv hatte Ganz gelesen und dadurch dem spröden Text Faszinationskraft gegeben. Die Stille war nicht geräuschlos – an manchen Tischen wurde leise geredet, Stuhlbeine kratzten über den Boden, der Kantinenwirt spülte Gläser hinter der Teke, dennoch gab es eine ruhige wache Aufmerksamkeit im Raum. Die anfängliche Aufgeregtheit war durch die Kraft der glaubhaften Fakten in Nachdenklichkeit verwandelt, auch bei den Gegnern einer politischen Aktion des Ensembles. Es gab genügend Mitglieder des Hauses, die in ihrem jahrzehntealten Grundvertrauen in die Beschlüsse der weit entfernten Bonner oder der näheren bayerischen Politiker kaum zu erschüttern waren, die in Verbindung mit ihrer Arbeitsstelle in Begriffen wie Chef, Lohntüte, Kündigungsschutz und vielleicht noch Betriebsrat zu denken sich erlaubten, doch das Gedankengewebe der Resolution war zu dicht und folgerichtig gestrickt, als dass jemand sich mit einer impulsiven Erwiderung hervorgetraut hätte. Einen direkten Streikaufruf hatten die Fünf nicht in das Papier geschrieben, hatten sich knapp unterhalb dieser möglichen Bruchstelle gehalten.
Ganz wartete nicht länger, dass sich ein Gegner zu Wort meldete, bat die Kolleginnen und Kollegen durch Handaufheben der Resolution zuzustimmen und erklärte die gereckten Arme ohne weiteres Zählen zur überwiegenden Mehrheit. Irgendwer protestierte, aber das ging in dem Beifallsjubel unter, der sich anhörte, als seien mit der Zustimmung bereits die Gesetze selbst gekippt. Der Text wurde in zwei Exemplaren herumgereicht, damit alle die wollten persönlich unterschreiben konnten. Unterdessen entbrannte der Streit in voller Schärfe über die Frage, ob über die Verlesung vor Publikum hinaus die Kammerspiele den in der Erklärung geforderten Streik auch selbst ausrufen sollten.
Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos
Roman-Tetralogie, Gesamtpreis 77 Euro
Dittrich Verlag (http://www.dittrich-verlag.de/)
Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001, 496 Seiten, 17,80 Euro
Band 2: Zwielicht, 2004, 600 Seiten, 19,80 Euro
Band 3: Sonnenflucht, 2005, 380 Seiten, 19,80 Euro
Band 4: Winterdämmerung, 2008, 632 Seiten, 24,80 Euro
Die NRhZ dankt dem Autor Erasmus Schöfer und dem Dittrich-Verlag für die Abdruckerlaubnis sowie der Redaktion von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation, für die Bereitstellung der neun Auszüge.
Siehe auch:
68er Köpfe
Portraits mit Statements zur 68er-Bewegung - Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung
http://www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/68er/exponat-02.html
Online-Flyer Nr. 563 vom 25.05.2016
Aus der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" – Folge 1
1968 – AktionsKomitee Kammerspiele München
Von Erasmus Schöfer
Am 4. Juni 1931 – vor jetzt nahezu 85 Jahren – ist er geboren: Erasmus Schöfer. Seit 1962 ist er als freier Schriftsteller tätig. 1965 zieht er nach München, wo er sich gegen die Notstandsgesetze und später in der Ostermarschbewegung engagiert. 1969 ist er Mitgründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt". Zwischen 2001 und 2008 erscheint seine Sisyfos-Tetralogie, ein auf vier Bände angelegter Romanzyklus "Die Kinder des Sisyfos" (Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001; Zwielicht, 2004; Sonnenflucht, 2005; Winterdämmerung, 2008) über die deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1989, die die Erinnerung an eine Linke vergegenwärtigt und bewahrt, die zwar erhebliche Veränderungen in Gang setzte, ihr Ziel, eine humane sozialistische Gesellschaftsordnung, jedoch verfehlte. Die NRhZ bringt aus den vier, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassenden Bänden neun Auszüge – Folge 1 aus "Ein Frühling irrer Hoffnung".
Erasmus Schöfer mit seiner Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" (Foto aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 68er Köpfe)
Eine Woche heftiger Auseinandersetzungen
Eine Woche lang gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Pariser Studenten und der Mobilen Polizei CRS, welche die Sorbonne besetzt hatte, um Kundgebungen zu verhindern. Tausende demonstrierten deshalb im Quartier Latin um die Universität und verteidigten sich mit Pflastersteinen gegen die mit Tränengas und Knüppeln angreifende Polizei. Dutzende von umgestürzten und ausgebrannten Autos zeugten in den Fernsehnachrichten von erbitterten Kämpfen bei den nächtlichen Straßenschlachten. Bei den Pariser Korrespondenten tauchten Erinnerungen an Bastillesturm und Commune auf und Sorgen um den Bestand der Fünften Republik. Von achtzigtausend Teilnehmern des Sternmarschs auf Bonn hatte der Reporter gesprochen, der die Kamerafahrten über die Hofgartenwiese kommentierte, auf der ein maibuntes friedliches Volk den Reden von der Tribüne applaudierte, überwölkt von Transparenten Slogans skandierte und Würstchen aß. Unter dem die halbe UniversitätsFassade verdeckenden Tuch mit der menschhohen Aufschrift ES IST DIE PFLICHT EINES JEDEN DEMOKRATEN DEN NOTSTANDSSTAAT ZU BEKÄMPFEN forderte der Mann mit der Baskenmütze, Deutschlands berühmtester lebender Schriftsteller, die SPD zur Verhinderung der NotstandsGesetze auf und nannte Radikalismus einen Ehrentitel. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schaffte seine Funktionäre gleichzeitig zum gesitteten eignen Protest in die Dortmunder Westfalenhalle statt an den Rand der Bonner Bannmeile zu den APOisten. Blamierte so die deutsche Arbeiterbewegung vor der französischen, die auf den Champs Elysées – lief nach der Probenbesprechung in der TeaterKantine die Feuermeldung - in Stärke einer halben Million den Studenten an die Seite strömte und mit dem vierundzwanzigstündigen Generalstreik die Republik de Gaulles erschütterte.
Unruhe bei den Münchner Kammerspielen
Am Mittwoch lagen in der Kantine auf allen Tischen Handzettel der Münchner Ortsverwaltung der ÖTV, in denen mitgeteilt wurde, dass die Beschlüsse des Geschäftsführenden Hauptvorstands für alle Ortsgruppen verbindlich seien, insbesondere der Beschluss, daß die Gewerkschaft ÖTV nicht zu Proteststreiks aufrufen wird, und daß örtliche Aktionen gegen die Notstandsgesetze nur im Einvernehmen mit dem Geschäftsführenden Hauptvorstand geplant und durchgeführt werden dürfen. Eine Solidarisierung mit Gruppen außerhalb der Gewerkschaften und Teilnahme an Aktionskomitees mit solchen Gruppen kommt nicht infrage.
Bei der Betriebsversammlung musste Kirchlechner seine Empörung nicht spielen. Da hatte er sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, um für das Ensemble eine vernünftige Resolution auf die Beine zu stellen und dann das! Er schwenkte das Papier über den versammelten Köpfen der Angestellten Arbeiter und Schauspieler – so versucht ein armseliges Häuflein hochbezahlter Spitzenfunktionäre den Willen hunderttausender Mitglieder zu gängeln! Eindeutiger können die Gewerkschaftsbosse nicht demonstrieren, wie sehr sie sich diesen Namen auch in Deutschland verdient haben! Kirch forderte die Kollegen von der Technik auf, sich nicht von ihren abgehobenen Vertretern im Nadelstreifenanzug einschüchtern zu lassen, die wahrscheinlich in den Jahren der Konzertierten Aktion vergessen hätten zu wem sie gehören. Sondern solidarisch zu sein im Widerstand, mit der Mehrheit dieses ihres Teaterbetriebs.
Die Bruhn glaubte zu Bliss und Lena, dass Kirch in der Nacht noch den Danton gelesen hatte. Der ÖTV Obmann sprang aber sofort auf, unerschrocken von dem massiven Beifall für Kirchlechner, er ließe sich nicht durch solche Brandreden von seiner gewählten Führung auseinanderdividieren, aus Verantwortung wolle die vermeiden, dass die Kollegen in anarchistische Aktionen getrieben würden, die ihnen wenn nicht den Kopf, dann doch den Arbeitsplatz kosten können. Oder ob sie die zwei Toten von Ostern vergessen hätten? Ob sie Barrikaden und brennende Autos in der Maximilianstraße sehen wollten, nach Pariser Vorbild? Der Kollege Kirchlechner solle sagen, ob er seine Wohnung für einen gefeuerten Bühnenarbeiter großherzig zur Verfügung stellen würde, der dann auch seine Werkswohnung verliert?
Bruno Ganz schlug doch etwas mehr Heiterkeit vor, im Musentempel, und bat mit leichtem Grinsen um die Mundwinkel um drei Minuten Konzentration für die erste und hoffentlich vor diesem Gremium einzige Lesung der Erklärung zu den Notstandsgesetzen, die von der am Montag eingesetzten Fünferbande ausgearbeitet worden sei. Also passt gut auf, damit ihr gleich darüber abstimmen könnt! Er reckte sich in seine ganze überdurchschnittliche Länge und las auf die Köpfe herab:
ERKLÄRUNG ZU DEN NOTSTANDSGESETZEN
Abgegeben von Angehörigen des künstlerischen und technischen Personals der Kammerspiele München:
Trotz des wachsenden Widerstandes aus allen Teilen der Bevölkerung hat der Bundestag die Notstandsgesetze in 2. Lesung verabschiedet. Die 3. Lesung, und damit die endgültige Verabschiedung, steht unmittelbar bevor. Zwar haben die öffentlichen Proteste der Gesetzgegner die Parteien der Großen Koalition zu Entschärfungen der ursprünglichen Regierungsvorlage veranlaßt, dennoch bedeuten die Notstandsgesetze auch in ihrer vorliegenden Fassung nicht etwa eine Ergänzung des Grundgesetzes – wie deren Befürworter uns weismachen wollen – sondern eine prinzipielle Änderung und Aushöhlung der Verfassung:
- Obwohl in Artikel 10/Absatz 1 für unverletzlich erklärt, kann das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis jederzeit durch einfaches Bundesgesetz aufgehoben werden, ohne dass die Betroffenen davon erfahren oder gerichtlich Einspruch erheben können.
- Ohne das Parlament zu befragen, kann die Bundesregierung auf Grund einfacher Gesetze den inneren Notstand feststellen und sich damit das Recht verschaffen, zum Beispiel die Freizügigkeit der Bürger zu beschränken, die Polizeikräfte der Länder ihren Weisungen zu unterstellen und den Bundesgrenzschutz im Inneren einzusetzen.
- Ebenso ohne Zustimmung des Parlaments kann die Bundesregierung auf Grund eines NATO-Beschlusses den sogenannten Spannungsfall erklären und damit den gesamten Katalog der Notstandsmaßnahmen zur Anwendung bringen, also zum Beispiel die Bundeswehr gegen politische Streiks einsetzen.
Daraus wird ersichtlich, dass die Notstandsgesetze nicht nur die Aufhebung wesentlicher bürgerlicher Grundrechte, die Stärkung der exekutiven Gewalt und damit die Selbstentmachtung des Parlaments bedeuten, sondern auch die entscheidende Beschränkung der politischen Rechte der organisierten Arbeiterschaft zum Ziel haben.
Diesen Sachverhalt versuchen die Parteien durch Schönfärberei, unzureichende Information der Bevölkerung und große Hast bei der Verabschiedung der letzten Fassung der Gesetze zu verschleiern. Wir sind der Meinung, dass damit sowohl die Parteien als auch das Parlament ihren verfassungsmäßigen Auftrag, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, nicht erfüllt haben.
Daraus entsteht für uns die Notwendigkeit – und es bleibt unsre letzte Chance – uns überall an unseren Arbeitsplätzen selbst zu organisieren, das heißt uns zu Diskussionen zusammenzufinden, um dort konkrete Formen des Widerstands gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze gemeinsam zu beschließen.
Wir fordern daher alle Kolleginnen und Kollegen an den Theatern der Bundesrepublik und Westberlins auf, sich unserer Aktion anzuschließen und in der Zeit bis zum oder möglichst am Vorabend der 3. Lesung der Notstandsgesetze in ihren Theatern politische Warnstreiks durchzuführen. Die dabei gegebene Möglichkeit, mit dem Publikum zu diskutieren, sollte unbedingt genutzt werden.
Wir fordern unser Publikum, wir fordern alle Arbeiter, Angestellten, Studenten und Schüler auf, sich mit den unteren Gewerkschaftsorganen ihrer Bezirke zu AktionsKomitees zusammenzuschließen, um durch Streiks die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu verhindern.
Abstimmung
Ich bin einer von den Fünfen, wie ihr wisst, und ich find die Sache unheimlich gut und denk, alle können dem zustimmen und wenn das schnell läuft, haben wir genug Zeit darüber zu reden, was wir außer großen Worten noch gemeinsam aushecken wollen.
Lena und Christiane, das sah Bliss mit einem schnellen Blick rechtslinks, hatten ein leicht amüsiertes Lächeln aufgesetzt, auch die Giehse schaute irgendwie gerührt Richtung Ganz, der herbe Charme des jungen Schauspielers wirkte offenbar bei Frauen stärker als die politische Argumentation des Textes. Sogar Maria Singer schien dem erlegen oder hatte die Sprengkraft der Forderungen nicht erkannt, blickte jedenfalls eher verklärt als empört zu ihrem WahlSohn. So konzentriert wie suggestiv hatte Ganz gelesen und dadurch dem spröden Text Faszinationskraft gegeben. Die Stille war nicht geräuschlos – an manchen Tischen wurde leise geredet, Stuhlbeine kratzten über den Boden, der Kantinenwirt spülte Gläser hinter der Teke, dennoch gab es eine ruhige wache Aufmerksamkeit im Raum. Die anfängliche Aufgeregtheit war durch die Kraft der glaubhaften Fakten in Nachdenklichkeit verwandelt, auch bei den Gegnern einer politischen Aktion des Ensembles. Es gab genügend Mitglieder des Hauses, die in ihrem jahrzehntealten Grundvertrauen in die Beschlüsse der weit entfernten Bonner oder der näheren bayerischen Politiker kaum zu erschüttern waren, die in Verbindung mit ihrer Arbeitsstelle in Begriffen wie Chef, Lohntüte, Kündigungsschutz und vielleicht noch Betriebsrat zu denken sich erlaubten, doch das Gedankengewebe der Resolution war zu dicht und folgerichtig gestrickt, als dass jemand sich mit einer impulsiven Erwiderung hervorgetraut hätte. Einen direkten Streikaufruf hatten die Fünf nicht in das Papier geschrieben, hatten sich knapp unterhalb dieser möglichen Bruchstelle gehalten.
Ganz wartete nicht länger, dass sich ein Gegner zu Wort meldete, bat die Kolleginnen und Kollegen durch Handaufheben der Resolution zuzustimmen und erklärte die gereckten Arme ohne weiteres Zählen zur überwiegenden Mehrheit. Irgendwer protestierte, aber das ging in dem Beifallsjubel unter, der sich anhörte, als seien mit der Zustimmung bereits die Gesetze selbst gekippt. Der Text wurde in zwei Exemplaren herumgereicht, damit alle die wollten persönlich unterschreiben konnten. Unterdessen entbrannte der Streit in voller Schärfe über die Frage, ob über die Verlesung vor Publikum hinaus die Kammerspiele den in der Erklärung geforderten Streik auch selbst ausrufen sollten.
Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos
Roman-Tetralogie, Gesamtpreis 77 Euro
Dittrich Verlag (http://www.dittrich-verlag.de/)
Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001, 496 Seiten, 17,80 Euro
Band 2: Zwielicht, 2004, 600 Seiten, 19,80 Euro
Band 3: Sonnenflucht, 2005, 380 Seiten, 19,80 Euro
Band 4: Winterdämmerung, 2008, 632 Seiten, 24,80 Euro
Die NRhZ dankt dem Autor Erasmus Schöfer und dem Dittrich-Verlag für die Abdruckerlaubnis sowie der Redaktion von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation, für die Bereitstellung der neun Auszüge.
Siehe auch:
68er Köpfe
Portraits mit Statements zur 68er-Bewegung - Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung
http://www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/68er/exponat-02.html
Online-Flyer Nr. 563 vom 25.05.2016