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Arbeit und Soziales
Aus dem Buch "Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet"
David und andere: Silicon Valley
Von Werner Rügemer

Die Neue Rheinische Zeitung brachte in ihrer Ausgabe vom 2. November 2016 eine Fotoreportage von David Bacon über die Räumung eines Obdachlosen-Zeltlagers im kalifornischen Berkeley, USA. David Bacon ist ein bekannter Gewerkschaftsaktivist, der inzwischen als Foto- und Videoautor arbeitet. Werner Rügemer hat ihn 1984 in Silicon Valley getroffen und darüber berichtet. Der Bericht findet sich in Rügemers neuem Buch "Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur".

Mit dem kleinsten Auto, das ich hatte mieten können und das gar nicht so klein war, fuhr ich von San Francisco auf dem Highway 101 nach Süden. Ein sonniger Tag im Frühjahr lag über den gestaffelten Hügelketten. Rechts und links der Straße tauchten die ersten Computer-Firmen auf, helle, freundlich scheinende Flachbauten, mit grünlich und bräunlich schimmernden Fenstern. Rege Bautätigkeit war zu sehen, Fabrikhallen und Wohnungskomplexe wurden hochgezogen. Vereinzelte Palmen wiegten sich zwischen Baukränen.

In den Berichten über Silicon Valley, die ich mit großer Informationsgier gelesen hatte, waren auch kritische Töne. Von seelischem Stress der Ingenieure, von rüden Methoden der Banken, von der dominierenden Rolle der Rüstungsschmieden wie Lockheed, von Wohnwagenparks als Wohnsiedlungen war die Rede. Aber letztlich blieb doch immer ein Glanz, nach dem Motto: Wenn es eine Perspektive für unsere kranke und schmutzige Ökonomie gibt, dann ist es diese. Aber was bei all diesen Berichten eigenartig vage im Dunkeln blieb, war die Lage der arbeitenden Mehrheit, waren die Instrumente, mit denen die nun mächtigeren Produktivkräfte beherrscht werden könnten.

Die Verabredung

Ich ließ mich zunächst nicht aufhalten und fuhr nach San José am südlichen Ende des Silicon Valley, wo sich die Wohnungen der Arbeiter- und Angestellten-Familien knubbeln. Ich war mit David Bacon verabredet. Er wohnte in einem der zweistöckigen Holzhäuser, die den Kernbestand vieler solcher Viertel in Kalifornien bilden. Straßen und Vorgärten sind vergleichsweise sauber, im Vergleich zu Manhattan in New York, wo ich die Tage zuvor zugebracht hatte. David hatte eine der kleinen Wohnungen des Holzhauses gemietet. Ich hatte ihn nie vorher gesehen, wir hatten nur zweimal telefoniert.

Vom ersten Augenblick an verstanden wir uns gut, so hatte ich das Gefühl: Nicht deswegen, weil es sehr herzlich und unbefangen zuging, wie es im offiziellen US-Selbstverständnis zu sein hat. Ich fühlte mich auch deshalb wohl, weil David der erste war, der von mir ernsthaft etwas über „meinen“ Staat, die Bundesrepublik Deutschland erfahren wollte: wie es den Menschen geht, was die Arbeitslosen machen, wie die Gewerkschaften und andere kämpfen und wie es sich mit der Sozialdemokratie wirklich verhält. Die meisten anderen US-Amerikaner hatten bestenfalls etwas gönnerhaft nach Dingen gefragt, die sie schon kannten: What about the german Autobahnen? Darf man da wirklich 140 Stundenkilometer fahren? Die Sensibleren hatten nach der erstarkten Friedensbewegung gefragt, auf die Bestätigung hoffend, dass sie eine Minderheit sei. Die Beamten des Erziehungsministers Terrel Bell in Washington waren bei meinem Besuch ganz verschüchtert gewesen: Sie hatten in ihrem Bericht „Nation at Risk“ den katastrophalen Zustand der öffentlichen Schulen dargestellt und sollten für ihren Herrn, Präsident Ronald Reagan, schnell Verbesserungsvorschläge machen. Ich hätte fast Mitleid mit ihnen gehabt, wenn dies gegenüber Vertretern einer solchen Supermacht eine angemessene Haltung gewesen wäre.

David fragte lange nach, bevor er mir mehr über sich selbst erzählte. Er war Mitglied der United Electrical, Radio and Machine Workers, abgekürzt UE. Er hatte sechs Jahre bei National Semiconductor gearbeitet, dem größten Chip-Hersteller. David hatte versucht, eine Gewerkschaftsgruppe aufzubauen. Als das allmählich Erfolg hatte, wurde er von einem auf den andern Tag gefeuert. Ähnlich waren danach ein halbes Dutzend weiterer Gewerkschaftsaktivisten einer nach dem anderen geschasst worden. Sie alle standen nun auf der schwarzen Liste der Branche. Sie waren seit einem halben Jahr arbeitslos – mitten im Boom, der seit 1983 die Computerindustrie erneut „nach oben trug“, und dies trotz der starken Nachfrage nach Fachkräften, wie auch David eine war.

Während unseres langen Gesprächs kam ein Anruf, den mir David dann wiedergab: Eine philippinische Frau hatte sich auf Versprechungen eines Hotelbesitzers hin nach Silicon Valley durchgeschlagen, ohne Papiere, und arbeitete nun als Serviererin, gegen Unterkunft und Verpflegung, ohne Lohn. Der Besitzer drohte, sie der Polizei zu melden, wenn sie Forderungen stelle. Nun hatte sie in einer freien Minute David angerufen, der auch einem Komitee für illegale Arbeiterinnen angehört. Er hatte sich mit der Frau in einem Gemisch aus englisch, spanisch und dem philippinischen Dialekt Tagalog darauf verständigt, dass sie ihm bald einen Treffpunkt vorschlägt, der dem Hotelbesitzer auf keinen Fall bekannt werden dürfe.

Kleine Geschichtslektion

David berichtete dem wißbegierigen Naivling aus dem halben Germany über die United Electrical Workers und andere Gewerkschaften. Zu Beginn der 1930er Jahre, während der großen Wirtschaftskrise, war die UE von der Basis aus aufgebaut worden. Im Unterschied zur American Federation of Labor (AFL), die seit dem 19. Jahrhundert vor allem Handwerker und Facharbeiter in engen Berufsverbänden organisiert hatte, führten die Aktivisten der 1920er Jahre die Tradition der International Workers of the World (IWW) fort und organisierten die „einfachen“ Lohnarbeiter und -arbeiterinnen, auch die Arbeitslosen. Die Anträge, in die AFL aufgenommen zu werden, wurden vom AFL-Gewerkschaftstag 1936 abgelehnt. Daraufhin bildete im selben Jahr die UE mit anderen neugegründeten Industriegewerkschaften – Bergarbeiter, Textilarbeiter, Kleidernäherinnen und andere – den neuen Dachverband Committee for Industrial Organizations (CIO). In den Jahren bis zum Kriegseintritt der USA organisierten sich hunderttausende Lohnabhängige nach ähnlichen Prinzipien, etwa in der Automobil- und Gummiindustrie.

Nach dem Krieg, nach anhaltenden Streiks – die Unternehmer wollten die im Krieg gestiegenen Löhne senken – schlug die Regierung zu. Die gewählten Gewerkschaftsvertreter mussten eidesstattliche Erklärungen abgeben, dass sie keine Kommunisten sind. Die Führung der AFL und auch teilweise der CIO fügten sich, um zu überleben. Bei der Vereinigung von AFL und CIO 1955 blieben die UE und weitere 13 radikalere Gewerkschaften ausgeschlossen. Ihre Mitgliedschaft schrumpfte. Die UE hat nur noch etwa 50.000 Mitglieder, davon einige hunderte in Silicon Valley, so berichtete David leicht verzweifelt.

Die verhaltene Wärme, die weitreichenden Interessen, die Hilfsbereitschaft dieses amerikanischen Gewerkschafters – „amerikanisch“ nicht nur auf die USA bezogen – waren für mich das eindrucksvollste Erlebnis meiner Reise.

In den Monaten danach hatte David sich nicht mehr gemeldet. Sein Freund Mike hatte mir dann geschrieben, dass David, auch um etwas Geld zu verdienen, als Sekretär für die Former-Gewerkschaft (Molders Union) arbeite. In den Gießereien von Oakland bei San Francisco ging es um die geringfügige Erhöhung der Löhne, die die Unternehmer ablehnten. Zweimal in den vier Monaten von Davids Tätigkeit wurde gestreikt – in einer Gießerei 15 Wochen lang. Der Unternehmer setzte Streikbrecher ein. Insgesamt 60 Gewerkschafter wurden verhaftet, allein David siebenmal. Er schrieb mir das ausführlicher einige Monate später.

Ähnliche Gespräche, Erlebnisse, Persönlichkeiten könnte ich aus den Begegnungen mit dem Gewerkschafter Mike Eisencher, der Soziologin Karen Hossfeld, dem Lockheed-Ingenieur Robert Aldridge, dem Journalisten Antonio Garcia und Mitgliedern von Bürgerinitiativen, Feuerwehrleuten, Anwälten und Wissenschaftlern der Stanford University schildern.  Ich habe sonst kaum Menschen in so kurzer Zeit achten und lieben gelernt. Ihre Kraft, ihre Kenntnisse möchte ich weitergeben.

Inzwischen ist David als Reporter, Fotograf, Organisator tätig, 2008 erschien sein Buch Illegal People – How Globalization Creates Migration and Criminalizes Immigrants. davidbaconrealitycheck.blogspot.com


Werner Rügemer: „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“



Papyrossa-Verlag, Köln 2016, 226 Seiten, 14,90 Euro


Siehe auch:

Fotogalerie
Obdachlose wollen eine Stimme haben
"Wir sind obdachlos, und wir wählen"
Truthout Photoessay von David Bacon
NRhZ 586 vom 02.11.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23263

Buchtipp von Harry Popow
Werner Rügemer: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet
Windflüchter
NRhZ 580 vom 21.09.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23139


Weitere Beiträge aus Werner Rügemers Buch "Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet"

Der Splitter im Auge deines Bruders
NRhZ 585 vom 26.10.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23245

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Dichter & Henker: Feiern mit Goethe
NRhZ 581 vom 28.09.2016
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Online-Flyer Nr. 587  vom 09.11.2016



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