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Globales
Ein Marxist zieht schonungslos Bilanz
Wer schrieb das Drehbuch für die G20-Proteste in Hamburg?
Von Rainer Rupp

Die Proteste gegen die G20 waren größer und politisch banaler als alle vorherigen gegen G7 oder NATO-Gipfel zusammen. Gerade die Linke blamierte sich dabei durch die profillose Reproduktion von medial vorgekauten Inhalten. Ein Marxist zieht schonungslos Bilanz. Wieso waren die Demonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg so ungleich stärker und gewalttätiger als beispielsweise die gegen die G7 oder gegen die Kriegstreiber auf den NATO-Gipfeln? Wussten die Demonstranten überhaupt, gegen wen sie in Hamburg demonstriert haben? Haben womöglich die Mainstream-Medien das Drehbuch für Hamburg geschrieben?


"Bekämpft die G20" - Protest am 8. Juli 2017 in Hamburg (Foto: arbeiterfotografie.com)

All die Fragen sind berechtigt, denn angesichts der hochschlagenden Emotionen der Demonstranten fällt auf, dass so gut wie keine Proteste z. B. gegen die deutsche, gegen die britische oder gegen amerikanische Regierungen gerichtet waren, obwohl diese beispielsweise allesamt islamistische Gewaltextremisten und Kopfabschneider von al-Nusra bis ISIS entweder auf direktem Weg oder auf Umwegen über Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei mit modernste Kriegswaffen beliefern. Oder warum hat man nicht gegen Frau Merkel demonstriert, etwa wegen ihrer fortwährenden Unterstützung der Putschisten und nationalistischen Gewaltextremisten in der Ukraine?

Stattdessen haben ausgerechnet Linke und Leute, die sich für solche halten, in unpolitischer Banalität gegen den G20-Gipfel als Versammlung der "reichsten Staaten" der Welt mobilisiert. Diesen Unsinn hat nicht nur attac endlos wiederholt. Aber wie dumm oder zynisch muss man sein, um z. B. das G20-Mitglied Indien zu den reichsten Ländern der Welt zu zählen? Vielleicht kannten und kennen die meisten G20-Demonstraten bis heute noch nicht die Zusammensetzung der G20. Umso dringlicher wäre die Pflicht der Organisatoren gewesen, ihr Fußvolk aufzuklären.

Zur Erinnerung: Zur Gruppe der Zwanzig (G20) gehören folgende 19 Staaten sowie die Europäische Union an: Australien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Saudi-Arabien, Südkorea und die USA sowie Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Russland, Südafrika und die Türkei. In der G20 stehen sich also zehn hoch entwickelte Industrieländer mit weniger als 900 Millionen Einwohnern und neun Entwicklungsländer mit weit mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung gegenüber.

Schwellenländer erzwangen G20 unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise

Alle neun dieser G20-Entwicklungsländer stehen dem neoliberalen, westlichen Wirtschaftsmodell, das die Grundlage der auch in Deutschland viel beschworenen, so genannten "liberalen Weltordnung" bildet, zumindest kritisch, wenn nicht ablehnend gegenüber. Bei dieser Sachlage braucht man keine Intelligenzbestie zu sein, um zu verstehen, dass der G20-Gipfel in Hamburg nicht die Zusammenkunft einer wie auch immer gearteten "Weltregierung des Kapitals" war, um sich einvernehmlich über die weitere globale Ausbeutung der Arbeiterklasse zu verständigen. Weit gefehlt.

Andreas Wehr, einer der beiden Leiter des Marx-Engels-Zentrums in Berlin, hat in seiner Analyse des Hamburger G20-Gipfels darauf hingewiesen, dass "ganz anders als in Deutschland die Sicht auf die G20 in Ländern wie China, Indien, Russland oder Japan als wichtiger Schritt hin zu einer multipolaren Weltordnung verstanden und gewürdigt wird". In seiner Analyse unter dem Titel "Wieso dieser Hass auf die G20?" dokumentiert Wehr beispielsweise, dass die Japanische Kommunistische Partei in der Etablierung der G20 sogar einen Beitrag zur "Demokratisierung der Weltwirtschaft" sieht. Und um solch ein verwerfliches Ansinnen zu verhindern, mussten deutsche Linke natürlich in Hamburg unbedingt mit viel Getöse gegen die G20 als Ganzes vorgehen.

Tatsächlich trafen auf früheren G20-Gipfeln, genau wie jetzt wieder in Hamburg, unterschiedliche wirtschaftliche und geopolitische Interessen sowie teils konträre gesellschaftspolitische Vorstellungen aufeinander. Toll wäre es gewesen, wenn die Linken hier im Vorfeld des Gipfels die anstehenden Probleme beleuchtet und während des Gipfels die berechtigten Anliegen der Entwicklungsländer mit Protesten und Demos unterstützt hätten. Aber das ist bei dem hoffnungslos verwahrlosten Zustand der organisierten deutschen Linken, die sich inzwischen mit Vorliebe Träumereien über einen grenzenlos offenen,

Gewollte Gleichsetzung mit G7

In der sehr lesenswerten Analyse verweist der mehrfache Buchautor Wehr, der u. a. 15 Jahre lang bis 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordisch Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament umfassende Erfahrungen sammeln konnte, darauf, dass die G20 in Deutschland "fälschlich oft als eine bloßer Ausbau der G7 angesehen wird", also als Erweiterung des "seit Mitte der 70er Jahre existierenden Zusammenschlusses der imperialistischen Kernländer USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada".

Diese Gleichsetzung von G7 und der G20 sei "gewollt", so Wehr weiter. Damit sollte in den Augen der deutschen Öffentlichkeit "eine Kontinuität zwischen den Demonstrationen gegen die Treffen der G7/G8 (von Seattle 1999, Genua 2001, Heiligendamm 2007 und 2015 auf Schloss Elmau) und dem Gipfel der G20 in Hamburg hergestellt werden". An diese wollte man in Hamburg offenbar anknüpfen.

Doch anders als beim Format der G7 seien die westlichen Länder in der G20 nicht unter sich: "Mit am Tisch sitzen auch seine größten Kontrahenten: Russland und China sowie weitere Schwellenländer." Die G20 sei daher keine Erweiterung der G7. Dass das G20-Format entstanden ist, sei auch "kein Geschenk des Westens an die übrige Welt". Die G20 sei vielmehr "aus der Not in der Weltwirtschaftskrise 2008 entstanden", die man ohne Mithilfe Chinas und anderer Schwellenländer alleine nicht mehr habe bewältigen können. Zwar seien mit der Etablierung der G20 die globalen Verhältnisse nicht umgestürzt worden. Wie hätte das auch möglich sein sollen? Aber auf diesem Wege sei "ein wichtiger Schritt in Richtung einer multipolaren Weltordnung getan" worden, heißt es in der Wehr-Analyse.

Unpolitische Lagerfeuerparolen ohne Tiefgang

Stattdessen habe der zentrale Anti-G20-Aufruf "Für grenzenlose Solidarität statt G20" linker Organisationen die wirklichen Verhältnisse und Verantwortlichkeiten in der Welt völlig negiert, stellt Wehr fest. Selbst die parteipolitisch organisierten Linken hätten damit "die Täter und Opfer der westlichen imperialistischen Politik unterschiedslos auf eine Stufe gestellt".

Von derlei Protesten und dem abstrakten Verlangen nach einer "Welt des Friedens, der globalen Gerechtigkeit und der grenzenlosen Solidarität" hätten die in Hamburg anwesenden Repräsentanten des Westens bzw. der NATO nichts zu befürchten gehabt. Zwar habe es bei den Demonstrationen in Hamburg - vor allem von Aktivisten der Friedensbewegung vorgetragene - Forderungen gegeben, die sich eindeutig gegen die NATO und gegen die Politik der Bundesregierung gerichtet haben, doch diese Stimmen seien im Einheitsbrei des "Alle sind gleichermaßen schuld" untergegangen.

Aber das war längst nicht der Gipfel der Dummheit. Mitglieder der Bundestagsfraktion der Linken verschickten über die sozialen Netzwerke sogar Cartoons, auf denen die Staatschefs von China, Russland und der Türkei als die Hauptschuldigen für die Krisen und Ungerechtigkeiten in der Welt ausgemacht wurden. Damit unterschieden sich die linken Aktivisten in ihren G20-Protesten nicht mal mehr von den neoliberalen Mainstream-Medien.

Linksliberale Medien "genehmigen" Parolen

Dies sei keine Überraschung, legt Andreas Wehr nahe. Vielmehr hätten die Mainstream-Medien am meisten für die Mobilisierung linker und pseudo-linker Aktivisten gegen die G20 getan:

"Man fragt sich, woher dieser Hass auf die G20 stammt, der sich in den Straßen Hamburgs sowohl friedlich artikulierte als auch gewalttätig austobte. Worin liegt der tiefere Grund für die unbestreitbare Breite der Ablehnung des Gipfels, selbst unter sonst unpolitischen Menschen? Diese prinzipielle Gegnerschaft steht im Gegensatz zu den mageren Mobilisierungserfolgen bei Ereignissen, die allemal Proteste verdienen. Zwar wurde auch gegen den NATO-Gipfel vor wenigen Wochen protestiert, doch in Brüssel kamen weit weniger als jetzt in Hamburg zusammen, und auch für Randale sah niemand eine Notwendigkeit. Selbst die Ratsgipfel der EU, auf denen die weitere Drangsalierung Griechenlands beschlossen wird, laufen regelmäßig ohne Proteste ab, ganz zu schweigen von den Friedensdemonstrationen, die gegenwärtig nur wenig Zulauf haben."

Die Organisatoren der Hamburger Proteste täuschten sich, so Wehr, sollten sie glauben, es wäre ihre eigene Agitation und Propaganda gewesen, die zu dieser Mobilisierung geführt hat. Dafür seien ihre Organisationen und Medien viel zu einflusslos. Der Schub wurde vielmehr von der breiten liberalen bzw. linksliberalen Öffentlichkeit, von Medien wie Zeit, Spiegel, Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Rundschau, Freitag, taz, Stern, Neue Zürcher Zeitung und auch von einigen öffentlich-rechtlichen Medien erzeugt. Dort fand man bereits vor Monaten die in Hamburg pflichtschuldigst reproduzierten Vorwürfe gegen die G20: Das Format handele selbstherrlich, geriere sich als Weltregierung, missachte die UN, sei schlicht illegitim. Vorwürfe, die man dort niemals gegenüber der G7 erheben würde.

Wehr macht sich auf diese Zusammenhänge seinen eigenen Reim:

"Es ist ganz offensichtlich, dass diesen Medien (und den Kräften, die dahinter stehen) die ganze Richtung nicht passt. Es ist die Institution G20 als solche, die stört, weil in ihr mit Russland und China und anderen Schwellenländern Mächte an Einfluss gewonnen haben, die auch der deutsche Imperialismus unbedingt in seine Schranken zurückverweisen will. Ganz konkret stört Russland die unter deutscher Führung stehende Expansionsstrategie der EU in der Ukraine, Georgien und auf dem Westbalkan. Und was China angeht, so soll dem wachsenden ökonomischen Einfluss des Landes in Afrika Einhalt geboten werden."

"Wertegemeinschaft" als Neuauflage der "Volksgemeinschaft"

Als Beispiele für diese Medienkampagnen zitiert Wehr Texte aus Spiegel und taz, aus denen hervorgeht, dass "die Proteste der Zehntausenden in Hamburg ganz im (neo)liberalen Mainstream lagen".

Zum Schluss macht Wehr auf eine Ausarbeitung des ehemaligen Diplomaten und heutigen Journalisten Klaus von Raussendorff aufmerksam, der diese neudeutsche Protestkultur scharf, polemisch und treffend beschrieben hat:

"In Hamburg haben wir erneut, aber so drastisch wie nie zuvor gesehen, was dabei herauskommt, wenn wohlmeinende Aktivisten so genannter sozialer Bewegungen in unmittelbarer Auseinandersetzung mit einer diplomatischen Staatenkonferenz 'auf Weltebene' erreichen wollen, was sie in direkter Konfrontation mit den 'Eliten' im eigenen Land zu erkämpfen zu mutlos, zu feige, zu bequem oder zu denkfaul sind. So kam zum G20-Treffen in Hamburg als Protest nur ein 'Event' heraus, und zwar je nach Geschmack in zwei Versionen, einerseits in Form von musikalisch umrahmter, harmlos-aktivistischer Selbstinszenierung, andererseits in Form blanker Zerstörungswut, sowohl ideologisch vonseiten der raffinierten Provokateure vom Zentrum für politische Schönheit als Stichwortgeber als auch organisiert martialisch auf der Straße vom Schwarzen Block. So bot Hamburg ein lehrreiches Bild der derzeit in Deutschland grassierenden 'Protestkultur': Regierung und Volk vereint gegen die 'Diktatoren' dieser Welt, ein original faschistisches Konzept von 'Volksgemeinschaft', allerdings bis zur Unerkennbarkeit neu drapiert als 'Wertegemeinschaft' zur Verteidigung 'unserer' Zivilisation."


Mit freundlicher Genehmigung übernommen von RT Deutsch – Erstveröffentlichung am 17.07.2017


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