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Kultur und Wissen
Spiegel der Zeiten – Historische Vergleiche als Zukunftsprognosen
Gestern und Morgen
Von Harald Schauff

Der Geschichtsprozess ähnelt einer Wendeltreppe. Von Stufe zu Stufe, über Jahrzehnte, -hunderte, -tausende kriecht der Gang der Dinge beharrlich weiter nach oben. Nie sieht er, wohin die Treppe führt. Nur umrissartig lässt sich von unten ausmachen: Es folgen weitere Stufen und Windungen. Sie werden den zurückliegenden so ähneln wie sich davon unterscheiden. Worin genau, wird erst klar, sobald sie erklommen und überschritten sind, zeitlich betrachtet, vergegenwärtigt und vergangen. Erst hinterher ist man schlauer. Im Unterschied zu realen Wendeltreppen sind die Stufen und Windungen der historischen ungleichförmig und sehen jedes Mal anders aus.

Entgegen aller Parallelen wiederholt sich Geschichte im Endeffekt nicht. Das macht sie so schwer vorhersehbar, vorhersagbar. Immerhin: Aus den vorhandenen Ähnlichkeiten zwischen den Stufen und Windungen, sprich Jahrzehnten, Jahrhunderten, Epochen und Zeitaltern, lassen sich zumindest grobe Umrisse der Zukunft zeichnen. Schon allein aus diesem Grund lohnt der nähere Blick auf die Geschichte, der Vergleich zwischen einzelnen Phasen oder Abschnitten.

Der Mensch ist immer auch ein historisches Wesen, das sich über seine Vergangenheit definiert. Desinteresse an historischen Vorgängen zu begründen mit Weisheiten wie etwa ‘Tote soll man ruhen lassen’ ist reine Selbstverleugnung, welche den Horizont eher beschränkt als erweitert.

Im Folgenden nun der Versuch einer erweiternden Rückschau, die uns etwas über die kommenden Jahre und Jahrzehnte erzählen soll. Einige Philosophen und Wissenschaftler vermuten, das sich die Menschheit durch einen ‘historischen Flaschenhals’ zu zwängen habe.

Wie war es vor einem Jahrhundert? 1917 tobt der Erste Weltkrieg. Die USA treten ein und wenden das Blatt endgültig zugunsten der Alliierten. In Russland ergreifen die Bolschewiken nach der Oktoberrevolution die Macht. In Deutschland kommt es Herbst 1918, unmittelbar nach Kriegsende, zur Revolution und Abdankung des Kaisers. Es folgen unruhige Zeiten in der wackeligen Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, die NS-Diktatur und der zweite noch verheerendere Weltenbrand. Über drei Jahrzehnte hinweg ist der Flaschenhals denkbar eng. Zuviel bleibt darin stecken, die Umbrüche sind so gewaltig wie gewaltsam, der Blutzoll hoch.

Rund 100 Jahre früher pflügen die napoleonischen Kriege Europa um. Nach der Niederlage Bonapartes bei Waterloo 1815 folgt in Deutschland die Restaurationszeit, auch ‘Vormärz’ genannt. Sie dauert mehrere Jahrzehnte an und ist von Adelsherrschaft und Kleinstaaterei geprägt. 1848 kommt es zu einer Revolution, die missglückt. Die nächste folgt erst 1918 und gelingt auch nur teilweise. Sie führt zu einer Spaltung der Linken, dem Zerwürfnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, welches dazu beiträgt, dem Nationalsozialismus die Bahn zu ebnen. Die beiden Weltkriege und die NS-Diktatur wachsen maßgeblich auf dem Mist des preußischen Militarismus. Ein Jahrhundert zuvor hat dieser für die Niederschlagung der 48er Aufstände gesorgt. Zwei Jahrzehnte später bewerkstelligt er unter Bismarck zwischen den Jahren 1866 und 71 die deutsche Einheit durch die drei Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich.

Rund 100 Jahre später bzw. 50 Jahre nach 1918 bzw., von heute aus betrachtet, 50 Jahre früher, finden ebenfalls spürbare Umbrüche statt: In den unruhigen Spätsechzigern. Die ‘Wirtschaftswunder’-Republik erlebt 1967 ihre erste Rezession. Es finden Studentenproteste statt, u.a. gegen den Krieg der USA in Vietnam. Im Sommer 1967 wird in Berlin am Rande der Proteste anlässlich des Schah-Besuches der Student Benno Ohnesorg von einem Zivilbeamten erschossen. Die 68er Zeit läutet einen kulturellen Wandel ein. Dessen Kennzeichen sind u.a. wilde Frisuren, Pop-Art und Rockmusik. Kaum zu glauben, bereits ein halbes Jahrhundert liegt diese Zeit zurück. Schon über 30 Jahre her ist die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl. Ihre strahlende Hinterlassenschaft wird die Nachwelt noch lange beschäftigen.

Gehen wir zehn Jahre weiter bzw. zwanzig zurück: 1997/98 kommt es zur Asienkrise, als in den Tigerstaaten die Blase platzt. Es ist die Vorkrise zur Dot-Com-Pleitewelle, die Anfang des neuen Jahrtausends einsetzt. In Deutschland endet 1998 die Kohl-Ära, die Arbeitslosenzahlen nehmen die 5 Millionen-Marke.

Bleibt der zehnjährige Zyklus: 2007 beginnt die Finanzkrise, die Einführung von Hartz IV jährt sich zum dritten Mal. Der Vergleich mit dieser Phase und mit der Asienkrise ein Jahrzehnt zuvor legt nahe: 2017 und 2018 könnten ähnliche Umschwünge einleiten.

Interessantes offenbart wieder der 100-Jahre-Vergleich: 1907 gibt es in den USA ebenfalls eine heftige Finanzkrise. Mit Mühe, Not und kofferweise Bargeld, das Großbanken wie JP Morgan zur Verfügung stellen, kann das Finanzsystem damals gerettet werden. Ein paar Jahre später wird deshalb die ‘Federal Reserve’ ins Leben gerufen.

Die Wirtschaftskrisen und ihre Folgen zeigen eines deutlich: Die wirtschaftliche Entwicklung ist der Hauptantriebsmotor der Geschichte. Deshalb sind wirtschaftliche Ab- und Aufschwungphasen als Vergleichsmaßstäbe besonders geeignet. Vor etwas über einem Jahr stellte DER SPIEGEL fest, der Welthandel sei in den Jahren davor so langsam gewachsen wie in den drei zurück liegenden Jahrzehnten nicht. Drei Jahrzehnte und ein paar Jahre zurück geschaut, landet man in der zweiten Ölkrise Anfang der 80er. Eine Grafik des Weltwirtschaftswachstums auf wikipedia lässt erkennen: In den 70ern befindet sich das Weltwirtschaftswachstum in einem längeren Abwärtstrend, der 1982 seinen Tiefpunkt erreicht.

Eine vergleichbare Abschwungphase gibt es davor zuletzt in den 20er und 30er Jahren. Die Geschichte kriecht durch den erwähnten Flaschenhals. Jetzt bewegt sie sich erneut durch einen Engpass. Dieser dürfte deutlich schmaler ausfallen als der vorhergehende zwischen den 60ern und frühen 80ern mit seinen Studenten-Protesten, Antikriegs-Demonstrationen und Wettrüsten der Blöcke. Die Talfahrt des Nachkriegsaufschwunges beginnt in den frühen 70ern mit der ersten Ölkrise, sein rechnerischer Höhepunkt ist bereits Mitte der 60er überschritten.

Den Abschwüngen der langen Zyklen ist gemein: Die Krisen werden häufiger und heftiger. Soziale Spannungen nehmen zu. Wobei das jetzige Arm-Reich-Gefälle eher an die 20er und 30er Jahre erinnert. Die 60er/70er Protestwelle ist von ihrem Schwerpunkt weltpolitisch, historisch und kulturell ausgerichtet. Die soziale Schere ist aufgrund der voran gegangenen ‘Wirtschaftswunder’-Jahre weniger spürbar.

Die nächste Wirtschaftskrise kommt bestimmt, der genaue Zeitpunkt ihres Eintritts ist unklar. Immer wieder gibt es Versuche, eine derartige Krise punktgenau vorherzusagen. Sie reichen bis in die Gegenwart. Vor rund zwei Jahren probiert es der amerikanische Börsenprofi Martin Armstrong. Er will in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Krisen vorher gesehen haben, darunter den Oktobercrash 1987, die Russlandkrise 1998/99, den Zusammenbruch des Neuen Marktes Ende 2000 und die Finanzkrise 2007. Armstrongs Geschichte läuft 2015 als Dokumentarfilm in den Kinos. Titel: ‘The Forecaster’, dt. ‘Der Weissager’.

Um seine Prognosen zu schärfen, entwickelt er eine mathematische Formel auf Grundlage der Kreiszahl Pi und der ausgewerteten Daten sämtlicher Wirtschaftskrisen seit Christi Geburt. Durch diese Formel will er auch den Beginn des nächsten wirtschaftlichen Einbruches ausgemacht haben. Als Datum nennt er den 18. Oktober 2015. Skepsis erregt allerdings, dass er die griechische Schuldenkrise für den Auslöser der Krise hält. Oktober 2015 spielt die Griechenlandkrise keine vorrangige Rolle mehr, weil die Regierung Tsipras zuvor eine Einigung mit den Gläubigern erzielt hat. Dafür geht das Wachstum Chinas im Sommer desselben Jahres deutlich zurück. Doch das hat Armstrong offensichtlich nicht auf der Rechnung. Vielleicht hätte er sich hinsichtlich Ort und Zeitpunkt der Krise vorsichtiger äußern sollen. Im Endeffekt belegt sein Versuch: Die Geschichte verläuft zu unwägbar, um sie mathematisch präzise vorhersagen zu können. Hier ist der Mut zum Unpräzisen, Ungefähren gefragt. Die Annäherung an die sich nicht wiederholende Zukunft über vergleichende Rückblicke verspricht Erhellenderes als der Versuch, den Geschichtsprozess in Formeln zu pressen.

Einen Anhaltspunkt können bestimmte politische Konstellationen geben, z.B. Regierungsbündnisse wie große Koalitionen. Diese tauchen in den letzten hundert Jahren deutscher Geschichte vor dem jetzigen Zusammenschluss dreimal auf. Jedes Mal regieren sie während einer Krise oder zumindest in jene hinein. Die letzte, ebenfalls von Angela Merkel geleitete Groko regiert von 2005 bis 2009 und bekommt es mit der Finanzkrise zu tun. Rund vierzig Jahre früher steuert die Groko des Kabinetts Kiesinger (1966-69) in die erste Nachkriegsrezession und die turbulente 68er Zeit. Nochmals rund 40 Jahre davor herrscht eine weitere Groko aus insgesamt 5 Parteien, darunter das Zentrum und die SPD: Das Kabinett Müller (1928 bis 30). Es regiert in die Weltwirtschaftskrise hinein und läutet das Ende der Weimarer Republik ein.

Den Phasen der Grokos von Ende der 20er und Mitte bis Ende der 60er ist mit der heutigen gemein: Die Spannungen innerhalb der Gesellschaft nehmen zu. Rechte Parteien erhalten Aufwind. Ende der 60er schaffte es die NPD in einige Landtage, ähnlich wie zuletzt die AFD. Allerdings schickt sich diese an, bei den kommenden Bundestagswahlen mit einem zweistelligen Ergebnis ins Berliner Parlament einzuziehen. Das erinnert wiederum etwas an das rasante Erstarken der NSDAP in den frühen 30ern. Nach der nächsten Wahl dürfte entweder die Groko aus CDU und SPD weiter regieren oder ein Mehrparteienbündnis, etwa Rot-Rot-Grün, das Zepter übernehmen. Dies wäre so oder so eine weitere Parallele.

Ein wenig beachteter Aspekt ist der Einfluss des Klimas auf den Lauf der Geschichte. Eine historische Quasi-Wiederholung zeigt sich hier in Syrien: 2011, zur Zeit des ‘arabischen Frühlings’, treibt eine Dürreperiode viele Bauern in die großen Städte. Da sie hier keine Hilfe finden, schließt sich ein Großteil dem Islamischen Staat (IS) an. Rund 500 Jahre früher begibt es sich ganz ähnlich: Auch da herrscht eine Dürreperiode und viele Bauern schließen sich einer Aufstandsbewegung gegen das Osmanische Reich an.

Im Endeffekt ist auch die Französische Revolution eine Hungerrevolte. Um 1790 kommt es infolge mehrerer harter Winter zu Missernten. Der Hunger schürt den Unmut in der Bevölkerung. Neben Versorgungsengpässen können auch höhere Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise zu Krisen und Unruhen führen bzw. diese anheizen wie 2007 im Vorfeld des Banken- und Finanz-Crashs. Zurzeit sieht es hier noch ruhig aus. Lediglich die Ölpreise sind wieder etwas stärker gestiegen. Für dieses Jahr wird mit einem leichten Anziehen der Inflation gerechnet.

Wie bereits erwähnt schleppt sich die Weltkonjunktur so mühsam dahin wie zuletzt gegen Ende des 70er- Abschwunges. Die Schwellenländer Russland, Brasilien, China und Türkei durchlaufen wirtschaftliche Talsohlen. Vor knapp einem Jahrzehnt zogen sie die Weltwirtschaft aus dem Schlamassel der Finanzkrise. Im Augenblick fehlt ihnen die Zugkraft. Die lahmende Weltkonjunktur, die sinkende Arbeitsproduktivität in führenden Industrieländern wie Amerika und Deutschland, der hohe Schuldenstand und das zunehmende soziale Gefälle in diesen Ländern deuten darauf hin, dass sich die nächste heftige Krise zusammenbraut bzw. die stotternde Weltwirtschaft demnächst auf ihre Ökonomien durchschlägt. Möglicherweise verdient diese kritische Phase erst den Vergleich mit der Depression der frühen 30er. Solche Einbrüche sind ähnlich wie Kriege Entwicklungsbeschleuniger, welche, wie damals zu sehen, gravierende politische Umwälzungen nach sich ziehen können. Sie markieren die engste Stelle des Flaschenhalses. Eines bleibt dort mit Sicherheit stecken: Die Mehrzahl der Prognosen. Sie gehen unter wie Nussschalen in Stromschnellen.

Danach dürfen die Karten neu gemischt werden. Es wird jede Menge Reformbedarf geben. Vieles erinnert an die 90er: In Amerika und Deutschland liegt der letzte Wirtschaftseinbruch schon länger zurück. Dafür durchlaufen die Schwellenländer Krisen, ähnlich wie vor rund zwanzig Jahren die Tigerstaaten und Russland. Mit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes zu Beginn der Nuller-Jahre erreichte die Krisenkette auch die USA und Deutschland. Nahe liegender Schluss: Es könnte wieder ganz ähnlich kommen. Warten wir das angebrochene Jahr ab.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Februar 2017, erschienen.

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