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Aktueller Online-Flyer vom 23. November 2024  

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Globales
Venezuela zwischen Revolution, Intervention und Konterrevolution
Der Bolivarische Prozess ist die Revolution des Volkes
Carolus Wimmer - interviewt von Anneliese Fikentscher

Im Sommer 2017 ist der venezolanische Abgeordnete des lateinamerikanischen Parlaments "Parlatino" und Sekretär für Internationales der KP Venezuelas, der gebürtige Münchner Carolus Wimmer, in Deutschland und der Schweiz unterwegs, um die gewaltsamen Vorkommnisse in seiner Wahlheimat Venezuela zu erklären, über das Referendum zur Wahl einer Verfassung gebenden Versammlung zu berichten und mit den BesucherInnen seiner Veranstaltungen zu diskutieren. In einer zweiten Runde ist er nach Stationen u.a. in Frankfurt, Essen, Münster, Hamburg, Berlin, München, Konstanz und in der Schweiz am 21. August zu Gast in Köln.


Carolus Wimmer in Köln (Foto: arbeiterfotografie.com)

Carolus, eine uncharmante Frage zu Anfang: Was bist Du für ein Jahrgang?

Jahrgang 1948. Ich bin in München geboren und ging mit 22 Jahren nach Venezuela.

Was war der Anlaß?

Erstmal die Liebe. Aber zweitens durch die Generation der 68er wollte ich aus Deutschland raus, was Neues sehen. Wollte eigentlich Medizin studieren, hab mich eingeschrieben in der Zentraluniversität Venezuelas, aber damals, 1970, einen Tag später war die Armee in der Universität. Die Universität war in Zeiten einer christlich-demokratischen Regierung 1 1/2 Jahre geschlossen. Dann fing ich an mit Arbeitssuche. Das ging relativ schnell. Ich hatte Glück und fing an bei General Motors zu arbeiten. Ich lernte Arbeit und Gewerkschaftsarbeit und Klassenkampf in einer nordamerikanischen Firma kennen. Als die Universität wieder aufmachte, konnte ich – weil ich schon im Arbeitsprozess war – nicht Medizin studieren. Im Abend- und Wochenendstudium machte ich Biologie. Und Jahre später war ich durch die politische Arbeit verantwortlich für die Parteischule. Und dann studierte ich Erziehungswissenschaften in Berliner Akademie für Gesellschaftswissenschaften in der Hauptstadt der DDR war dort Doktorand.

Ich war in der Studentenbewegung, in der Gewerkschaftsbewegung und in der kommunistischen Partei – zunächst in der Jugendbewegung.

Im letzten Kongress des Parteitages im Juni 2017 wurde ich wiedergewählt ins ZK des Politbüros und bin verantwortlich für die internationale Politik der kommunistischen Partei Venezuelas.

Die bolivarische Revolution wird auch als bolivarischer Prozess bezeichnet. Was genau kann man sich darunter vorstellen? Handelt es sich in einem fortschreitenden Prozess um eine "friedliche" Revolution?

Wir verteidigen das Wort Revolution, weil mit Chavez das Volk 1998 Regierungsmacht mit übernommen hat auf der Basis einer neuen Verfassung. Die alte Verfassung verbot, eine neue zu machen. Daher war es ein Bruch mit dem Establishment. Wichtig ist, dass man es nicht verwechselt mit einer sozialistischen Revolution wie beispielsweise in Kuba. Wir sprechen von einem revolutionären Prozess, der noch läuft. Der ist noch nicht abgeschlossen. Er ist als Kampf für die nationale Befreiung definiert. Ein Konzept, das jetzt bewiesen ist durch die erneuten Drohungen der USA, Venezuela militärisch anzugreifen und direkt die Macht in Venezuela zu übernehmen. Darum ist die Verteidigung im Moment der Souveränität in Venezuela die erste Aufgabe natürlich unter vielen anderen Aufgaben, speziell zur Verstärkung der Volksmacht, Poder Popular, dass die Bevölkerung, die Lohnabhängigen und die anderen Gruppen wirklich die Macht und die Entscheidungskraft im Staat haben.

Wie sind die konkreten Schritte dahin?

Ein Schritt dahin war mit der Solidarität von Kuba den Analphabetismus zu bekämpfen. Wir brauchen bewusste Menschen. Wir brauchen Menschen, die fähig sind, ihre Verantwortung im Staat zu übertragen. Und deshalb war es nötig, dass ein Erziehungsprozess von der Regierung vorangetrieben wurde, der anfing mit der Alphabetisierung von drei Millionen Venezolanern und Venezolanerinnen, die praktisch ausgeschlossen waren aus einem Großteil ihrer Rechte und des normalen Lebens dadurch, dass sie nicht lesen und schreiben konnten. Sie konnten nicht teilnehmen an vielen Dingen und auch nicht teilnehmen an der Demokratie, was ja auch bedeutet, das Recht mich zu informieren – wie hier die Neue Rheinische Zeitung zu lesen. Wenn ich nicht lesen kann, ist das weg. Dann kam als weiterer Schritt eine Politik, die nennen wir Mission – von einem biblischen Namen her – Erziehungsmissionen. Das fing an mit der Grundschule, dann Oberschule und Universität. Das wird den Venezolanern und Venezolanerinnen heute kostenlos angeboten, und alle Bevölkerungsgruppen – hauptsächlich natürlich die Jugendlichen, aber alle Bevölkerungsgruppen können daran teilnehmen. Das wurde sichtbar durch die Anerkennung der UNESCO, dass diese Politik erfolgreich war. Das ist eines von vielen neuen Menschenrechten, dass man an der Demokratie aktiv und bewusst teilnehmen kann. Ein anderes Bespiel für den revolutionären Prozess ist im Moment die Existenz der Verfassung gebenden Versammlung. Da wird auch Neues versucht durch Verankerung der Demokratie in der Gesellschaft. Das bedeutet erstmal das Bewusstsein, dass zu den Lösungen der Probleme in Venezuela – wirtschaftlich, politisch, sozial, finanzbasiert – wir die Teilnahme des ganzen Venezolanischen Volkes brauchen. Die Menschen müssen organisiert und aktiviert werden. Das wurde erstmal durch die Wahlen erreicht, bei denen mehr als 54.000 Kandidaten sich persönlich aufstellten. Man war nicht gezwungen, sich über eine Partei aufstellen zu lassen. Man konnte sich direkt selbst einschreiben. Aus diesem ganzen Prozess wurden dann 545 abgeordnete Männer und Frauen gewählt, die in den nächsten Jahren – man spricht von ein bis zwei Jahren – die Aufgabe haben, erstmal die ganze jetzige Verfassung durchzuarbeiten und festzustellen, wo sich was geändert hat, wo sind Fehler drin. Aber es ist auch wichtig, dass diese 545 Abgeordneten erstens ihre Wahlkreise vertreten – das sind 344, aber auch 181 direkt aus sozialen Massenorganisationen kommen. Das bedeutet 79 Arbeiter, 28 Rentnerinnen und Rentner, 24 von der Jugend- und Studentenorganisation, 24 Kommunalräte, 5 Behinderte – auch ein generell ausgeschlossener Sektor. Die sollen teilnehmen, die sollen ihre Rechte verteidigen. Natürlich auch Vertreter der indigenen Völker und auch Vertreter der Unternehmer, die in diesem Moment, wo wir immer noch ein kapitalistisches System haben, auch demokratisch teilnehmen sollten, um Lösungen zu finden.

Es wird versucht abzusichern, dass wirklich viele Meinungen in der Diskussion vertreten sind bei der Ausarbeitung einer möglichen neuen Verfassung.

Die venezolanische Verfassung gilt weltweit innerhalb der linken Bewegungen als vorbildlich. Warum muss eine neue Verfassung erarbeitet werden?

Die gilt als vorbildlich. Aber in diesem doch sehr bewussten Prozess, in dem das Volk teilnimmt, ist es natürlich klar, dass 1999 gewisse Dinge noch nicht aktuell waren.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel diskutieren die Frauenorganisationen über das Thema der freien Entscheidung, Kinder zu bekommen oder nicht. Dann ist natürlich ein anderes großes Thema das der Kommunalräte. Die gab es nicht vor 18 Jahren. Die wurden praktisch geschaffen in den letzten Jahren, und jetzt sollen sie einen großen Beitrag leisten zur Lösung von landwirtschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen. Die bürgerliche Demokratie von damals lud nie die Jugend ein. Darum fehlt in der alten guten Verfassung die Teilnahme der Jugend. Also welche Projekte, Probleme und Lösungen bringt die Jugend ein. In der Arbeitswelt gibt es inzwischen neue Rechte. Zum Beispiel spricht die kommunistische Partei in allen Fabriken und Unternehmen von der Schaffung von Arbeiterräten. Das sind alles neue Ideen, die jetzt diskutiert werden müssen und wo entschieden werden muss, ob die bisherige Verfassung ausgeweitet werden muss. Das bedeutet, dass wir die alte Verfassung nicht verneinen.

Die derzeit existierende Verfassung ist aber auch schon Teil des bolivarischen Prozesses...

Genau. Aber es ist auch Teil dieses Prozesses, eine bewusste Organisierung vieler Teile der Bevölkerung – ich nenn die Frauen, die früher fast im Abseits standen – zu bewirken. Der Druck von unten wird größer, und dem muss demokratisch geantwortet werden.


www.constitucion.ve - Zeichentrickfilm mit "Simoncito" zur Erläuterung der (geltenden) Venezolanischen Verfassung. Art. 46, erster Teil: Jeder hat das Recht auf Achtung seiner körperlichen, seelischen und moralischen Integrität. Daraus folgt: Niemand darf grausamen, unmenschlichen oder entwürdigenden Strafen oder Folter ausgesetzt werden. Jedes Opfer einer von Staatsbediensteten praktizierten oder geduldeten Folder oder unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung hat ein Recht auf Wiedergutmachung.

Als Bürgerinnen und Bürger waren sie in die bisher geltende Verfassung einbezogen...

Die sind drin, aber die wollen jetzt mehr Rechte diskutieren. Zum Beispiel das Recht zur Abtreibung. Zum Schluss wird wieder ein Referendum – also ein Volksentscheid – darüber befinden, ob Ja oder Nein. Das entscheidet nicht der Präsident, wie das immer falsch dargestellt wird. Ich erinnere mich, dass 1999 ein paar Tage vor dem Referendum zur Entscheidung über die Verfassung eine Propaganda von der Kirche kam, wo sie im Zusammenhang der Abtreibung von Mord sprachen. Damals sagte Chavez, das ist gut, dass wir das jetzt diskutieren und später entscheiden. 1999 kam dieses konkrete Thema der Abtreibung nicht in die Verfassung. Und dadurch wurde diese Verfassung – kann man sagen – gerettet, weil die Kirche einen starken Einfluss auf einen Großteil der Bevölkerung hat, speziell auf dem Land. Das müssen wir heute weiter diskutieren, jetzt ist der Moment. Das sagt nicht der Präsident, das sagen die Frauenorganisationen. Nach Artikel 347 und 348 hat jetzt aber der Präsident die Verfassung gebende Versammlung einberufen. Dieses Recht hat auch die Nationalversammlung, aber die hat die Verfassung gebende Versammlung nicht einberufen. Das ist demokratisch. Das ist legal. Deshalb ist es nicht zu verzeihen, dass die Opposition nicht teilnehmen will an dieser Diskussion.

Der Umstand, dass Minderheiten einen unverhältnismäßigen Einfluss auf die Politik ausüben wollen, ist eher die Regel als eine Seltenheit. Die Straßenschlachten mit den zahlreichen Toten in Venezuela erinnern an die Situation 2009 nach Präsidentschaftswahlen im Iran. Ein Minderheit wollte per Gewalt die Wahlergebnisse umkehren. Also ein typischer Ansatz eines versuchten Regimechanges...

Genau. Seit 18 Jahren wird in Venezuela versucht, eine bunte, eine Farbrevolution durchzuführen. Das klingt schön, hat aber schreckliche Konsequenzen für die Bevölkerung. Im Moment lebt die Bevölkerung, leben die Familien in großen Schwierigkeiten, wie auch in der Presse – in der kommerziellen Presse – gezeigt wird. Aber es wird nicht gesagt, warum. Die Lebensmittelengpässe kommen daher, weil die Lebensmittelproduktion und die Landwirtschaft immer noch von – teils ausländischen – Monopolen beherrscht werden, die politisch handeln. Es reicht ihnen nicht zu produzieren, zu handeln und Geld und Gewinn zu machen. Diese Monopole handeln politisch in der Konterrevolution.

Da gibt es genügend Bespiele in der lateinamerikanischen Geschichte. Da ist Venezuela nicht der erste Staat, dem das widerfährt.

Ja, genau. In Chile gibt es darüber gute Dokumente. Guatemala. Zentralamerika. Das ist klar. Drum ist es so wichtig, statt einen Bürgerkrieg zu riskieren, dass der Weg gegangen wird, den Chavez beschrieben hat und den Du genannt hast: der Weg der friedlichen Revolution. Und friedlich bedeutet nicht, dass nichts passiert, aber dass sowohl der innere Bürgerkrieg vermieden wird als auch die ausländische Invasion. Die Verfassung gebende Versammlung macht also nicht nur den Sinn, die Verfassung zu diskutieren und zu revidieren, sondern hat im Moment auch eine konkrete politische Aufgabe, eben den politischen Dialog wieder herzustellen.

Wenn die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright schon vor dem Wahlergebnis von 1998 mitgeteilt hat, dass die USA diese Wahl im Falle eines Sieges von Hugo Chavez nicht akzeptieren würde, gibt es kaum deutlichere Töne. Salvador Allende war ebenfalls aus demokratischen Wahlen als Sieger hervorgegangen...

Damals wurde gesagt, die chilenische Wirtschaft wird knirschen. Das versuchen die jetzt auch. Mit einigem Erfolg. Leider. Im Moment auch in Venezuela. Die Wirtschaft wird knirschen, hat Schwierigkeiten. Drum müssen wir uns unabhängig machen von den imperialistischen Konzernen. Das bedeutet zu einem Teil harte Arbeit im Land aber auch neue Handels- und Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen – in globaler Hinsicht.

Es gibt bezüglich der Handelskooperationen doch gute Beziehungen innerhalb der ALBA-Staaten (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América – Bolivarianische Allianz für Amerika). Und darüber hinaus bildet das BRICS-Bündnis (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) Möglichkeiten, die westlichen Hegemonialmächte zu umgehen. Was gibt es da für Chancen?

Zuerst einmal verzeichnen wir große Erfolge innerhalb und außerhalb Lateinamerikas dadurch, dass wir erreicht haben, dass viele Handelsgeschäfte ohne Dollar abgewickelt werden. Das ist natürlich auch ein Grund uns anzugreifen. In Lateinamerika handeln wir in den ALBA-Ländern mit dem Sucre, dieser informalen Währung zwischen Bolivien und Venezuela, zwischen Kuba und Venezuela. Das ist wichtig. Das ist auch ein Teil der Unabhängigkeit. Weil wenn die Geschäfte über Banken in den USA, im Norden oder über Europa laufen, können die uns boykottieren, wissen auch alles, was da passiert und verteuern auch den Handel, denn das kostet ja was. Auch mit China wird jetzt in chinesischer Währung gehandelt. Der Bolívar, der in keiner westlichen Welt was wert ist, der ist da was wert. Auch Bolívar mit Rubel im Handel mit Russland ist etwas wert. Das sind wichtige Schritte vorwärts. Ich sag immer, es ist noch ein langer Weg. Aber man sieht, dass konkrete Lösungen gesucht werden und auch schon existieren und nicht nur Theorie sind, wie man eine unabhängige Politik machen kann. Wie man eine erfolgreiche Politik machen kann und wie man auch die Gefahr der totalen Blockade, wie sie auch gegen Kuba vollzogen wird, umgeht.

An der Spitze zur Etablierung einer afrikanischen Währungsunion zur Umgehung des IWF (Internationaler Währungsfonds) stand bis zur Liquidierung von Libyen 2011 sein Staatschef Gaddafi. Wenn schon Lateinamerika von den USA als Hinterhof betrachtet wird, was für eine Vorstellung wäre für die sich als exzeptionell begreifenden USA und Europa ein unabhängiges Afrika...

Deswegen sag ich ja, dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Zum Beispiel scheint jetzt in einem wichtigen ALBA-Land, Equador, der neue Präsident eine andere Politik zu machen. Das weiss man noch nicht, wie sich das auswirken kann. Aber zweifellos wird es im Moment einige Entscheidungen verzögern, erschweren. Das ist ein ständiger Kampf. Aber wir müssen auch klar unterscheiden zwischen einem hohen Bewusstsein der Bevölkerung und großen Möglichkeiten. Die USA und der Imperialismus nutzen natürlich Schwächen aus. Schwächen wie nationale Schwächen der Regierung oder anderer Institutionen des Staates, betreiben eine ganz aggressive Konterrevolution. Ich sehe schon die Gefahr, dass sie in solch schwierigen Situationen – ich spreche jetzt von Venzuela – das Leben der Familien, wo es zwar keinen Hunger gibt, aber doch Schwierigkeiten für eine Hausfrau, einzukaufen. Manche Artikel gibt es an diesem Tag nicht, aber am nächsten Tag gibt es das. Das bringt natürlich Stress und Nervosität.

Wie sieht das kurzfristiger aus? Zeichnet sich eine Lösung ab?


Im Moment gibt es große Lösungen. Dieses ganze Geschäft der Lebensmittel und der Haushaltsartikel generell war total in der Hand von privaten Spekulanten. Durch eine Entscheidung der Regierung, z.B. Grundnahrungsmittel, nicht verderbliche Grundnahrungsmittel alle drei Wochen jeder Familie zu geben, zu einem sehr kleinen Preis eine große Schachtel, die im Supermarkt 30mal mehr kosten würde, die kostet 10.000 und würde 300.000 Bolívar kosten, sind schon mal zwei Dinge erreicht. Erstens, die Bevölkerung kam an billige Lebensmittel und zweitens, diese Mafia wurde zerstört. Da gibt es natürlich viele andere Mafias noch in anderen Bereichen. Zum Beispiel operiert eine speziell mit Hilfe von Drogenhändlern. Die kaufen das ganze Papiergeld und ziehen es aus dem Land raus. Das bedeutet: Du bekommst für einen 100-Bolívar-Schein 140 oder 150 Bolívar in Kleingeld. Weil für den Transport und für ihre Mafia-Geschäfte brauchen sie große Banken. Man sieht in den Filmen immer den Koffer, der aufgemacht wird, und der ist dann voller Dollars. Da gibt es also auch die Konterrevolution gegen die Moneda, gegen die Währung, den Bolívar, durch einen künstlichen Schwarzmarktpreis, den man täglich in einer Internetseite finden kann, die in Miami gemacht wird. Auch das sind Themen, die die Verfassung gebende Versammlung diskutieren muss und Wege zur Lösung finden muss.

Kleine Zwischenfrage: Wie ist die Situation im ALBA-"nahen" Haiti? Was gibt es da für Beziehungen?

Haiti wird von Venezuela und auch von Kuba und anderen Ländern speziell betreut. Aber es ist immer noch besetzt von ausländischen Militärs, auch lateinamerikanischem Militär. Das ist ein schlechtes Beispiel für uns. Und das ist natürlich das Beispiel, das die USA jetzt auch gegen Venezuela provozieren wollen. Sicherlich ist der letzte Schritt, den sie machen wollen, direkt einzugreifen. Im Moment versuchen sie Stimmung zu machen mit Mexico, mit Kolumbien, mit Peru, Brasilien und Argentinien. Aber dies ist eine der großen Wunden in Lateinamerika. Da müssen wir als Revolutionäre auch alles tun, um Hilfe zu leisten und generell zu erreichen, dass dieses Land und dieses Volk seine wirkliche Unabhängigkeit – ohne ausländische Einmischung – erreichen kann.

Was meinst Du mit Stimmung machen über Argentinien, Mexico und andere?

In den letzten Tagen besuchte der US-Vizepräsident Pence die Regierungen und sagt es ganz offen, die Gespräche drehen sich immer um Venezuela. Der will eine gemeinsame Politik machen gegen Venezuela und zielt auf die Änderung der Regierung. Und da bei uns eine Regierungsänderung nur durch Wahlen gemacht werden kann, bedeutet das eine Kriegserklärung und der Versuch eines Putsches gegen die Regierung und gegen den Präsidenten.

Im Januar 2017 wurde Vladimir Putin mit dem neu geschaffenen "Hugo-Chavez-Preis für Frieden und Solidarität" ausgezeichnet. Was kannst Du dazu sagen?

Generell: Wir haben gute Beziehungen zu Russland, zu China, zu Iran und anderen Ländern. Einige dieser Länder stehen auf dem Zettel der – wie sagt man da – der "Schurkenstaaten". Man muss auch immer betonen, dass Chavez erst nach dem Putsch 2002 offiziell eine wirklich antiimperialistische Haltung hatte. Es fing damit an, dass die USA keine Technologie und keine Ersatzteile mehr lieferten, auch an die Streitkräfte. Wir hatten F16-Flugzeuge (ich weiss das weniger darüber), die bekamen dann keine Ersatzteile. Es gab ein Verbot, Hightech zu liefern. Und dann ist natürlich die Logik eines Staatsmanns, einer Regierung, Lösungen zu finden. Und erst ab diesem Moment... Es war ja auch ähnlich mit Kuba: Fidel wollte die Beziehungen zu den USA nicht abbrechen. Das war umgekehrt. Und durch diese, sagen wir fanatische Außenpolitik der USA gegen den "Hinterhof" wurden neue Verbündete, Alliierte gesucht und gefunden. Auch jetzt gibt es die immer wiederholte die Drohung, dass die USA kein Erdöl mehr kaufen von Venezuela. Das bedeutet normalerweise man sucht sich andere Kunden. Wie es sich auch jetzt im guten Sinn bestätigt hat in den letzten Tagen und Wochen hat sowohl die russische und auch die chinesische Regierung ständig betont, dass sie warnen, dass die USA militärisch in Venezuela eingreifen. Weil das würde ja nicht nur ein Problem für Venezuela sein, sondern könnte den ganzen Subkontinent betreffen.

In Deinem Vortrag sagtest Du, Chavez sei nicht ermordet worden. Bei Fidel Castro gab es mehrere hundert Mordanschläge. Wie kannst Du Dir da sicher sein?

Ich habe glaube ich nur gesagt, dass er verstorben ist. Ich habe hier nicht erwähnt, dass generell – also im Gegenteil – ein Verdacht besteht, dass, was die CIA und andere Geheimdienste (auch der Mossad) sehr gut können, es versucht wurde, diesen für sie ungeliebten Chavez beiseite zu schaffen. Das sind natürlich im Moment Hypothesen, was wahr ist oder nicht. Was zur Zeit feststeht ist, dass auch an Krebs erkrankt ist der Präsident Lugo in Paraguay, dass gestorben ist der Präsident Nestor in Argentinien, dass auch Lula erkrankt ist an Krebs. Das sind fünf, fünf! vorzügliche Präsidenten, die zur selben Zeit erkrankt sind an Krebs. Das ist natürlich kein Beweis, drum will ich dazu nichts sagen. Aber das wird nachgeforscht und könnte Jahre dauern wie im Fall von Arafat, bis bewiesen wurde, dass er ermordet wurde. Auf jeden Fall: Chavez fehlt uns. Aber es hat auch etwas Gutes gebracht. Weil generell war die Hoffnung der USA und von Teilen Europas, dass mit dem Tod von Chavez der Bolivarische Prozess total zusammenbricht. Und jetzt hat es sich gezeigt, was auch historisch sich als richtig erwiesen hat, dass die Revolution zu machen oder nicht, das entscheidet das Volk. Persönlichkeiten sind wichtig in der Geschichte, zweifellos. Aber die Entscheidung wird in Venezuela im Moment vom Volk getragen, von der Mehrheit des Volkes und auch zweifellos von den Streitkräften.

So sah es auch der 2015 verstorbene langjährige geschätzte Herausgeber des Rotfuchses, Klaus Steiniger, der zu seiner Zeit 1974 Sonderkorrespondent des Neuen Deutschland in Portugal war. Er bestand – im Widerpart zu mancherlei Genossen – darauf festzustellen, dass es sich in Portugal um eine Volksrevolution gehandelt habe – unterstützt von den Streitkräften.

Das ist ein gutes Beispiel, das wir in Venezuela auch studieren. Die Entscheidung wird vom Volk getroffen. Drum: es gibt auch Risiken dabei, wie wir es 2015 erlebt haben, wo uns das Volk nicht mehrheitlich zur Nationalversammlung gewählt hat. Das ist ein nicht erfreuliches Beispiel für uns, aber es ist eben ein Beispiel, dass die Demokratie funktioniert und dass man die Mehrheiten für die Demokratie gewinnen muss durch gute Arbeit, durch gute Vorschläge. Und wir fügen hinzu: durch die Teilnahme des Volkes (angestrebt ist die partizipative Demokratie im Gegensatz zur repräsentativen) an allen Entscheidungen wie es auch jetzt wieder versucht wird in der Verfassung gebenden Versammlung.

Daran hat es der DDR tragischerweise gemangelt, und zugespitzt formuliert ist das Volk – nicht ohne Einfluss von außen – davongelaufen. Um nochmals Klaus Steiniger zu zitieren: er sah darin typische Merkmale einer Konterrevolution.


Ich bin seit 47 Jahren in Venezuela. Aber was jetzt wieder bewiesen wird ist, dass mit dem Sturz der Mauer oder der so genannten Wende, mehr Mauern gebaut wurden. Es ist eine schreckliche Mauer in Palästina, dann gibt es eine schreckliche Mauer in Mexico. Und dann gibt es eine schreckliche Mauer – die ist nicht so bekannt – in Lima, Peru. Eine schreckliche Mauer zwischen arm und reich. Und das sind noch größere Mauern. Generell sind wir gegen Mauern, um das mal zu sagen.


Carolus Wimmer am 21. August 2017 in Köln (Foto: arbeiterfotografie.com)

Siehe auch:

Bolivarische Revolution im Visier
Videomitschnitt vom Vortrag von Carolus Wimmer, Sekretär der KP Venezuelas, in Köln
NRhZ 625 vom 23.08.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24074

Für die Selbstbestimmung der Völker
Carolus Wimmer - interviewt von Andreas Neumann
im Rahmen der Proteste anläßlich des G20-Treffens in Hamburg
NRhZ 621 vom 12. Juli 2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23961

Online-Flyer Nr. 626  vom 30.08.2017



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