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Arbeit und Soziales
Viele Beschäftigte werden um den ohnehin kargen Mindestlohn betrogen
Erfolg auf dem Papier
Von Harald Schauff
Unlängst wurde der gesetzliche Mindestlohn erhöht: Von 8,50 auf sagenhafte 8,84 Euro. Richtig große Sprünge können Geringverdiener damit immer noch nicht machen. Am wenigsten sind sie vor Armut geschützt, schon gar nicht im Alter. Georg Restle, Redakteur und Moderator des ARD-Politmagazins ‘Monitor’ führt bei der Anmoderation des Beitrags zum Mindestlohn in der Sendung vom 16.02.2017 einen Vergleich an zur Veranschaulichung, was geringer Verdienst bedeutet: Bei einer 4-Millionen Dollar-Yacht betrage die Steuerersparnis rund 400.000 Euro. Dafür müsste ein Mini-Jobber mit dem Monatsverdienst von 450 Euro 74 Jahre lang arbeiten, also praktisch lebenslänglich. Daran ändere auch der Mindestlohn nichts. Zu allem Überfluss würden jene, die am wenigsten verdienen, am häufigsten um den Mindestlohn betrogen.
‘Monitor’ zeigt Beispiele aus der Gastronomie, dem Taxigewerbe und der Gebäudereinigung. Eine Studentin erzählt, bei einem ihrer Jobs als Kellnerin nur 6 Euro die Stunde erhalten zu haben. Zwei Probetage seien unbezahlt geblieben. Urlaubszeit habe es nicht gegeben, außerdem habe sie unbezahlte Mehrarbeit geleistet. Sie und eine Freundin wehrten sich schließlich vor Gericht und erstritten je 1300 und 700 Euro aufgrund zu niedrigen Lohnes. Nur wenige setzen sich zur Wehr und lassen es auf einen Rechtsstreit ankommen.
Eine andere typische Mini-Job-Branche ist das Taxifahren. Ein Fahrer erzählt, den Mindestlohn für 8 Stunden Arbeit täglich zu erhalten. Problem allerdings: Er kommt tatsächlich auf 10 bis 12 Stunden jeden Tag. Notiert werden davon nur 8 Stunden. Bis zu 50 % der realen Arbeitszeit bleiben somit quasi unbezahlt.
Nicht besser sieht es bei Reinigungskräften aus. Auch hier fallen jede Menge unbezahlte Überstunden an. Nach Lesart der Bundesregierung müsste es sich bei den gezeigten Fällen um wenige Ausnahmen handeln. Vor über zwei Jahren verkündete Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) triumphal, der Mindestlohn gelte flächendeckend, ohne Schlupflöcher. Alle Minijobber bekämen, was ihnen zustehe. Von den geringfügig Beschäftigten würden nur 13 % unter Mindestlohn bezahlt.
Fast jeder zweite Minijobber Mindestlohn nicht erhalten
Der Wirtschaftswissenschaftler Professor Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung hält die Angabe von 13 % für nicht aussagekräftig. Sie beruhe auf einer Befragung, an welcher Unternehmen freiwillig teilgenommen hätten. Firmen, die Bestimmungen zum Mindestlohn verletzten, hätten sich der Befragung entzogen oder die Verletzung nicht zugegeben. Interessanterweise ergab die Befragung der Arbeitnehmer im selben Zeitraum das gegenteilige Bild: 44 % der Befragten gaben Verstöße gegen den Mindestlohn an. Somit hat fast jeder zweite Minijobber den ihm zustehenden Mindestlohn nicht erhalten.
Verstöße gegen die Mindestlohn-Regelung sind also nicht die Ausnahme, wie es Bundesregierung und Arbeitsministerium im Einklang mit den Arbeitgebern gern hätten. Sie sind beinahe die Regel. Und leicht und schnell passiert: Hier und da eine unbezahlte Überstunde hebelt den Mindestlohn bereits aus. ‘Monitor’ sieht einen Grund für die Verstöße in mangelnden Kontrollen durch den Zoll.2014 betrug die Zahl der Überprüfungen noch 63.000. Mit Einführung des Mindestlohnes im darauf folgenden Jahr sank sie auf 43.000. Als würde die gesetzliche Verordnung von sich aus eingehalten, weil alle Firmen in Ehrfurcht davor erstarren.
Die Agenda des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, deren Umsetzung zur größten Arbeitsmarktreform der Nachkriegsgeschichte führte, hat vor allem den Ausbau des Niedriglohnsektors gefördert. Diese Entwicklung lässt sich nicht so einfach und schnell umdrehen. Dazu hat die Politik offensichtlich auch gar nicht die Absicht, deshalb die tief angesetzte Lohnuntergrenze. Ein echter Mindestlohn, der den Namen verdient, sollte bei mind. 10, eigentlich sogar 11 oder 12 Euro liegen.
Bedingungsloses Grundeinkommen statt Mindestlohn
Den besten Mindestlohneffekt hätte ein existenzsicherndes bedingungsloses Grundeinkommen. Dadurch könnten Arbeitnehmer nicht länger genötigt werden, schlecht bezahlte Beschäftigung anzunehmen. Bei aller Kritik an der bisherigen Praxis war die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes im Prinzip ein Schritt in die richtige Richtung, ein sogar längst überfälliger. Linke und Gewerkschaften hatten ihn lange genug vehement eingefordert.
Exakt 10 Jahre zuvor hatte es mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe unter der Bezeichnung ‘Hartz IV’ einen gewaltigen sozialpolitischen Rückschritt gegeben. Gemäß der Faustregel, dass es in Entwicklungsprozessen immer zwei Schritte voran und einen zurück geht, müsste es Mitte des kommenden Jahrzehnts den nächsten Vorwärtssprung geben. Könnte dieser die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bringen? Möglicherweise. Wahrscheinlich wird die erste Stufe noch nicht existenzsichernd ausfallen und auch nicht alle Altersgruppen betreffen. Vielleicht startet man mit einer Kindergrundsicherung und/oder einer Grundrente. Eventuell wird ein Mindesteinkommen garantiert, etwa in Form einer negativen Einkommenssteuer. Wessen Monatseinkommen unter einer bestimmten Grenze liegt, z.B. 800 oder 1000 Euro, bekäme eine Aufstockung bis zu diesem Betrag. Zuständig hierfür wäre das Finanzamt, nicht die Arge.
Es wäre noch kein bedingungsloses Grundeinkommen, doch eine wesentliche Verbesserung zum jetzigen Hartz IV-System. Jenes stellt mit seinem Sanktionsregime einen Rückfall in Richtung längst überwunden geglaubter Zeiten dar. Bis in die 60er Jahre gab es in der Bundesrepublik die Praxis der ‘Armenhäuser’. Dort wurden Obdachlose eingewiesen und zur Arbeit gezwungen.
Dahin sollte es nicht zurückgehen. Die fortschreitende Digitalisierung wird mehr und mehr aufzeigen, dass es keinen Sinn macht, Menschen zur Arbeit zu zwingen. Sie wird die Entkopplung von Arbeit und Einkommen nahe legen. Insofern darf auf die längere Sicht, nach kurz- bis mittelfristig anstehenden turbulenten Umwälzungen, zuversichtlich in die Zukunft geblickt werden.
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe April 2017, erschienen.
Online-Flyer Nr. 609 vom 19.04.2017
Viele Beschäftigte werden um den ohnehin kargen Mindestlohn betrogen
Erfolg auf dem Papier
Von Harald Schauff
Unlängst wurde der gesetzliche Mindestlohn erhöht: Von 8,50 auf sagenhafte 8,84 Euro. Richtig große Sprünge können Geringverdiener damit immer noch nicht machen. Am wenigsten sind sie vor Armut geschützt, schon gar nicht im Alter. Georg Restle, Redakteur und Moderator des ARD-Politmagazins ‘Monitor’ führt bei der Anmoderation des Beitrags zum Mindestlohn in der Sendung vom 16.02.2017 einen Vergleich an zur Veranschaulichung, was geringer Verdienst bedeutet: Bei einer 4-Millionen Dollar-Yacht betrage die Steuerersparnis rund 400.000 Euro. Dafür müsste ein Mini-Jobber mit dem Monatsverdienst von 450 Euro 74 Jahre lang arbeiten, also praktisch lebenslänglich. Daran ändere auch der Mindestlohn nichts. Zu allem Überfluss würden jene, die am wenigsten verdienen, am häufigsten um den Mindestlohn betrogen.
‘Monitor’ zeigt Beispiele aus der Gastronomie, dem Taxigewerbe und der Gebäudereinigung. Eine Studentin erzählt, bei einem ihrer Jobs als Kellnerin nur 6 Euro die Stunde erhalten zu haben. Zwei Probetage seien unbezahlt geblieben. Urlaubszeit habe es nicht gegeben, außerdem habe sie unbezahlte Mehrarbeit geleistet. Sie und eine Freundin wehrten sich schließlich vor Gericht und erstritten je 1300 und 700 Euro aufgrund zu niedrigen Lohnes. Nur wenige setzen sich zur Wehr und lassen es auf einen Rechtsstreit ankommen.
Eine andere typische Mini-Job-Branche ist das Taxifahren. Ein Fahrer erzählt, den Mindestlohn für 8 Stunden Arbeit täglich zu erhalten. Problem allerdings: Er kommt tatsächlich auf 10 bis 12 Stunden jeden Tag. Notiert werden davon nur 8 Stunden. Bis zu 50 % der realen Arbeitszeit bleiben somit quasi unbezahlt.
Nicht besser sieht es bei Reinigungskräften aus. Auch hier fallen jede Menge unbezahlte Überstunden an. Nach Lesart der Bundesregierung müsste es sich bei den gezeigten Fällen um wenige Ausnahmen handeln. Vor über zwei Jahren verkündete Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) triumphal, der Mindestlohn gelte flächendeckend, ohne Schlupflöcher. Alle Minijobber bekämen, was ihnen zustehe. Von den geringfügig Beschäftigten würden nur 13 % unter Mindestlohn bezahlt.
Fast jeder zweite Minijobber Mindestlohn nicht erhalten
Der Wirtschaftswissenschaftler Professor Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung hält die Angabe von 13 % für nicht aussagekräftig. Sie beruhe auf einer Befragung, an welcher Unternehmen freiwillig teilgenommen hätten. Firmen, die Bestimmungen zum Mindestlohn verletzten, hätten sich der Befragung entzogen oder die Verletzung nicht zugegeben. Interessanterweise ergab die Befragung der Arbeitnehmer im selben Zeitraum das gegenteilige Bild: 44 % der Befragten gaben Verstöße gegen den Mindestlohn an. Somit hat fast jeder zweite Minijobber den ihm zustehenden Mindestlohn nicht erhalten.
Verstöße gegen die Mindestlohn-Regelung sind also nicht die Ausnahme, wie es Bundesregierung und Arbeitsministerium im Einklang mit den Arbeitgebern gern hätten. Sie sind beinahe die Regel. Und leicht und schnell passiert: Hier und da eine unbezahlte Überstunde hebelt den Mindestlohn bereits aus. ‘Monitor’ sieht einen Grund für die Verstöße in mangelnden Kontrollen durch den Zoll.2014 betrug die Zahl der Überprüfungen noch 63.000. Mit Einführung des Mindestlohnes im darauf folgenden Jahr sank sie auf 43.000. Als würde die gesetzliche Verordnung von sich aus eingehalten, weil alle Firmen in Ehrfurcht davor erstarren.
Die Agenda des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, deren Umsetzung zur größten Arbeitsmarktreform der Nachkriegsgeschichte führte, hat vor allem den Ausbau des Niedriglohnsektors gefördert. Diese Entwicklung lässt sich nicht so einfach und schnell umdrehen. Dazu hat die Politik offensichtlich auch gar nicht die Absicht, deshalb die tief angesetzte Lohnuntergrenze. Ein echter Mindestlohn, der den Namen verdient, sollte bei mind. 10, eigentlich sogar 11 oder 12 Euro liegen.
Bedingungsloses Grundeinkommen statt Mindestlohn
Den besten Mindestlohneffekt hätte ein existenzsicherndes bedingungsloses Grundeinkommen. Dadurch könnten Arbeitnehmer nicht länger genötigt werden, schlecht bezahlte Beschäftigung anzunehmen. Bei aller Kritik an der bisherigen Praxis war die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes im Prinzip ein Schritt in die richtige Richtung, ein sogar längst überfälliger. Linke und Gewerkschaften hatten ihn lange genug vehement eingefordert.
Exakt 10 Jahre zuvor hatte es mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe unter der Bezeichnung ‘Hartz IV’ einen gewaltigen sozialpolitischen Rückschritt gegeben. Gemäß der Faustregel, dass es in Entwicklungsprozessen immer zwei Schritte voran und einen zurück geht, müsste es Mitte des kommenden Jahrzehnts den nächsten Vorwärtssprung geben. Könnte dieser die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bringen? Möglicherweise. Wahrscheinlich wird die erste Stufe noch nicht existenzsichernd ausfallen und auch nicht alle Altersgruppen betreffen. Vielleicht startet man mit einer Kindergrundsicherung und/oder einer Grundrente. Eventuell wird ein Mindesteinkommen garantiert, etwa in Form einer negativen Einkommenssteuer. Wessen Monatseinkommen unter einer bestimmten Grenze liegt, z.B. 800 oder 1000 Euro, bekäme eine Aufstockung bis zu diesem Betrag. Zuständig hierfür wäre das Finanzamt, nicht die Arge.
Es wäre noch kein bedingungsloses Grundeinkommen, doch eine wesentliche Verbesserung zum jetzigen Hartz IV-System. Jenes stellt mit seinem Sanktionsregime einen Rückfall in Richtung längst überwunden geglaubter Zeiten dar. Bis in die 60er Jahre gab es in der Bundesrepublik die Praxis der ‘Armenhäuser’. Dort wurden Obdachlose eingewiesen und zur Arbeit gezwungen.
Dahin sollte es nicht zurückgehen. Die fortschreitende Digitalisierung wird mehr und mehr aufzeigen, dass es keinen Sinn macht, Menschen zur Arbeit zu zwingen. Sie wird die Entkopplung von Arbeit und Einkommen nahe legen. Insofern darf auf die längere Sicht, nach kurz- bis mittelfristig anstehenden turbulenten Umwälzungen, zuversichtlich in die Zukunft geblickt werden.
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe April 2017, erschienen.
Online-Flyer Nr. 609 vom 19.04.2017