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Aus dem Buch "Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet"
Der Splitter im Auge deines Bruders
Von Werner Rügemer
In seinem Buch „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“ (Köln 2016) hat Werner Rügemer Veröffentlichungen aus drei Jahrzehnten zusammengestellt. Dazu gehört sein nachfolgender Essay, der am 2. März 2007 in WDR3/NDR-Hörfunk („Gedanken zur Zeit“) ausgestrahlt wurde – heute undenkbar! Der Text, der den Gesamttitel "Der Splitter im Auge deines Bruders - Warum 'der Westen' seinem Feind immer ähnlicher wird, den es so nie gab" trägt, wurde leicht gekürzt.
Stellen Sie sich vor, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, der kubanische Staat würde das Lager Guantanamo betreiben. Der kubanische Geheimdienst würde mehrere hundert Menschen rund um den Planeten heimlich und gewaltsam aus anderen Staaten entführen. In Guantanamo würde die kubanische Regierung diese Gefangenen jahrelang in Isolationshaft halten. Diese Gefangenen würden gedemütigt, in Käfige gesperrt, gefoltert und nicht vor Gericht gestellt.
Wenn Guantanamo zu Kuba gehören würde…
Stellen Sie sich also vor, diese Menschenrechtsverletzungen in Kuba geschähen jahrelang vor den Augen der Welt. Was würde passieren? Die Medien der freien Welt würden ein Trommelfeuer gegen die kubanische Diktatur eröffnen. Eine internationale Eingreiftruppe würde die Gefangenen befreien.
Doch dies passiert bekanntlich nicht. Guantanamo liegt zwar in Kuba. Aber die Enklave gehört seit einem Jahrhundert den Vereinigten Staaten von Amerika, zur sogenannten freien Welt also. Zwar forderte der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan die Schließung des Lagers, und einige westliche Regierungen forderten auch ein bisschen die Schließung. Aber auf Guantanamo geht es weiter wie bisher.
Praktiken wie in Guantanamo finden sich in Kuba unter Präsident Castro nicht. Doch gegen Kuba richtet sich nicht nur die Forderung, Menschenrechtsverletzungen zu beenden, sondern die Regierung soll gestürzt werden. „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge siehst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Laß mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler!“ So hat bekanntlich der christliche Religionsstifter diese Art Heuchelei gekennzeichnet.
Kürzlich wurden der irakische Diktator Saddam Hussein und zwei seiner Spitzenleute hingerichtet. Im Westen wurde ein bisschen bemängelt, dass die Todesstrafe nicht mehr zeitgemäß sei. Die wesentliche Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien besteht aber in folgendem: Die Anklage wegen seines größten Verbrechens, des Krieges gegen den Iran, wurde gar nicht erst eröffnet. Bei diesem langjährigen Krieg hat Saddam Hussein ungleich mehr Tote auf dem Gewissen als beim Verbrechen, dessentwegen er verurteilt wurde. Aber die Verhandlung hätte ergeben müssen, dass Saddam Hussein den Krieg gegen den Iran zusammen mit dem Westen, vor allem mit den USA geführt hat.
Demokratie mithilfe von Rassisten und religiösen Nationalisten
Im ehemaligen Jugoslawien hat der Westen nationalistische Parteien unterstützt, die zudem religiös und ethnisch ausgerichtet waren und sind. Das war zum Beispiel die Partei des kroatischen Staatsgründers Franjo Tudjman, die katholisch, kroatisch-nationalistisch und ultrakonservativ war und ist und gegen Serben und Moslems einen brutalen Krieg führte.
In Afghanistan paktierte der Westen zunächst mit islamistischen Terroristen vom Schlage Ossama Bin Ladens, dann mit den mittelalterlich verblendeten Fundis der Taliban. Jetzt paktiert die vom Westen eingesetzte Regierung mit alten Stammesfürsten, grausamen und geldgeilen warlords. Auch im Irak wurden nicht demokratische Exilgruppen zum Aufbau des neuen Staates herangezogen, sondern nationalistische und religiöse Fundis der Kurden und der Schiiten. Ihre bombenden Milizen können sich frei bewegen.
Demokratie lebt von freien Wahlen, sagt der Westen. Aber wehe, wenn die Menschen die falschen Parteien wählen, wie damals in Chile und jetzt in Palästina und Venezuela beispielsweise. Dann werden demokratisch gewählte Regierungen vom Westen mit Strafmaßnahmen, Umsturzplänen, Geheimdiensten und bezahlten Oppositionsgruppen überzogen.
Israel ist ein moralischer und militärischer Vorposten des Westens. Doch das bisher sogenannte pauschale „Existenzrecht Israels“ bedeutet eine dauerhafte Verletzung von Demokratie und Völkerrecht. Der Staat Israel definiert sich nach den Prinzipien der ethnischen Abstammung und der Religion. Nur Juden sind Vollbürger. Die eine Million Israelis arabischer Herkunft sind nach wie vor Bürger zweiter Klasse. Sie und auch ihre gewählten Abgeordneten dürfen nicht frei reisen. Sie dürfen keine Palästinenser von außerhalb Israels heiraten. Palästinenser, die vertrieben wurden, dürfen nicht nach Israel zurückkehren.
Alttestamentarischer Fundamentalismus
Israel durfte jahrzehntelang hinsichtlich der Atombombe die „Politik der Zweideutigkeit“ verfolgen. Der Besitz der Atombombe wurde geleugnet. Als der jetzige israelische Regierungschef nebenbei nun ausplauderte, dass Israel über die Atombombe verfügt, wurde dies vom Westen mit einem Schulterzucken kommentiert. Dagegen wird der Iran wegen einer Atombombe angeprangert, die er gar nicht hat.
Israel hat sein Staatsgebiet seit der Gründung laufend durch Kriege und Landnahmen erweitert. Palästina gilt als das Land, das Gott im Alten Testament den Juden versprochen habe. Keine israelische Regierung hat sich bisher auf genau definierte Grenzen des eigenen Staates festgelegt.
Die USA und Israel haben die mächtigsten Militärapparate und brutalsten Geheimdienste. Die herrschenden Eliten beider Staaten betrachten ihre Staatsvölker als auserwählte Völker Gottes. Sie setzen extrem auf militärische Gewaltlösungen und auf das alttestamentarische Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Sie kümmern sich am wenigsten um internationale Abkommen und um das Völkerrecht. Ein souveräner palästinensischer Staat ist mit dieser Doktrin nicht vereinbar. Die Vertreter der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft sind Heuchler, unterwürfige Mit-Heuchler.
Die Sowjetunion wurde jahrzehntelang kritisiert wegen des selbstherrlichen Umgangs mit ihren „Vasallenstaaten“. Doch wie ist es im westlichen Verteidigungsbündnis? In den Regierungen der NATO-Staaten regt sich fast niemals auch nur verhaltene Kritik an der Arroganz der Supermacht USA. Aber wenn eine eigene Meinung mal vorkommt, dann wird alsbald unterwürfig Abbitte geleistet. Klammheimlich oder begeistert legen die Vasallen des neuen Westblocks ihre Soldaten, Geheimdienste und Flugplätze der Supermacht zu Füßen.
Dem Kommunismus wurde vorgeworfen, er kenne keine Trennung der Gewalten. Doch was tut sich in der westlichen Wertegemeinschaft? Industrie- und Bankmanager und Unternehmensberater haben sich in den Ministerien und Verwaltungen eingenistet. Das staatliche Gewaltmonopol wird aufgelöst, Privatarmeen ziehen für den Westen in den Krieg und private Sicherheitsdienste kontrollieren Bahnhöfe, Züge, Straßenbahnen, Banken und Einkaufszentren.
Neue Mauern innen und außen
Nach dem Fall der Berliner Mauer entstehen im Westen ganz neue Mauern. Der Staat Israel errichtet eine Mauer gegen die Palästinenser unter dem Beifall derer, die den Fall der Berliner Mauer als Meilenstein der Freiheit gepriesen haben. Die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete sind zusätzlich von einem System aus Mauern, Checkpoints und Straßenblockaden durchzogen. Alle Telefone werden abgehört.
Die USA errichten gegenwärtig an ihren Festlandgrenzen ein militärisches high-tech-Monster. Das freieste Land der Welt schottet sich an den Grenzen zu Mexiko und zu Kanada hermetisch ab: 12.000 Kilometer aus Beton, Stacheldraht, Fahrzeugsperren, Sensoren, Infrarotkameras, Radarstationen und mit 1.800 Wachtürmen, besetzt rund um die Uhr mit 18.000 Grenzpolizisten. Es gibt offensichtlich schlechte Mauern, die der Feind errichtet, und es gibt gute Mauern, wenn man sie selbst baut.
Auch die Staaten der Europäischen Union schotten sich mit Mauern gegen Flüchtlinge aus dem Süden ab. Aber auch innerhalb der „Festung Europa“ entstehen neue Mauern. Um die Wohlstands-Enklaven der Reichen in den Städten werden high-tech-Zäune errichtet.
Während der Westen den Völkern der Welt die Demokratie bringen will, hat er zuhause eine Demokratie ohne Volk.
Die „Man kann ja doch nichts ändern“-Demokratie
„Man kann ja doch nichts ändern“, so heißt das neue, verbitterte Glaubensbekenntnis in den westlichen Demokratien. In den Unternehmen machen sich Mobbing, Duckmäusertum und innere Kündigung breit. Wegen drohender Arbeitslosigkeit herrscht angstvolle Anpassung - nur nicht auffallen, sich bei den Vorgesetzten nur nicht unbeliebt machen. Demokratie, Freiheit, Menschenwürde, Selbstbestimmung sind zu leeren Formeln geworden, die die leeren Formeln des ehemals gescholtenen Marxismus-Leninismus weit übertreffen.
Neben der Demokratie besteht die Mission des Westens in der Ausbreitung des Wohlstands. Auch für diese Mission gibt es viele plausible Gründe. Milliarden Menschen leben in Armut. Doch was passiert? Westliche Unternehmen und Regierungen fördern Niedriglöhne und reduzieren immer mehr Menschen auf den Status von Tagelöhnern. Zahlungen für Gesundheit und Alter gelten als „Lohnnebenkosten“, die einem Tagelöhner nicht zustehen – nicht nur in Kalkutta und Kairo, sondern auch in Köln, London und New York.
Erinnern Sie sich? Wie wurde die DDR gescholten, dass ihre Wirtschaft mehr Schein als Sein sei. Dass es Scheinarbeitsplätze gebe, auf denen Menschen untergebracht wurden, die gar nicht wirklich arbeiteten. Dass die wirtschaftlichen Erfolge nur auf getürkten Statistiken beruhen.
Doch diese Tricks erweisen sich als Kinderspiele gegenüber den Methoden, mit denen der Westen seine Wirtschaft schönt und aufbläht. Miniarbeitsplätze von ein paar Stunden pro Woche mit Stundenlöhnen von drei Euro werden in der Statistik als vollgültige Arbeitsplätze gezählt. Schwarzarbeit ist die wichtigste Wachstumsbranche. Die Bilanzen der Banken und Konzerne werden mit Scheinkäufen über tausende von Briefkastenfirmen in fernen Finanzoasen aufgebläht.
Korruption gilt seit Jahrzehnten als Merkmal der Entwicklungsländer und diktatorischer Regimes. Doch woher kommen die Milliarden Euro und Dollar? Nachdem die UNO gegen den Irak ein Embargo verhängt hatte, wurde es systematisch umgangen. Wie es in dem von der UNO veröffentlichten Untersuchungsbericht heißt, haben über tausend westliche Unternehmen Schmiergelder an den öffentlich so verteufelten Saddam Hussein gezahlt. Organisiert wurden die Finanzströme über Konten in Genf im urdemokratischen Vorzeigestaat Schweiz.
„Der neue Mensch“ – diesmal alternativlos kapitalistisch
Wie wurde der Marxismus gescholten, weil er einen „neuen Menschen“ wollte. Dieser „neue Mensch“ habe das Wesen des Menschen vergewaltigt und habe nur in einer Schreckensherrschaft enden können. Doch der Westen propagiert selbst seinen neuen Menschen: den Homo oeconomicus. Der ist unfehlbar und steht jenseits von Gut und Böse. Je größer seine individuelle Profitgier, desto größer seine Effektivität und sein Ansehen. Er soll das realisieren, was dem Kommunismus vorgeworfen wurde: Der immer schuldlose Homo Oeconomicus, Militär, Medienmacher und Geheimdienste bei Fuß, soll das Ende der Geschichte einleiten und die Menschheit in das endgültige Paradies führen.
Also wurde und wird der Westen den Feinden, die er halluzinierte und bekämpfte, immer ähnlicher, ja übertrifft sie an zerstörerischer Macht und Gerissenheit. Niemand kann heute allein gut sein und bleiben.
Die mit den Splittern im Auge müssen sich zusammentun, rund um die Erde, damit sie denen die Balken ausreißen, die erblindet sind. Sie haben nicht nur Christus, sondern auch alle Gründer der großen Religionen der Menschheit mit sich.
Werner Rügemer: „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“
Papyrossa-Verlag, Köln 2016, 226 Seiten, 14,90 Euro
Online-Flyer Nr. 585 vom 26.10.2016
Aus dem Buch "Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet"
Der Splitter im Auge deines Bruders
Von Werner Rügemer
In seinem Buch „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“ (Köln 2016) hat Werner Rügemer Veröffentlichungen aus drei Jahrzehnten zusammengestellt. Dazu gehört sein nachfolgender Essay, der am 2. März 2007 in WDR3/NDR-Hörfunk („Gedanken zur Zeit“) ausgestrahlt wurde – heute undenkbar! Der Text, der den Gesamttitel "Der Splitter im Auge deines Bruders - Warum 'der Westen' seinem Feind immer ähnlicher wird, den es so nie gab" trägt, wurde leicht gekürzt.
Stellen Sie sich vor, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, der kubanische Staat würde das Lager Guantanamo betreiben. Der kubanische Geheimdienst würde mehrere hundert Menschen rund um den Planeten heimlich und gewaltsam aus anderen Staaten entführen. In Guantanamo würde die kubanische Regierung diese Gefangenen jahrelang in Isolationshaft halten. Diese Gefangenen würden gedemütigt, in Käfige gesperrt, gefoltert und nicht vor Gericht gestellt.
Wenn Guantanamo zu Kuba gehören würde…
Stellen Sie sich also vor, diese Menschenrechtsverletzungen in Kuba geschähen jahrelang vor den Augen der Welt. Was würde passieren? Die Medien der freien Welt würden ein Trommelfeuer gegen die kubanische Diktatur eröffnen. Eine internationale Eingreiftruppe würde die Gefangenen befreien.
Doch dies passiert bekanntlich nicht. Guantanamo liegt zwar in Kuba. Aber die Enklave gehört seit einem Jahrhundert den Vereinigten Staaten von Amerika, zur sogenannten freien Welt also. Zwar forderte der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan die Schließung des Lagers, und einige westliche Regierungen forderten auch ein bisschen die Schließung. Aber auf Guantanamo geht es weiter wie bisher.
Praktiken wie in Guantanamo finden sich in Kuba unter Präsident Castro nicht. Doch gegen Kuba richtet sich nicht nur die Forderung, Menschenrechtsverletzungen zu beenden, sondern die Regierung soll gestürzt werden. „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge siehst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Laß mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler!“ So hat bekanntlich der christliche Religionsstifter diese Art Heuchelei gekennzeichnet.
Kürzlich wurden der irakische Diktator Saddam Hussein und zwei seiner Spitzenleute hingerichtet. Im Westen wurde ein bisschen bemängelt, dass die Todesstrafe nicht mehr zeitgemäß sei. Die wesentliche Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien besteht aber in folgendem: Die Anklage wegen seines größten Verbrechens, des Krieges gegen den Iran, wurde gar nicht erst eröffnet. Bei diesem langjährigen Krieg hat Saddam Hussein ungleich mehr Tote auf dem Gewissen als beim Verbrechen, dessentwegen er verurteilt wurde. Aber die Verhandlung hätte ergeben müssen, dass Saddam Hussein den Krieg gegen den Iran zusammen mit dem Westen, vor allem mit den USA geführt hat.
Demokratie mithilfe von Rassisten und religiösen Nationalisten
Im ehemaligen Jugoslawien hat der Westen nationalistische Parteien unterstützt, die zudem religiös und ethnisch ausgerichtet waren und sind. Das war zum Beispiel die Partei des kroatischen Staatsgründers Franjo Tudjman, die katholisch, kroatisch-nationalistisch und ultrakonservativ war und ist und gegen Serben und Moslems einen brutalen Krieg führte.
In Afghanistan paktierte der Westen zunächst mit islamistischen Terroristen vom Schlage Ossama Bin Ladens, dann mit den mittelalterlich verblendeten Fundis der Taliban. Jetzt paktiert die vom Westen eingesetzte Regierung mit alten Stammesfürsten, grausamen und geldgeilen warlords. Auch im Irak wurden nicht demokratische Exilgruppen zum Aufbau des neuen Staates herangezogen, sondern nationalistische und religiöse Fundis der Kurden und der Schiiten. Ihre bombenden Milizen können sich frei bewegen.
Demokratie lebt von freien Wahlen, sagt der Westen. Aber wehe, wenn die Menschen die falschen Parteien wählen, wie damals in Chile und jetzt in Palästina und Venezuela beispielsweise. Dann werden demokratisch gewählte Regierungen vom Westen mit Strafmaßnahmen, Umsturzplänen, Geheimdiensten und bezahlten Oppositionsgruppen überzogen.
Israel ist ein moralischer und militärischer Vorposten des Westens. Doch das bisher sogenannte pauschale „Existenzrecht Israels“ bedeutet eine dauerhafte Verletzung von Demokratie und Völkerrecht. Der Staat Israel definiert sich nach den Prinzipien der ethnischen Abstammung und der Religion. Nur Juden sind Vollbürger. Die eine Million Israelis arabischer Herkunft sind nach wie vor Bürger zweiter Klasse. Sie und auch ihre gewählten Abgeordneten dürfen nicht frei reisen. Sie dürfen keine Palästinenser von außerhalb Israels heiraten. Palästinenser, die vertrieben wurden, dürfen nicht nach Israel zurückkehren.
Alttestamentarischer Fundamentalismus
Israel durfte jahrzehntelang hinsichtlich der Atombombe die „Politik der Zweideutigkeit“ verfolgen. Der Besitz der Atombombe wurde geleugnet. Als der jetzige israelische Regierungschef nebenbei nun ausplauderte, dass Israel über die Atombombe verfügt, wurde dies vom Westen mit einem Schulterzucken kommentiert. Dagegen wird der Iran wegen einer Atombombe angeprangert, die er gar nicht hat.
Israel hat sein Staatsgebiet seit der Gründung laufend durch Kriege und Landnahmen erweitert. Palästina gilt als das Land, das Gott im Alten Testament den Juden versprochen habe. Keine israelische Regierung hat sich bisher auf genau definierte Grenzen des eigenen Staates festgelegt.
Die USA und Israel haben die mächtigsten Militärapparate und brutalsten Geheimdienste. Die herrschenden Eliten beider Staaten betrachten ihre Staatsvölker als auserwählte Völker Gottes. Sie setzen extrem auf militärische Gewaltlösungen und auf das alttestamentarische Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Sie kümmern sich am wenigsten um internationale Abkommen und um das Völkerrecht. Ein souveräner palästinensischer Staat ist mit dieser Doktrin nicht vereinbar. Die Vertreter der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft sind Heuchler, unterwürfige Mit-Heuchler.
Die Sowjetunion wurde jahrzehntelang kritisiert wegen des selbstherrlichen Umgangs mit ihren „Vasallenstaaten“. Doch wie ist es im westlichen Verteidigungsbündnis? In den Regierungen der NATO-Staaten regt sich fast niemals auch nur verhaltene Kritik an der Arroganz der Supermacht USA. Aber wenn eine eigene Meinung mal vorkommt, dann wird alsbald unterwürfig Abbitte geleistet. Klammheimlich oder begeistert legen die Vasallen des neuen Westblocks ihre Soldaten, Geheimdienste und Flugplätze der Supermacht zu Füßen.
Dem Kommunismus wurde vorgeworfen, er kenne keine Trennung der Gewalten. Doch was tut sich in der westlichen Wertegemeinschaft? Industrie- und Bankmanager und Unternehmensberater haben sich in den Ministerien und Verwaltungen eingenistet. Das staatliche Gewaltmonopol wird aufgelöst, Privatarmeen ziehen für den Westen in den Krieg und private Sicherheitsdienste kontrollieren Bahnhöfe, Züge, Straßenbahnen, Banken und Einkaufszentren.
Neue Mauern innen und außen
Nach dem Fall der Berliner Mauer entstehen im Westen ganz neue Mauern. Der Staat Israel errichtet eine Mauer gegen die Palästinenser unter dem Beifall derer, die den Fall der Berliner Mauer als Meilenstein der Freiheit gepriesen haben. Die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete sind zusätzlich von einem System aus Mauern, Checkpoints und Straßenblockaden durchzogen. Alle Telefone werden abgehört.
Die USA errichten gegenwärtig an ihren Festlandgrenzen ein militärisches high-tech-Monster. Das freieste Land der Welt schottet sich an den Grenzen zu Mexiko und zu Kanada hermetisch ab: 12.000 Kilometer aus Beton, Stacheldraht, Fahrzeugsperren, Sensoren, Infrarotkameras, Radarstationen und mit 1.800 Wachtürmen, besetzt rund um die Uhr mit 18.000 Grenzpolizisten. Es gibt offensichtlich schlechte Mauern, die der Feind errichtet, und es gibt gute Mauern, wenn man sie selbst baut.
Auch die Staaten der Europäischen Union schotten sich mit Mauern gegen Flüchtlinge aus dem Süden ab. Aber auch innerhalb der „Festung Europa“ entstehen neue Mauern. Um die Wohlstands-Enklaven der Reichen in den Städten werden high-tech-Zäune errichtet.
Während der Westen den Völkern der Welt die Demokratie bringen will, hat er zuhause eine Demokratie ohne Volk.
Die „Man kann ja doch nichts ändern“-Demokratie
„Man kann ja doch nichts ändern“, so heißt das neue, verbitterte Glaubensbekenntnis in den westlichen Demokratien. In den Unternehmen machen sich Mobbing, Duckmäusertum und innere Kündigung breit. Wegen drohender Arbeitslosigkeit herrscht angstvolle Anpassung - nur nicht auffallen, sich bei den Vorgesetzten nur nicht unbeliebt machen. Demokratie, Freiheit, Menschenwürde, Selbstbestimmung sind zu leeren Formeln geworden, die die leeren Formeln des ehemals gescholtenen Marxismus-Leninismus weit übertreffen.
Neben der Demokratie besteht die Mission des Westens in der Ausbreitung des Wohlstands. Auch für diese Mission gibt es viele plausible Gründe. Milliarden Menschen leben in Armut. Doch was passiert? Westliche Unternehmen und Regierungen fördern Niedriglöhne und reduzieren immer mehr Menschen auf den Status von Tagelöhnern. Zahlungen für Gesundheit und Alter gelten als „Lohnnebenkosten“, die einem Tagelöhner nicht zustehen – nicht nur in Kalkutta und Kairo, sondern auch in Köln, London und New York.
Erinnern Sie sich? Wie wurde die DDR gescholten, dass ihre Wirtschaft mehr Schein als Sein sei. Dass es Scheinarbeitsplätze gebe, auf denen Menschen untergebracht wurden, die gar nicht wirklich arbeiteten. Dass die wirtschaftlichen Erfolge nur auf getürkten Statistiken beruhen.
Doch diese Tricks erweisen sich als Kinderspiele gegenüber den Methoden, mit denen der Westen seine Wirtschaft schönt und aufbläht. Miniarbeitsplätze von ein paar Stunden pro Woche mit Stundenlöhnen von drei Euro werden in der Statistik als vollgültige Arbeitsplätze gezählt. Schwarzarbeit ist die wichtigste Wachstumsbranche. Die Bilanzen der Banken und Konzerne werden mit Scheinkäufen über tausende von Briefkastenfirmen in fernen Finanzoasen aufgebläht.
Korruption gilt seit Jahrzehnten als Merkmal der Entwicklungsländer und diktatorischer Regimes. Doch woher kommen die Milliarden Euro und Dollar? Nachdem die UNO gegen den Irak ein Embargo verhängt hatte, wurde es systematisch umgangen. Wie es in dem von der UNO veröffentlichten Untersuchungsbericht heißt, haben über tausend westliche Unternehmen Schmiergelder an den öffentlich so verteufelten Saddam Hussein gezahlt. Organisiert wurden die Finanzströme über Konten in Genf im urdemokratischen Vorzeigestaat Schweiz.
„Der neue Mensch“ – diesmal alternativlos kapitalistisch
Wie wurde der Marxismus gescholten, weil er einen „neuen Menschen“ wollte. Dieser „neue Mensch“ habe das Wesen des Menschen vergewaltigt und habe nur in einer Schreckensherrschaft enden können. Doch der Westen propagiert selbst seinen neuen Menschen: den Homo oeconomicus. Der ist unfehlbar und steht jenseits von Gut und Böse. Je größer seine individuelle Profitgier, desto größer seine Effektivität und sein Ansehen. Er soll das realisieren, was dem Kommunismus vorgeworfen wurde: Der immer schuldlose Homo Oeconomicus, Militär, Medienmacher und Geheimdienste bei Fuß, soll das Ende der Geschichte einleiten und die Menschheit in das endgültige Paradies führen.
Also wurde und wird der Westen den Feinden, die er halluzinierte und bekämpfte, immer ähnlicher, ja übertrifft sie an zerstörerischer Macht und Gerissenheit. Niemand kann heute allein gut sein und bleiben.
Die mit den Splittern im Auge müssen sich zusammentun, rund um die Erde, damit sie denen die Balken ausreißen, die erblindet sind. Sie haben nicht nur Christus, sondern auch alle Gründer der großen Religionen der Menschheit mit sich.
Werner Rügemer: „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“
Papyrossa-Verlag, Köln 2016, 226 Seiten, 14,90 Euro
Online-Flyer Nr. 585 vom 26.10.2016