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Aktueller Online-Flyer vom 23. November 2024  

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Literatur
Aus der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" – Folge 4
Die Werkstatt hat Kopfschmerzen
Von Erasmus Schöfer

Am 4. Juni 1931 – vor 85 Jahren – ist er geboren. Seit 1962 ist er als freier Schriftsteller tätig. 1965 zieht er nach München, wo er sich gegen die Notstandsgesetze und später in der Ostermarschbewegung engagiert. 1969 ist er Mitgründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt". Zwischen 2001 und 2008 erscheint seine Sisyfos-Tetralogie, ein auf vier Bände angelegter Romanzyklus "Die Kinder des Sisyfos" (Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001; Zwielicht, 2004; Sonnenflucht, 2005; Winterdämmerung, 2008) über die deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1989, die die Erinnerung an eine Linke vergegenwärtigt und bewahrt, die zwar erhebliche Veränderungen in Gang setzte, ihr Ziel, ein humane sozialistische Gesellschaftsordnung, jedoch verfehlte. Die NRhZ bringt aus den vier, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassenden Bänden neun Auszüge – Folge 4 aus "Zwielicht". Es geht um das Wirken in den Werkstätten des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, von dem in über 60 Taschenbüchern und ungezählten Basispublikationen realistische Informationen aus der Arbeitswelt verbreitet wurden.


Erasmus Schöfer mit seiner Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" (Foto aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 68er Köpfe)

Sie waren um acht schon ziemlich erschöpft, als Hermann forderte, nun endlich zu ihrer Hauptaufgabe vorzustoßen und, ohne auf Muschs und Dietmars weitere Tagesordnungspunkte (Lesungen bei den Metallern in Sprockhövel, Anträge an die Regionalversammlung) Rücksicht zu nehmen, mit einem entschiedenen Ihrkönntmichmal, das ist jetzt wichtiger! Die Kopien seines neuen Textes zum BürgerinitiativenRoman zu verteilen.

Er hatte die Stimmung in der Werkstatt richtig verstanden. Die meisten waren froh, sich endlich mit dem beschäftigen zu können, was sie immer noch, und besonders nach solchen zähen Diskussionen, als ihre eigentliche, als die schöne und lustvolle Seite ihrer wöchentlichen Sitzungen erlebten – die Arbeit an einem Stück Literatur. Oft entstand ein solcher Druck durch die von allen prinzipiell als notwendig anerkannten organisatorischen Aufgaben – erforderlich zur Verbesserung, zur vorausschauenden Planung und zur gezielten Verbreitung ihrer Bücher, dass sich das Beiwerk vor ihre Herzenssache schob und sie fast überwucherte.

Manche, die eher aus politischem Intresse in eine der Werkstätten des Werkkreises geraten waren, die lernen wollten gute Flugblätter oder Betriebszeitungen zu verfassen, empfanden das weniger stark. Manchen erschienen die Hemmungen, die scheinbaren Nachlässigkeiten und Umständlichkeiten der schreibenden Arbeiter als lästige Entwicklungsprobleme der Menschen, nicht der Literatur, die zu bewältigen seien durch noch bessere Planung und Organisation. Es gab zwar unter den Frauen und Männern im Werkkreis grundsätzliche Übereinstimmung bei den Zielen ihrer Arbeit, wie sie auch in seinem Programm festgeschrieben waren, immer neu aber flammten die Meinungsverschiedenheiten auf, wie denn diese Ziele zu erreichen, wie die Erfahrungen der einzelnen in eine möglichst allgemeingültige, vor allem von der arbeitenden Bevölkerung verstandene und gern und mit politischem Nutzen gelesene Literatur umzusetzen seien. Die Diskussion darüber entzündete sich an den einzelnen Büchern, die von den verschiedenen, auch individuell geprägten Werkstätten herausgegeben wurden und führte manchmal zu extrem unterschiedlichen Urteilen, so dass schließlich alle Definitionsmühen immer wieder bei Brechts Überlegungen zur Weite und Vielfalt realistischer Schreibweise als letzter Zuflucht und Gewissheit endeten.

Hermann hatte seine Beschreibung der Vorgänge im Reisholzer MannesmannBetrieb um die Kaltstellung von Manfred Anklam fertig gelesen, nicht ohne sich mehrfach durch ein Achduscheiße! Mist! HierfehlteinAbsatz! zu unterbrechen, und jedesmal in ungespielter Bestürzung, wenn er sich in den Verweisen und Nachbesserungen des Manuskripts nicht so schnell zurecht fand, wie es die Dramatik der dargestellten Ereignisse erforderte. Der Beifall, den die sieben andern auf den Tisch klopften, war stark, ließ sein zweifelndes Gesicht in ein befreites Lächeln aufgehn, denn mit erfahrenen Schreibern waren die Kollegen meist streng, anders als bei Anfängern, deren Selbstvertrauen ermutigt werden musste. Hermann war zwar auch für Lob und Zustimmung empfänglich, aber mit seinen Arbeiten gingen sie unverblümt zu Werk – er war nicht nur die fleischgewordne Gutmütigkeit, sondern schluckte sachhaltige Vorschläge mit Neugier, ja Lust.

Die übliche Pause trat ein, hervorgerufen durch die Absicht der erfahrenen Schreiber der Werkstatt, den Neueren nicht durch ihr Urteil den Mut zu spontanen kritischen Äußerungen zu nehmen. Die aber, noch unsicher, warteten lieber, bis Josef oder Armin oder Dietmar erste verbale Schneisen in das noch diffuse Dickicht der Eindrücke gebahnt hatten.

An diesem Freitag allerdings lief alles anders. Musch hatte als einziger kein Zeichen von Zustimmung gegeben, saß mit hängendem Schnäuzer und gefurchter Stirn vor seinem Manuskript-Exemplar, ließ seinen Kugelschreiber Piruetten tanzen und war sichtlich außerordentlich unzufrieden. Nie machte er bei der Textkritik den Anfang, aber an diesem Abend tat er es. Und zwar nicht, wie es üblich war, mit ein paar allgemeinen Bemerkungen zur Qualität des Textes oder stilistischen Verbesserungsvorschlägen, die fast immer zuerst vorgebracht wurden, bis der kritische Motor der Werkstatt warmgelaufen war, sondern Musch ging direkt in die Vollen: Mein lieber Hermann, sagte er finster und fast schon drohend, das ist vielleicht ein guter Text, jedenfalls scheinen die Anwesenden dieser Meinung zu sein, aber ich muss dir ehrlich sagen: dat Dingen ist ein ganz dicker Hund! Und wenn ihr ausnahmsweise mal auf mich hört, obwohl ich zugegeben von Literatur wenig Ahnung habe, dann rahmst du dir das Manuskript golden ein und schenkst es deiner Frau zum Geburtstag. Veröffentlicht wird das nämlich nur über meine Leiche! Und die ist ziemlich sperrig.

Was ist denn mit dir los Musch! Spinnst du total? Hermann sah aus wie einer, dem jemand hinterrücks einen Schneeball ins Hemd gesteckt hatte. Auch die andern waren verblüfft ob dieser ungewohnten und radikalen Attacke.

Würdest du mal erläutern, was du gegen Hermanns Text hast, sagte Armin, da sind zwar noch ein paar Macken drin, gut, aber –

Dann führ du mal die Verhandlungen mit dem DGB! Musch steigerte sich noch: Lauf du dir die Hacken ab auf dem Bezirk und bei der IGM-Verwaltungsstelle! Dann verstehst du mich vielleicht. Ich hab verdammt keine Lust, da rumzupilgern bei den Gewerkschaftskollegen, mir den Bart fusslig zu quatschen, damit wir am ersten Mai auf die Tribüne kommen und bei den Schulungen Lesungen machen dürfen, jetzt hat mir der Kollege Raumann sogar in Aussicht gestellt, unsre Bücherzettel an die Einzelgewerkschaften zu schicken, dass die mal merken, wer die richtige Literatur macht für die Arbeitnehmer, und dann wollen wir einen Roman veröffentlichen, der das alles in Klump haut! Mit allen Namen und echt wie es gewesen ist, die ganze Trickserei bei der IG Metall und den SPD-Leuten gegen den Anklam.

Mann Musch! Jetzt bin ich aber fertig. Hermann war fassungslos. Wer hat uns denn die ganze Sache mit der MIG [MieterInteressenGemeinschaft] und Mannesmann angeschafft?

Hat ja damit überhaupt nichts zu tun!

Moment mal, sagte Dietmar scharf, stimmt es oder stimmt es nicht, was der Hermann geschrieben hat?

Was fragst du mich? War ich dabei? Keiner von uns war dabei!

Sicher stimmt es, warum soll es nicht stimmen? Paul, der sonst fast nie seine Meinung sagte, außer man fragte ihn ausdrücklich, Paul war so böse, dass er dazwischenplatzte: Das ist nicht nur einmal passiert, das passiert hundertmal! Das passiert in meinem Betrieb und überall, wo mal von den Kollegen ein Kommunist gewählt wird. Aber dass seine Kollegen für ihn auf die Barrikaden gehn, wenn er abgeschossen wird, das sind eure Wunschvorstellungen!

Die Vertrauensleute haben für ihn Unterschriften gesammelt, blaffte Hermann zurück. Da wars allerdings zu spät, genau wie ichs geschrieben hab.

Und Armin: Eine Schweinerei war es trotzdem. Ich frag mich, ob wir eine Schweinerei nicht mehr eine Schweinerei nennen sollen, mit Rücksicht auf ein paar verkaufte Bücher mehr oder weniger.

Um ein paar Bücher gehts überhaupt nicht Armin! Es handelt sich um unsre Verankerung in den Gewerkschaften, die wir im Programm haben – muss ich dir das erzähln? Das ist eine verdammt politische Frage!

Jetzt leck mich doch am Arsch Musch – Hermann, der gutmütige Hermann, tigerte um den großen Tisch, redete mit Mund und Armen – ihr könnt mir viel erklärn, was hier opportun ist oder nicht, ich denke nicht daran, mich selbst zu zensiern! Schere im Kopf, was? Bei mir nicht. Wenn ich nicht mehr die Wahrheit schreiben darf im Werkkreis, dann Amen.

Gute Nacht. Kann ich gleich zu Springer gehn. Da gibt's wenigstens Schotter für die Lügen!

Martin versuchte zu schlichten: Die Wahrheit wollen wir alle schreiben Hermann. Oder nicht? Die Frage ist nur, wie kriegen wir sie ans Licht?

Manchmal muss man schon taktieren, sagte Uschi. Rücksichtnehmen, könnte man auch sagen. Was meint ihr, wenn die Linken bei den Naturfreunden ihre Vorstellungen immer hundert Prozent durchsetzen wollten, nach der KopfdurchdieWandMetode. Da wär der Verband schnell kaputt.

Eben, sagte Musch, die Uschi hatet erfasst.

Da offensichtlich jeder recht hatte, wenigstens teilweise, entstand eine schwangere Pause, die nur Dietmar ausnutzte, sich eine Flasche Bier aus dem Vorratsschrank zu holen. Noch ehe er den Öffner am Schlüsselbund aus der Tasche gezogen hatte, fing Armin noch einen Gedanken: Die Frage ist weniger, ob was Wahrheit ist oder nicht, sondern ob sie verstanden wird. Wir reden jetzt so, als ob wir nur für Düsseldorf und Umgebung schreiben, wo die Vorfälle in Reisholz einigermaßen bekannt sind. Gut, wenn wir an einer Reportage oder ner Dokumentation arbeiten würden, aber ein Roman, meinich, der muss nicht auf den Einzelfall zutreffen, der soll beispielhafte Verhältnisse schildern. Also was, wo jeder sagen kann: Genau! Das stimmt, so was kommt vor. Der olle Goethe – entschuldigt! – hat mal ganz frech behauptet Die Natur ist eine Gans. Damit wollte der alte Herr sagen, für die Literatur sind Zufälle, also zufällige Stimmigkeiten, ziemlich uninteressant. Da zählen gesellschaftliche Wahrheiten, das Typische. Wenn der Mann recht hat, dann müssen wir uns fragen, ob die Vorfälle beim Röhrenwerk ein Einzelfall sind oder doch exemplarisch.

Hat der Paul schon gesagt, hundertmal kommt das vor.

Jedenfalls in den großen Betrieben. Sagte Martin.

Musch verlegte sich aufs Bitten: Lassen wir den Roman doch wenigstens in einer andren Stadt spielen, in Hamburg, in Dortmund, weiß der Teufel wo.

Wo wir die Verhältnisse überhaupt nicht kennen, du spinnst Musch. Dann doch gleich in Wolkenkuckucksheim. Bitte – nimm meinen Text, schreib ihn um auf Kleinkleckersdorf oder Buxtehude! Versuchs mal! Ich bin gespannt! Hermann klatschte ihm sein Manuskript auf die Kopie, die vor ihm lag.

Musch, der große Musch, war damit endgültig gewaltlos zum Schweigen gebracht von dem kurzen stämmigen Ringer Spix. Maria bot frischen Kaffee als Friedenstrunk, aber damit war das Problem nicht aus der Welt zu spülen.

Hört mal, meinte Josef, ich hab da noch meine eignen Bauchschmerzen mit Hermanns Text. Aber nicht nur mit dem. Wenn ihr sagt, ihr wollt die Kiste mit dem Betriebsrat als beispielhaft darstelln, dann zielt das ganz klar gegen die Sozialdemokraten. Das haut in eine Kerbe, die mir in letzter Zeit immer stärker auffällt im Werkkreis. Da wird nämlich nur noch gegen die SPD geschossen, als ob die unser Hauptfeind wär und nicht die Unternehmer und die CDU.

Dietmar grinste, zeigte, dass er von Jupp nichts andres erwartet hatte. Das brachte den erst richtig auf die Palme.

Dein hämisches Grinsen Dietmar beweist nur, dass du keine Ahnung hast wovon ich rede. Weil das über deinen Horizont geht. Du denkst, wenn man immer nur draufhaut auf alles was nicht die rote Fahne schwingt, dann kommt die Revolution über Nacht, dann werden die Arbeiter –

Hat mich schon mal einer ne rote Fahne schwingen sehn? fragte Dietmar die Runde, jetzt auch verletzt. Mann, bist du heut wieder emotional!

Ich bin auch emotional! gab Jupp eine Tonlage höher zurück. Weil mich das aufregt, wenn so ein paar wildgewordne Hitzköpfe alles kaputtschlagen, was an fortschrittlichen Versuchen gemacht wird! Die SPD haben ein paar Millionen Arbeiter gewählt. Bau das mal ein in deinen Intellektuellenschädel! Arbeiter! Für die wir schreiben. Ich jedenfalls. Das sind meine Leser! Ich weigere mich, die dauernd anzupinkeln, weil sie angeblich zu blöd sind zu merken was gut für sie ist.

Maria schaute hilflos wie ein verregneter Vogel zwischen ihrem Mann und den andern hin und her. Auch Martin war sichtlich bestürzt über diesen Ausbruch offenbar lang angestauten Zorns. Erst recht Uschi und Musch, die Josef so überhaupt noch nicht kannten. Die Verwirrung war allgemein.


Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos





Roman-Tetralogie, Gesamtpreis 77 Euro
Dittrich Verlag (http://www.dittrich-verlag.de/)
Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001, 496 Seiten, 17,80 Euro
Band 2: Zwielicht, 2004, 600 Seiten, 19,80 Euro
Band 3: Sonnenflucht, 2005, 380 Seiten, 19,80 Euro
Band 4: Winterdämmerung, 2008, 632 Seiten, 24,80 Euro


Die NRhZ dankt dem Autor Erasmus Schöfer sowie dem Dittrich-Verlag für die Abdruckerlaubnis sowie der Redaktion von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation, für die Bereitstellung der neun Auszüge.



Siehe auch:

Folge 1: 1968 – AktionsKomitee Kammerspiele München
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22817

Folge 2: Machen wir heute, was morgen erst schön wird
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22838

Folge 3: Die Brücke über den Rhein
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22850

68er Köpfe
Portraits mit Statements zur 68er-Bewegung - Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung
http://www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/68er/exponat-02.html

Online-Flyer Nr. 566  vom 15.06.2016



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