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Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Von Clara S.
Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Karls-Preis-Verleihung an Ken Jebsen wurde u.a. die Einladung von Gilad Atzmon zum Politikum. Die auf die Schnelle zusammengestellte Zitatensammlung von Elias Davidsson, die im Rubikon erschien, reichte mir als Grundlage dafür, einen Menschen und seine Gedanken für vollkommen indiskutabel zu halten, nicht aus. Und das schrieb ich der Rubikon-Redaktion. Die Heftigkeit der prompten Reaktion von Herrn Wernicke und Herrn Davidsson hat mich überrascht und sehr getroffen. Ich hatte eindeutig eine Grenze überschritten. Aber welche? Keiner Gruppe angehörend, war ich auf der Suche nach Antworten auf mir wichtige Fragen irgendwann auf Atzmons Bücher gestoßen und so ebenso auf die Tatsache, dass er als Antisemit und „Holocaust-Leugner“ gilt. Deswegen weigern sich auch oder besonders Linke, ihm überhaupt zuzuhören. Bei der Beschäftigung mit seinen Ideen, habe ich dann selbstverständlich auch nach Beweisen für diese Behauptung gesucht, jedoch nirgends gefunden, dass er den Genozid der Nazis an Juden als historisches Ereignis bestreitet. Doch dazu später mehr. Ich finde seine Gedanken „thought-provoking“ [Gedanken provozierend].
Ein/e Leser/in kann bei der Lektüre vieles Bedenkenswerte finden, welches nicht nur für Juden gilt. Ob seine Antworten allerdings stichhaltig oder absurd sind, sein Ideengebäude stabil oder pathologisch, vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend zu beurteilen. Deswegen würde ich ja gerne, gerade von „linken Anti-Zionisten“, eine fundierte kritische Meinung dazu hören oder einer ernstzunehmenden Debatte folgen, die mich als Nicht-Jüdin vordergründig ja gar nichts angeht. Auf den zweiten Blick jedoch sind wir – zumindest in Deutschland – alle Geiseln dieser Auseinandersetzung. Denn ohne Antwort auf die Frage „Wie hältst Du es mit den Juden, wie hältst Du es mit Israel?“ ist ja auch heute noch keine politische Positionierung möglich. Und auch meine eigene Biografie ist entscheidend durch dieses Thema beeinflusst worden. Da ich ja nun das Buch „The Wandering Who“ schon gelesen hatte, habe ich mir die Mühe gemacht, meine Gedanken dazu aufzuschreiben.
Atzmons Fragen
Gilad Atzmons Kernthesen
Die Antworten auf die anfangs gestellten Fragen liegen in den folgenden Punkten begründet:
Jüdische Identität
Atzmon beginnt mit der Definition seines Gegenstandes: Er will sich nur mit dem Thema Jüdisch-Sein beschäftigen. Jüdisch-Sein grenzt er klar ab von
a) einem rassistischen Judenbegriff (die Juden als biologisch definierbare Rasse gibt es seiner Meinung nach nicht, und es würde ihn auch nicht interessieren, wenn es sie gäbe) und
b) dem Judaismus, der Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, welche, wie jede religiöse Einstellung, Privatsache sei. Es geht ihm lediglich um
c) die Ideologie, die Identitätspolitik und den politischen Diskurs innerhalb des Judentums, also die jüdische Kultur, die er als Jewish-ness bezeichnet (Kapitel 1, Seite 15).
Dieses von ihm beschriebene und kritisierte Jüdisch-Sein ist seines Erachtens eine kulturelle Identität, in die Menschen hineingeboren werden, die sie mehr oder weniger bewusst annehmen, und von der aus sie sich selbst und die Welt betrachten und interpretieren, unabhängig davon ob sie religiös sind oder nicht. Man ist dann kein Musiker mehr, der zufällig auch Jude ist, sondern ein jüdischer Musiker, kein politisch links Stehender zufälliger jüdischer Herkunft sondern ein jüdischer politisch links Stehender. Zuerst Jude – und dann alles andere.
Eine solche Identität kann ein Mensch nur in Abgrenzung zu einem Antagonisten – dem „Goy“, dem Antisemiten, dem feindlichen Araber – annehmen, sie kann also nur in der Negation existieren.
Während ich also bisher Rassismus oder Antisemitismus als Ausgrenzung einer Gruppe durch die Gesellschaft oder Teile davon verstanden habe,
dreht Atzmon die Sache um und behauptet, die Juden (wie übrigens auch andere Identitäre) schlössen sich selber bewusst aus und pflegten ihr Gegen- bzw. sogar Feindbild. (Siehe Kapitel 1 – der jüdische Rassismus sei lange vor dem Nazi-Rassismus da gewesen – und 3, wo er argumentiert, dass ohne (Selbst-)Ausgrenzung keine Identitätspolitik möglich ist).
Da ist es nur logisch beweisen zu wollen, dass das politische Judentum von den gegen sich gerichteten Ressentiments profitiert und diese sogar selbst schürt, wofür er Beispiele gibt. Er schildert z.B. die Geschehnisse um den Dreyfus Prozess (Seite 40) und die den Antisemitismus der Nazis ausnutzende Kollaboration der Zionisten mit diesen (Seite 162 ff). Er behauptet, in diesem Sinne sei der Holocaust ein zionistischer Sieg gewesen (Kapitel 3, Seite 43), ohne den der Staat Israel nicht möglich gewesen wäre.
Schlomo Sand zitierend schreibt er, früher sei jeder als judenfeindlich gebrandmarkt worden, der behauptet hätte, dass alle in der Welt verstreuten Juden einer gemeinsamen fremden Nation angehörten, heute sei es umgekehrt, und wer sage, es gäbe außerhalb Israels kein jüdisches Volk, werde Judenhasser genannt. Und im Kern dieser „nationalen“ Identität, ergänzt Atzmon, stünde kein anderer als „the Devil“ himself Adolf Hitler, der dadurch am Ende doch gewonnen habe (Seite 109).
Der Tribalismus habe sich im Jüdisch-Sein gegen den Universalismus durchgesetzt. (Seite 136 ff) Diese Konstellation verhindere, dass man sich in erster Linie als Mensch sähe und einen universalen Humanismus lebe.
In Kapitel 6 geht er dem Gegensatz Tribalismus- Universalismus weiter nach und begründet, warum diese Haltungen sich gegenseitig ausschließen, viele anti-zionistische Juden jedoch versuchten, beides in sich zu vereinen und daran scheitern (müssten), weil sie auch in der Kritik an der Politik Israels ihre tribalistische Identität nicht aufgeben wollten. Dies verhindere grundsätzlich, dass das Judentum jemals dauerhaft Frieden mit den anderen Menschen dieser Welt schließen könne. Der moderne, säkulare jüdische Diskurs sei mangels wirklicher Substanz von Hass geprägt.
„Wir alle wissen, dass die Juden jahrhundertelang unter Hass und Diskriminierung gelitten haben“, schreibt Atzmon. Jedoch „während früher derjenige ein ‚Antisemit‘ war, der Juden hasst, ist es heute umgekehrt, ein ‚Antisemit‘ ist jemand, den die Juden hassen.“ Und so fände er nun sich selbst als jemand wieder, der als „stolzer selbst-hassender Jude“ von anderen Juden gehasst würde, seien es nun Zionisten oder Anti-Zionisten (Seite 54 ff).
Ist Atzmon also Antisemit? Oder liegt ein Fall von „Töte den Boten“ vor? Ich kann es nicht beurteilen. Und ist dieser Hass in den jüdischen Gemeinschaften tatsächlich so weit verbreitet? Die Art, wie die „linke“ Debatte um Atzmon geführt zu werden scheint, lässt es befürchten. Aber das geht mich eigentlich nichts an, auch wenn ich davon wegen meiner Kritik am Rubikon am Rande berührt wurde.
Jüdischer ideologisch-politischer Diskurs
Atzmon bezeichnet sich also selbst als „selbsthassenden Juden“. Dies sei aber eigentlich nichts Besonderes denn in Wirklichkeit sei die Beziehung zwischen Juden und Antisemiten keine reine Beziehung der Gegensätze, sondern jede Seite trage Teile der anderen in seiner Persönlichkeit mit sich, mal mehr mal weniger. So sei Jüdisch-Sein ein „frame of mind“ eine bestimmte Einstellung und Persönlichkeitsstruktur, die auch ein Judenhasser aufweisen könne. Und er zitiert auf Seite 95 Marx, der schrieb, dass die soziale Emanzipation der Juden die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum sei, wobei Marx Jüdisch-Sein mit Kapitalismus, Eigennutz und Geldgier gleichsetzt, die es zu überwinden gelte. Diesem Aspekt jüdischer Weltsicht ist z.B. das ganze Kapitel 14 über Milton Friedman gewidmet. Zwei Juden, die kapitalistisches Denken für „typisch jüdisch“ halten, kommen ausführlich zu Wort. Ist das Antisemitismus?
Mehr zum politisch-ideologischen inner-jüdischen Diskurs zu schreiben, übersteigt diesen Rahmen: das gesamte Buch gibt – beginnend mit der Bibel – wichtige jüdische Stimmen wieder und setzt sich mit diesen unter verschiedenen Fragestellungen auseinander.
Auch wenn ich vieles noch nicht verarbeitet habe, fand ich die Lektüre anregend und differenziert. So kann ich nach dem Lesen des Buches nicht bestätigen, dass er ein rabiates Sammelsurium antisemitischer Thesen verbreitet, wie seine Kritiker schreiben. Wenn Dinge diskutiert werden, die wir als antisemitisch ansehen, sind sie jedenfalls immer von Juden selbst gesagt oder geschrieben wurden.
Holocaust-Religion
Atzmon leitet im Buch „The Wandering Who“ u.a. aus Bibeltexten ab, dass die Angst vor einem Holocaust so alt ist wie das Judentum selbst, beginnend bei der Erzählung von der ägyptischen Gefangenschaft. Da es keine archäologischen Beweise für die 40 Jahre in der Wüste gäbe (siehe Seite 141 ff), sei schon diese Geschichte ein später konstruiertes Narrativ (wahrscheinlich in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft), ein Muster, das sich durch die ganze Geschichte der Diaspora ziehe und immer wieder verhindere, dass sich die Juden endgültig in die Gesellschaften integrieren, in denen sie leben.
Zur Shoa, dem „eigentlichen“ Holocaust, schreibt er folgendes: „It was actually the internalisation of the meaning of the Holocaust that transformed me into a strong opponent of Israel and Jewish-ness. It is the Holocaust that made me a devoted supporter of Palestinian rights, resistance and the Palestinian right of return.“ (Seite 186)
Das sieht mir nicht nach Holocaust-Leugnung aus.
Auch nicht die Beschreibung der Erfahrungen mit Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen an gleicher Stelle, oder seine Bemerkung zu Anne Frank auf Seite 51: „ … not a single moral system could justify the ordeal this young girl went through along with many others.“
Wie steht es mit seiner angeblichen oder wirklichen Relativierung der historischen Realität des Holocausts?
Atzmon erzählt, er habe als Kind geglaubt, die offizielle Erzählung der jüdischen Geschichte mit den Eckpunkten David, Massada, Holocaust – Seife, Lampenschirme, Todesmarsch, 6 Millionen -, basiere auf geschichts-wissenschaftlich recherchierten Fakten. Heute wisse er, dass dies das spezielle Jüdisch-Sein-Narrativ der Geschichte sei, welches infrage gestellt werden könne und solle. Wäre dieses Narrativ ausschließlich faktenbasiert, müsse man es nicht durch Verbote und Gesetze schützen.
Einige Teile dieser offiziellen Erzählung hält er für übertrieben: Seine von den Nazis ermordete Ur-Großmutter sei vermutlich nicht zu Seife oder einem Lampenschirm verarbeitet worden, wie er als Kind angenommen habe, sondern an Erschöpfung, Typhus oder bei einer Massenerschießung gestorben. (Seite 175)
Atzmon geht es in seiner Arbeit jedoch nicht um die Etablierung oder Relativierung der historischen Fakten (schließlich sei er kein Historiker – siehe Davidssons Artikel im Rubikon und das im Muslim-Markt veröffentlichte Interview) sondern hauptsächlich um die Interpretation des – von ihm keineswegs bestrittenen – historischen Ereignisses „Holocaust“ als einzigartigem Ereignis. Menschen änderten normalerweise ihre Sicht auf die Vergangenheit mit den neuen Perspektiven, die sich aus zusätzlichen Erkenntnissen oder einem größeren Abstand ergäben. Für den Holocaust gelte das nicht. Hier sei ein bestimmtes Narrativ zum Dogma erhoben worden(Seite 148 ff).
Diese „Holocaust-Religion“ fungiere als Grundlage der Existenzberechtigung Israels und der politischen Haltung der Zionisten sowie als Rechtfertigung für ihre Taten.
Jede neue Generation bekäme die Angst vor der existentiellen Auslöschung eingehämmert, jede verbrannte Synagoge bestätige die Berechtigung für die Angst genauso wie für eine radikale Feministin jede Vergewaltigung eine Bestätigung ihrer Theorie sei, dass in jedem Mann ein potentieller Vergewaltiger stecke. Gäbe es keine verbrannten Synagogen, so würde Mossad schon dafür sorgen, dass sich dies ändere. Der Zweck heilige die Mittel (Seite 43).
Auch für diese „Verschwörungstheorie“ liefert er zumindest ein Beispiel.
Eine ganze Gesellschaft leide so unter einem Trauma, die Realität des Holocaust sei hierbei dessen Kern, welcher nicht angetastet werden dürfe. Und dieses Trauma basiere nicht auf realer eigener Erfahrung sondern entstehe aus der kollektiven und über quasi-religiöse Rituale und Mechanismen systematisch geschürten Angst vor einem künftigen Holocaust. Deswegen nennt er dieses Phänomen, welches aus seiner Sicht die Essenz der jüdischen Identität darstellt, Prä-traumatisches Schock Syndrom (Pre TSS) und nicht Post TSS (Kapitel 16).
An anderer Stelle schreibt er, dass die Angst sich zusätzlich auch noch aus der Projektion der eigenen schrecklichen Taten auf den Gegner speist. (S. 133) Er fordert: „We should strip the Holocaust of its Judeo-centric exceptional status and treat it as an historical chapter that belongs to a certain time and place“. (Seite 175)
Das tragische Schicksal seiner Urgroßmutter sei demnach nicht anders zu bewerten als der Tod von Millionen Ukrainern, die dem Kommunismus zum Opfer gefallen seien, und das Schicksal der Opfer des Dresden-Bombardements oder der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Ich interpretiere dies als die Aufforderung an die Juden, sich endgültig dem oben geschilderten Trauma zu stellen, es zu bearbeiten und gesunde Menschen unter Gleichen zu werden, wodurch sich dann auch das Projekt „jüdischer Staat“ erübrigen würde. Ist das „ketzerischer“ als der Rat an die Palästinenser, sich mit den Realitäten abzufinden, auf ihr Rückkehrrecht zu verzichten, sich mit den Stücken Land zufrieden zu geben, die jetzt noch übrig sind, oder sich umsiedeln zu lassen?
Dies zu schreiben, steht mir als Deutscher, jedoch nach gültiger Auffassung nicht zu. Auch nicht in der Rolle einer Tochter der „Täter“? Was immer meinen „Tätereltern“ konkret vorzuwerfen wäre, die Ereignisse von Nazizeit und Krieg begleiten als böse Geister mein Leben und das meiner Familie. Aber wie kann ich es wagen, dies mit dem Trauma der Shoa auf eine Ebene zu stellen?
Hier öffnet sich ein weites Feld, denn Atzmon hat viele Interviews gegeben, in denen er detaillierter u.a. auch zum Thema Holocaust befragt wurde. Ein Kritiker schreibt z.B. Atzmon habe behauptet, dass die Todesmärsche nach der Auflösung von Auschwitz am Ende des Krieges geschehen seien, um die Juden rechtzeitig wieder nach Deutschland zu bringen, um sie vor den Russen zu retten, was nach Meinung des Kritikers bewiesenermaßen unrichtig sei (wird so im Rubikon Artikel von Davidsson dargestellt).
Ihm wird weiter vorgeworfen, er behaupte fälschlich, der Holocaust sei nicht gut genug erforscht, was unrichtig sei, da es kaum ein Geschichtsfeld gäbe, was nicht so gut erforscht sei wie der Holocaust. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob diese Kritik berechtigt ist, oder ob hier die Kritiker einfach nicht verstanden haben, dass es Atzmon eben nicht primär um die konkreten historischen Fakten in Bezug auf die Shoa geht sondern um deren Einordnung in das von den Nachkommen erzählte Narrativ, ein Narrativ, welches mit einem neuen Blick aus heutiger Sicht im Rahmen historischer Forschung zu überprüfen sei.
Trotz aller möglichen – berechtigten oder unberechtigten – Kritik wage ich zu schreiben, dass man tatsächlich darüber nachdenken kann und vielleicht auch sollte, den Holocaust in eine umfassendere Kontinuität des Landraubes und der Völkermorde einzuordnen.
Warum waren die Ausmerzung der Preußen durch den Deutschen Orden, der Genozid an den Hereros in Namibia oder die Ausrottung der Ureinwohner Nordamerikas nicht ein der systematischen Ermordung der Juden gleichwertiges Verbrechen, sofern es da so etwas wie Gleichwertigkeit überhaupt geben kann? Oder umgekehrt, war nicht das Umbringen der Hereros auf seine Weise und aus Sicht des getöteten Stammes genauso einzigartig?
Ich weiß, diese Frage „darf“ nicht gestellt werden – sofort werden dann bestimmte Merkmale genannt, die nur auf den Holocaust zutreffen und ihn zu dem außerordentlichen Ereignis machen, vor dem – besonders wir Deutsche – entsetzt und sprachlos stehen. (Der Kern des Traumas darf nicht adressiert werden?).
Aber dennoch – Willi Übelherrs im „Opablog“ abgedruckte Forderung, die 3000 Jahre alte Geschichte des „Westens“ neu zu denken als durchgehend landräuberisches und menschenverachtendes Handeln, und – ich ergänze – ideologisch gespeist aus einer arroganten Haltung der Überlegenheit und dem Gefühl des Auserwähltseins, ist doch gar nicht so abwegig (vergleiche dazu auch Atzmon, Seite 182 ff).
Und leider ist das Judentum – nicht nur als Opfer – ein Teil dieser Geschichte: in biblischen Zeiten bei der Eroberung des „gelobten Landes“ ebenso wie in den letzten 70 Jahren bei der Vernichtung der Existenzgrundlage der Palästinenser. (siehe Kapitel 15)
Ich denke an die Kolonialisierung der Welt und die Zerstörung indigener Völker und Kulturen im Namen europäischer Könige und der Christenheit (und die Christen sehen sich als legitime Nachfolger der Juden als die Auserwählten Gottes) und die vielen Kriege, die durch die USA , der „Indispensable Nation“, im Namen moralischer Überlegenheit und einer vermeintlichen Pflicht zum Eingreifen seit der Wende (an-)geführt wurden, und die mich seit der Zerschlagung Jugoslawiens mit Entsetzen erfüllen. Und wurden nicht diese letzten Kriege alle unter Zugriff auf unsere kollektiven Traumata propagandistisch vorbereitet, und angeblich jedes Mal geführt, um einen „neuen Hitler“ zu vertreiben? Macht es da nicht Sinn, den Holocaust in einen größeren Zusammenhang zu stellen und die Tränen um die jüdischen Opfer mit denen über die unzähligen anderen zusammenfließen zu lassen? In seinem aktuellen Buch „Being in Time“ geht Atzmon den Schritt, die jüdische Problematik in diesen größeren Zusammenhang einzuordnen und sich dem Thema zu zuwenden, was „being left alone in the street“, heißt, wie er in einem Vortrag im Juni 2017 sagte.
Weltweites zionistisches Netzwerk
Atzmon spricht von einem – keineswegs geheimen – zionistischen Netzwerk, einem Organismus, der im Kern ein Projekt zur Assimilationsverhinderung der Juden (Seite 70) sei. Es gäbe dabei keine scharfe Grenze zwischen Zionismus und Jüdisch-Sein. Der Organismus sorge weltweit für die politische Umsetzung zionistischer Interessen und für die Verhinderung von Kritik an dieser Politik, indem z.B. die Antisemitismuskeule geschwungen würde. Nationale Grenzen und Interessen würden so zugunsten jüdischer Interessen bzw. den Interessen des Staates Israel übergangen. Am Beispiel des biblischen Buchs Esther und historischen Beispielen beschreibt er, mit welchen Mitteln sich als Juden definierende Menschen auch unter widrigen Umständen die Interessen ihres Volkes politisch umgesetzt haben und noch heute umsetzen, jeder an seinem Platz, sei es in Israel oder anderswo (Kapitel 19).
Atzmon beschreibt diese Strategien als äußerst erfolgreich. Ob und inwieweit das wirklich so war und ist, kann ich nicht wirklich beurteilen. Viele Indizien und auch einige aktuelle Entwicklungen scheinen dafür zu sprechen.
So kommentiert z.B. „Taxi“ in ihrem Blog „Platos Guns“:
„And NO this is not an antisemitic question – most certainly it isn’t when it’s clear as daylight to all – and easily provable – that American power-jews control our media, banks, culture (Hollywood & book publishing), food (Monsanto), Big Pharma, Congress, Senate, White House, CIA, FBI, Deep-Deep State and MIC. Pretty much everything that’s important to our communal life, present and future. Frankly, I wouldn’t mind at all if jews controlled all the above and more if they were serving our nation thru and thru and they were good at it. I just mind that EVERYTHING they do, they do for israel and not for the benefit of the USA. I find this level of treason horribly odious, deeply offensive and dangerous to our own very existence.“
Im zweiten Kapitel des Buches beschäftigt sich Atzmon damit, wie Wolfowitz, Greenspan et al. über den Think Tank PNAC als Juden den Irakkrieg und den Ruin weiter Teile der amerikanischen Bevölkerung durch die Immobilienblase als Teil einer zionistischen Strategie durchgesetzt hätten – die Frage, ob sie nicht einfach eine kapitalistische Profitstrategie verfolgt haben, und ob sie als Nichtjuden anders gehandelt hätten bleibt für mich allerdings offen.
Einleuchtender erscheinen mir die in Kapitel 13 beschriebenen Übereinstimmungen zwischen zionistischen Vorstellungen und denen der Neocons, wie z.B. Wolfowitz.
Das Thema Israel-Lobby und deren Einfluss auf die Nahostpolitik ist ja nun gerade, besonders nach Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt von Israel, sehr aktuell. Und dieser Teil von Atzmons Ausführungen dürfte bei linken jüdischen Antizionisten vermutlich auch auf Zustimmung stoßen. Trotzdem bleibt umstritten wer in dem ganzen Geschehen wen in der Hand hat.
Provokant jedoch ist das, was er im gleichen Kapitel zum Recht auf Selbstbestimmung zu sagen hat: Die Juden begründeten auf dem Konzept des Rechts auf Selbstbestimmung eines jüdischen Volkes ohne Nation das Recht auf einen eigenen Staat (und die Notwendigkeit dieses Staates aus der – vermeintlichen – Gefahr eines jederzeit wieder möglichen neuen Holocaust). Das Existenzrecht Israels und die Gewährleistung der Sicherheit dieses Staates sind in allen westlichen Ländern Staatsdoktrin.
Atzmon hingegen meint die Juden hätten kein Recht, den geografischen Raum Palästina für einen eigenen Judenstaat zu beanspruchen. Denn anders als die in aller Welt verstreuten Juden, Gruppen, die häufig erst im Laufe der Geschichte zum jüdischen Glauben konvertiert seien, sind laut Atzmon die heutigen Palästinenser vermutlich die wirklichen Nachkommen des judäischen Volkes der Römerzeit. Die Erzählung einer durchgängigen jüdischen Diaspora-Geschichte, die mit der Vertreibung der Juden durch die Römer begonnen haben soll, sei jedenfalls ein Mythos (Kapitel 17).
Die heutigen jüdischen Israelis könnten jedoch gemeinsam mit den Palästinensern als Gleiche unter Gleichen Bürger eines künftigen Staates Palästina sein.
Obgleich sie ihm gefällt, hält Atzmon diese Zukunftsvision für sehr unrealistisch, denn dazu müsste das Judentum sich grundsätzlich von seinen tribalistisch/identitären Einstellungen lösen (Seite 188), und, ich ergänze, der „Westen“ von seiner immer noch im Kern kolonialen Ausrichtung. Bedeutet dies also zwangsläufig wieder Krieg im Nahen Osten? Diesmal um Jerusalem?
Mit Dank übernommen aus opablog.net - dort veröffentlicht in drei Teilen am 03.01.2017, 04.01.2017 und 05.01.2017
Siehe auch:
Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch uber die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454
Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453
Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469
Online-Flyer Nr. 643 vom 17.01.2018
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Von Clara S.
Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Karls-Preis-Verleihung an Ken Jebsen wurde u.a. die Einladung von Gilad Atzmon zum Politikum. Die auf die Schnelle zusammengestellte Zitatensammlung von Elias Davidsson, die im Rubikon erschien, reichte mir als Grundlage dafür, einen Menschen und seine Gedanken für vollkommen indiskutabel zu halten, nicht aus. Und das schrieb ich der Rubikon-Redaktion. Die Heftigkeit der prompten Reaktion von Herrn Wernicke und Herrn Davidsson hat mich überrascht und sehr getroffen. Ich hatte eindeutig eine Grenze überschritten. Aber welche? Keiner Gruppe angehörend, war ich auf der Suche nach Antworten auf mir wichtige Fragen irgendwann auf Atzmons Bücher gestoßen und so ebenso auf die Tatsache, dass er als Antisemit und „Holocaust-Leugner“ gilt. Deswegen weigern sich auch oder besonders Linke, ihm überhaupt zuzuhören. Bei der Beschäftigung mit seinen Ideen, habe ich dann selbstverständlich auch nach Beweisen für diese Behauptung gesucht, jedoch nirgends gefunden, dass er den Genozid der Nazis an Juden als historisches Ereignis bestreitet. Doch dazu später mehr. Ich finde seine Gedanken „thought-provoking“ [Gedanken provozierend].
Ein/e Leser/in kann bei der Lektüre vieles Bedenkenswerte finden, welches nicht nur für Juden gilt. Ob seine Antworten allerdings stichhaltig oder absurd sind, sein Ideengebäude stabil oder pathologisch, vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend zu beurteilen. Deswegen würde ich ja gerne, gerade von „linken Anti-Zionisten“, eine fundierte kritische Meinung dazu hören oder einer ernstzunehmenden Debatte folgen, die mich als Nicht-Jüdin vordergründig ja gar nichts angeht. Auf den zweiten Blick jedoch sind wir – zumindest in Deutschland – alle Geiseln dieser Auseinandersetzung. Denn ohne Antwort auf die Frage „Wie hältst Du es mit den Juden, wie hältst Du es mit Israel?“ ist ja auch heute noch keine politische Positionierung möglich. Und auch meine eigene Biografie ist entscheidend durch dieses Thema beeinflusst worden. Da ich ja nun das Buch „The Wandering Who“ schon gelesen hatte, habe ich mir die Mühe gemacht, meine Gedanken dazu aufzuschreiben.
Atzmons Fragen
- Wie kommt es, dass im Staate Israel ehemalige Opfer zu Tätern geworden sind? (Sein Schlüsselerlebnis: als junger Soldat in der israelischen Armee sah er sich in einem Internierungslager für Palästinenser plötzlich als „Nazi“.)
- Wie kommt es, dass der vergleichsweise kleine Staat Israel weltpolitisch einen so großen Einfluss hat?
- Warum ist die „Judenfrage“ bis heute nicht gelöst?
Gilad Atzmons Kernthesen
Die Antworten auf die anfangs gestellten Fragen liegen in den folgenden Punkten begründet:
- Einer Identitätspolitik, bei der Tribalismus und nicht Universalismus gefördert wird,
- den mit der „jüdischen Identität“ verknüpften ideologischen Auffassungen,
- der „Holocaust-Religion“ als Kernstück jüdischer Identität und
- einem weltweiten jüdisch/zionistischen Netzwerk.
Jüdische Identität
Atzmon beginnt mit der Definition seines Gegenstandes: Er will sich nur mit dem Thema Jüdisch-Sein beschäftigen. Jüdisch-Sein grenzt er klar ab von
a) einem rassistischen Judenbegriff (die Juden als biologisch definierbare Rasse gibt es seiner Meinung nach nicht, und es würde ihn auch nicht interessieren, wenn es sie gäbe) und
b) dem Judaismus, der Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, welche, wie jede religiöse Einstellung, Privatsache sei. Es geht ihm lediglich um
c) die Ideologie, die Identitätspolitik und den politischen Diskurs innerhalb des Judentums, also die jüdische Kultur, die er als Jewish-ness bezeichnet (Kapitel 1, Seite 15).
Dieses von ihm beschriebene und kritisierte Jüdisch-Sein ist seines Erachtens eine kulturelle Identität, in die Menschen hineingeboren werden, die sie mehr oder weniger bewusst annehmen, und von der aus sie sich selbst und die Welt betrachten und interpretieren, unabhängig davon ob sie religiös sind oder nicht. Man ist dann kein Musiker mehr, der zufällig auch Jude ist, sondern ein jüdischer Musiker, kein politisch links Stehender zufälliger jüdischer Herkunft sondern ein jüdischer politisch links Stehender. Zuerst Jude – und dann alles andere.
Eine solche Identität kann ein Mensch nur in Abgrenzung zu einem Antagonisten – dem „Goy“, dem Antisemiten, dem feindlichen Araber – annehmen, sie kann also nur in der Negation existieren.
Während ich also bisher Rassismus oder Antisemitismus als Ausgrenzung einer Gruppe durch die Gesellschaft oder Teile davon verstanden habe,
dreht Atzmon die Sache um und behauptet, die Juden (wie übrigens auch andere Identitäre) schlössen sich selber bewusst aus und pflegten ihr Gegen- bzw. sogar Feindbild. (Siehe Kapitel 1 – der jüdische Rassismus sei lange vor dem Nazi-Rassismus da gewesen – und 3, wo er argumentiert, dass ohne (Selbst-)Ausgrenzung keine Identitätspolitik möglich ist).
Da ist es nur logisch beweisen zu wollen, dass das politische Judentum von den gegen sich gerichteten Ressentiments profitiert und diese sogar selbst schürt, wofür er Beispiele gibt. Er schildert z.B. die Geschehnisse um den Dreyfus Prozess (Seite 40) und die den Antisemitismus der Nazis ausnutzende Kollaboration der Zionisten mit diesen (Seite 162 ff). Er behauptet, in diesem Sinne sei der Holocaust ein zionistischer Sieg gewesen (Kapitel 3, Seite 43), ohne den der Staat Israel nicht möglich gewesen wäre.
Schlomo Sand zitierend schreibt er, früher sei jeder als judenfeindlich gebrandmarkt worden, der behauptet hätte, dass alle in der Welt verstreuten Juden einer gemeinsamen fremden Nation angehörten, heute sei es umgekehrt, und wer sage, es gäbe außerhalb Israels kein jüdisches Volk, werde Judenhasser genannt. Und im Kern dieser „nationalen“ Identität, ergänzt Atzmon, stünde kein anderer als „the Devil“ himself Adolf Hitler, der dadurch am Ende doch gewonnen habe (Seite 109).
Der Tribalismus habe sich im Jüdisch-Sein gegen den Universalismus durchgesetzt. (Seite 136 ff) Diese Konstellation verhindere, dass man sich in erster Linie als Mensch sähe und einen universalen Humanismus lebe.
In Kapitel 6 geht er dem Gegensatz Tribalismus- Universalismus weiter nach und begründet, warum diese Haltungen sich gegenseitig ausschließen, viele anti-zionistische Juden jedoch versuchten, beides in sich zu vereinen und daran scheitern (müssten), weil sie auch in der Kritik an der Politik Israels ihre tribalistische Identität nicht aufgeben wollten. Dies verhindere grundsätzlich, dass das Judentum jemals dauerhaft Frieden mit den anderen Menschen dieser Welt schließen könne. Der moderne, säkulare jüdische Diskurs sei mangels wirklicher Substanz von Hass geprägt.
„Wir alle wissen, dass die Juden jahrhundertelang unter Hass und Diskriminierung gelitten haben“, schreibt Atzmon. Jedoch „während früher derjenige ein ‚Antisemit‘ war, der Juden hasst, ist es heute umgekehrt, ein ‚Antisemit‘ ist jemand, den die Juden hassen.“ Und so fände er nun sich selbst als jemand wieder, der als „stolzer selbst-hassender Jude“ von anderen Juden gehasst würde, seien es nun Zionisten oder Anti-Zionisten (Seite 54 ff).
Ist Atzmon also Antisemit? Oder liegt ein Fall von „Töte den Boten“ vor? Ich kann es nicht beurteilen. Und ist dieser Hass in den jüdischen Gemeinschaften tatsächlich so weit verbreitet? Die Art, wie die „linke“ Debatte um Atzmon geführt zu werden scheint, lässt es befürchten. Aber das geht mich eigentlich nichts an, auch wenn ich davon wegen meiner Kritik am Rubikon am Rande berührt wurde.
Jüdischer ideologisch-politischer Diskurs
Atzmon bezeichnet sich also selbst als „selbsthassenden Juden“. Dies sei aber eigentlich nichts Besonderes denn in Wirklichkeit sei die Beziehung zwischen Juden und Antisemiten keine reine Beziehung der Gegensätze, sondern jede Seite trage Teile der anderen in seiner Persönlichkeit mit sich, mal mehr mal weniger. So sei Jüdisch-Sein ein „frame of mind“ eine bestimmte Einstellung und Persönlichkeitsstruktur, die auch ein Judenhasser aufweisen könne. Und er zitiert auf Seite 95 Marx, der schrieb, dass die soziale Emanzipation der Juden die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum sei, wobei Marx Jüdisch-Sein mit Kapitalismus, Eigennutz und Geldgier gleichsetzt, die es zu überwinden gelte. Diesem Aspekt jüdischer Weltsicht ist z.B. das ganze Kapitel 14 über Milton Friedman gewidmet. Zwei Juden, die kapitalistisches Denken für „typisch jüdisch“ halten, kommen ausführlich zu Wort. Ist das Antisemitismus?
Mehr zum politisch-ideologischen inner-jüdischen Diskurs zu schreiben, übersteigt diesen Rahmen: das gesamte Buch gibt – beginnend mit der Bibel – wichtige jüdische Stimmen wieder und setzt sich mit diesen unter verschiedenen Fragestellungen auseinander.
Auch wenn ich vieles noch nicht verarbeitet habe, fand ich die Lektüre anregend und differenziert. So kann ich nach dem Lesen des Buches nicht bestätigen, dass er ein rabiates Sammelsurium antisemitischer Thesen verbreitet, wie seine Kritiker schreiben. Wenn Dinge diskutiert werden, die wir als antisemitisch ansehen, sind sie jedenfalls immer von Juden selbst gesagt oder geschrieben wurden.
Holocaust-Religion
Atzmon leitet im Buch „The Wandering Who“ u.a. aus Bibeltexten ab, dass die Angst vor einem Holocaust so alt ist wie das Judentum selbst, beginnend bei der Erzählung von der ägyptischen Gefangenschaft. Da es keine archäologischen Beweise für die 40 Jahre in der Wüste gäbe (siehe Seite 141 ff), sei schon diese Geschichte ein später konstruiertes Narrativ (wahrscheinlich in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft), ein Muster, das sich durch die ganze Geschichte der Diaspora ziehe und immer wieder verhindere, dass sich die Juden endgültig in die Gesellschaften integrieren, in denen sie leben.
Zur Shoa, dem „eigentlichen“ Holocaust, schreibt er folgendes: „It was actually the internalisation of the meaning of the Holocaust that transformed me into a strong opponent of Israel and Jewish-ness. It is the Holocaust that made me a devoted supporter of Palestinian rights, resistance and the Palestinian right of return.“ (Seite 186)
Das sieht mir nicht nach Holocaust-Leugnung aus.
Auch nicht die Beschreibung der Erfahrungen mit Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen an gleicher Stelle, oder seine Bemerkung zu Anne Frank auf Seite 51: „ … not a single moral system could justify the ordeal this young girl went through along with many others.“
Wie steht es mit seiner angeblichen oder wirklichen Relativierung der historischen Realität des Holocausts?
Atzmon erzählt, er habe als Kind geglaubt, die offizielle Erzählung der jüdischen Geschichte mit den Eckpunkten David, Massada, Holocaust – Seife, Lampenschirme, Todesmarsch, 6 Millionen -, basiere auf geschichts-wissenschaftlich recherchierten Fakten. Heute wisse er, dass dies das spezielle Jüdisch-Sein-Narrativ der Geschichte sei, welches infrage gestellt werden könne und solle. Wäre dieses Narrativ ausschließlich faktenbasiert, müsse man es nicht durch Verbote und Gesetze schützen.
Einige Teile dieser offiziellen Erzählung hält er für übertrieben: Seine von den Nazis ermordete Ur-Großmutter sei vermutlich nicht zu Seife oder einem Lampenschirm verarbeitet worden, wie er als Kind angenommen habe, sondern an Erschöpfung, Typhus oder bei einer Massenerschießung gestorben. (Seite 175)
Atzmon geht es in seiner Arbeit jedoch nicht um die Etablierung oder Relativierung der historischen Fakten (schließlich sei er kein Historiker – siehe Davidssons Artikel im Rubikon und das im Muslim-Markt veröffentlichte Interview) sondern hauptsächlich um die Interpretation des – von ihm keineswegs bestrittenen – historischen Ereignisses „Holocaust“ als einzigartigem Ereignis. Menschen änderten normalerweise ihre Sicht auf die Vergangenheit mit den neuen Perspektiven, die sich aus zusätzlichen Erkenntnissen oder einem größeren Abstand ergäben. Für den Holocaust gelte das nicht. Hier sei ein bestimmtes Narrativ zum Dogma erhoben worden(Seite 148 ff).
Diese „Holocaust-Religion“ fungiere als Grundlage der Existenzberechtigung Israels und der politischen Haltung der Zionisten sowie als Rechtfertigung für ihre Taten.
Jede neue Generation bekäme die Angst vor der existentiellen Auslöschung eingehämmert, jede verbrannte Synagoge bestätige die Berechtigung für die Angst genauso wie für eine radikale Feministin jede Vergewaltigung eine Bestätigung ihrer Theorie sei, dass in jedem Mann ein potentieller Vergewaltiger stecke. Gäbe es keine verbrannten Synagogen, so würde Mossad schon dafür sorgen, dass sich dies ändere. Der Zweck heilige die Mittel (Seite 43).
Auch für diese „Verschwörungstheorie“ liefert er zumindest ein Beispiel.
Eine ganze Gesellschaft leide so unter einem Trauma, die Realität des Holocaust sei hierbei dessen Kern, welcher nicht angetastet werden dürfe. Und dieses Trauma basiere nicht auf realer eigener Erfahrung sondern entstehe aus der kollektiven und über quasi-religiöse Rituale und Mechanismen systematisch geschürten Angst vor einem künftigen Holocaust. Deswegen nennt er dieses Phänomen, welches aus seiner Sicht die Essenz der jüdischen Identität darstellt, Prä-traumatisches Schock Syndrom (Pre TSS) und nicht Post TSS (Kapitel 16).
An anderer Stelle schreibt er, dass die Angst sich zusätzlich auch noch aus der Projektion der eigenen schrecklichen Taten auf den Gegner speist. (S. 133) Er fordert: „We should strip the Holocaust of its Judeo-centric exceptional status and treat it as an historical chapter that belongs to a certain time and place“. (Seite 175)
Das tragische Schicksal seiner Urgroßmutter sei demnach nicht anders zu bewerten als der Tod von Millionen Ukrainern, die dem Kommunismus zum Opfer gefallen seien, und das Schicksal der Opfer des Dresden-Bombardements oder der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Ich interpretiere dies als die Aufforderung an die Juden, sich endgültig dem oben geschilderten Trauma zu stellen, es zu bearbeiten und gesunde Menschen unter Gleichen zu werden, wodurch sich dann auch das Projekt „jüdischer Staat“ erübrigen würde. Ist das „ketzerischer“ als der Rat an die Palästinenser, sich mit den Realitäten abzufinden, auf ihr Rückkehrrecht zu verzichten, sich mit den Stücken Land zufrieden zu geben, die jetzt noch übrig sind, oder sich umsiedeln zu lassen?
Dies zu schreiben, steht mir als Deutscher, jedoch nach gültiger Auffassung nicht zu. Auch nicht in der Rolle einer Tochter der „Täter“? Was immer meinen „Tätereltern“ konkret vorzuwerfen wäre, die Ereignisse von Nazizeit und Krieg begleiten als böse Geister mein Leben und das meiner Familie. Aber wie kann ich es wagen, dies mit dem Trauma der Shoa auf eine Ebene zu stellen?
Hier öffnet sich ein weites Feld, denn Atzmon hat viele Interviews gegeben, in denen er detaillierter u.a. auch zum Thema Holocaust befragt wurde. Ein Kritiker schreibt z.B. Atzmon habe behauptet, dass die Todesmärsche nach der Auflösung von Auschwitz am Ende des Krieges geschehen seien, um die Juden rechtzeitig wieder nach Deutschland zu bringen, um sie vor den Russen zu retten, was nach Meinung des Kritikers bewiesenermaßen unrichtig sei (wird so im Rubikon Artikel von Davidsson dargestellt).
Ihm wird weiter vorgeworfen, er behaupte fälschlich, der Holocaust sei nicht gut genug erforscht, was unrichtig sei, da es kaum ein Geschichtsfeld gäbe, was nicht so gut erforscht sei wie der Holocaust. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob diese Kritik berechtigt ist, oder ob hier die Kritiker einfach nicht verstanden haben, dass es Atzmon eben nicht primär um die konkreten historischen Fakten in Bezug auf die Shoa geht sondern um deren Einordnung in das von den Nachkommen erzählte Narrativ, ein Narrativ, welches mit einem neuen Blick aus heutiger Sicht im Rahmen historischer Forschung zu überprüfen sei.
Trotz aller möglichen – berechtigten oder unberechtigten – Kritik wage ich zu schreiben, dass man tatsächlich darüber nachdenken kann und vielleicht auch sollte, den Holocaust in eine umfassendere Kontinuität des Landraubes und der Völkermorde einzuordnen.
Warum waren die Ausmerzung der Preußen durch den Deutschen Orden, der Genozid an den Hereros in Namibia oder die Ausrottung der Ureinwohner Nordamerikas nicht ein der systematischen Ermordung der Juden gleichwertiges Verbrechen, sofern es da so etwas wie Gleichwertigkeit überhaupt geben kann? Oder umgekehrt, war nicht das Umbringen der Hereros auf seine Weise und aus Sicht des getöteten Stammes genauso einzigartig?
Ich weiß, diese Frage „darf“ nicht gestellt werden – sofort werden dann bestimmte Merkmale genannt, die nur auf den Holocaust zutreffen und ihn zu dem außerordentlichen Ereignis machen, vor dem – besonders wir Deutsche – entsetzt und sprachlos stehen. (Der Kern des Traumas darf nicht adressiert werden?).
Aber dennoch – Willi Übelherrs im „Opablog“ abgedruckte Forderung, die 3000 Jahre alte Geschichte des „Westens“ neu zu denken als durchgehend landräuberisches und menschenverachtendes Handeln, und – ich ergänze – ideologisch gespeist aus einer arroganten Haltung der Überlegenheit und dem Gefühl des Auserwähltseins, ist doch gar nicht so abwegig (vergleiche dazu auch Atzmon, Seite 182 ff).
Und leider ist das Judentum – nicht nur als Opfer – ein Teil dieser Geschichte: in biblischen Zeiten bei der Eroberung des „gelobten Landes“ ebenso wie in den letzten 70 Jahren bei der Vernichtung der Existenzgrundlage der Palästinenser. (siehe Kapitel 15)
Ich denke an die Kolonialisierung der Welt und die Zerstörung indigener Völker und Kulturen im Namen europäischer Könige und der Christenheit (und die Christen sehen sich als legitime Nachfolger der Juden als die Auserwählten Gottes) und die vielen Kriege, die durch die USA , der „Indispensable Nation“, im Namen moralischer Überlegenheit und einer vermeintlichen Pflicht zum Eingreifen seit der Wende (an-)geführt wurden, und die mich seit der Zerschlagung Jugoslawiens mit Entsetzen erfüllen. Und wurden nicht diese letzten Kriege alle unter Zugriff auf unsere kollektiven Traumata propagandistisch vorbereitet, und angeblich jedes Mal geführt, um einen „neuen Hitler“ zu vertreiben? Macht es da nicht Sinn, den Holocaust in einen größeren Zusammenhang zu stellen und die Tränen um die jüdischen Opfer mit denen über die unzähligen anderen zusammenfließen zu lassen? In seinem aktuellen Buch „Being in Time“ geht Atzmon den Schritt, die jüdische Problematik in diesen größeren Zusammenhang einzuordnen und sich dem Thema zu zuwenden, was „being left alone in the street“, heißt, wie er in einem Vortrag im Juni 2017 sagte.
Weltweites zionistisches Netzwerk
Atzmon spricht von einem – keineswegs geheimen – zionistischen Netzwerk, einem Organismus, der im Kern ein Projekt zur Assimilationsverhinderung der Juden (Seite 70) sei. Es gäbe dabei keine scharfe Grenze zwischen Zionismus und Jüdisch-Sein. Der Organismus sorge weltweit für die politische Umsetzung zionistischer Interessen und für die Verhinderung von Kritik an dieser Politik, indem z.B. die Antisemitismuskeule geschwungen würde. Nationale Grenzen und Interessen würden so zugunsten jüdischer Interessen bzw. den Interessen des Staates Israel übergangen. Am Beispiel des biblischen Buchs Esther und historischen Beispielen beschreibt er, mit welchen Mitteln sich als Juden definierende Menschen auch unter widrigen Umständen die Interessen ihres Volkes politisch umgesetzt haben und noch heute umsetzen, jeder an seinem Platz, sei es in Israel oder anderswo (Kapitel 19).
Atzmon beschreibt diese Strategien als äußerst erfolgreich. Ob und inwieweit das wirklich so war und ist, kann ich nicht wirklich beurteilen. Viele Indizien und auch einige aktuelle Entwicklungen scheinen dafür zu sprechen.
So kommentiert z.B. „Taxi“ in ihrem Blog „Platos Guns“:
„And NO this is not an antisemitic question – most certainly it isn’t when it’s clear as daylight to all – and easily provable – that American power-jews control our media, banks, culture (Hollywood & book publishing), food (Monsanto), Big Pharma, Congress, Senate, White House, CIA, FBI, Deep-Deep State and MIC. Pretty much everything that’s important to our communal life, present and future. Frankly, I wouldn’t mind at all if jews controlled all the above and more if they were serving our nation thru and thru and they were good at it. I just mind that EVERYTHING they do, they do for israel and not for the benefit of the USA. I find this level of treason horribly odious, deeply offensive and dangerous to our own very existence.“
Im zweiten Kapitel des Buches beschäftigt sich Atzmon damit, wie Wolfowitz, Greenspan et al. über den Think Tank PNAC als Juden den Irakkrieg und den Ruin weiter Teile der amerikanischen Bevölkerung durch die Immobilienblase als Teil einer zionistischen Strategie durchgesetzt hätten – die Frage, ob sie nicht einfach eine kapitalistische Profitstrategie verfolgt haben, und ob sie als Nichtjuden anders gehandelt hätten bleibt für mich allerdings offen.
Einleuchtender erscheinen mir die in Kapitel 13 beschriebenen Übereinstimmungen zwischen zionistischen Vorstellungen und denen der Neocons, wie z.B. Wolfowitz.
Das Thema Israel-Lobby und deren Einfluss auf die Nahostpolitik ist ja nun gerade, besonders nach Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt von Israel, sehr aktuell. Und dieser Teil von Atzmons Ausführungen dürfte bei linken jüdischen Antizionisten vermutlich auch auf Zustimmung stoßen. Trotzdem bleibt umstritten wer in dem ganzen Geschehen wen in der Hand hat.
Provokant jedoch ist das, was er im gleichen Kapitel zum Recht auf Selbstbestimmung zu sagen hat: Die Juden begründeten auf dem Konzept des Rechts auf Selbstbestimmung eines jüdischen Volkes ohne Nation das Recht auf einen eigenen Staat (und die Notwendigkeit dieses Staates aus der – vermeintlichen – Gefahr eines jederzeit wieder möglichen neuen Holocaust). Das Existenzrecht Israels und die Gewährleistung der Sicherheit dieses Staates sind in allen westlichen Ländern Staatsdoktrin.
Atzmon hingegen meint die Juden hätten kein Recht, den geografischen Raum Palästina für einen eigenen Judenstaat zu beanspruchen. Denn anders als die in aller Welt verstreuten Juden, Gruppen, die häufig erst im Laufe der Geschichte zum jüdischen Glauben konvertiert seien, sind laut Atzmon die heutigen Palästinenser vermutlich die wirklichen Nachkommen des judäischen Volkes der Römerzeit. Die Erzählung einer durchgängigen jüdischen Diaspora-Geschichte, die mit der Vertreibung der Juden durch die Römer begonnen haben soll, sei jedenfalls ein Mythos (Kapitel 17).
Die heutigen jüdischen Israelis könnten jedoch gemeinsam mit den Palästinensern als Gleiche unter Gleichen Bürger eines künftigen Staates Palästina sein.
Obgleich sie ihm gefällt, hält Atzmon diese Zukunftsvision für sehr unrealistisch, denn dazu müsste das Judentum sich grundsätzlich von seinen tribalistisch/identitären Einstellungen lösen (Seite 188), und, ich ergänze, der „Westen“ von seiner immer noch im Kern kolonialen Ausrichtung. Bedeutet dies also zwangsläufig wieder Krieg im Nahen Osten? Diesmal um Jerusalem?
Mit Dank übernommen aus opablog.net - dort veröffentlicht in drei Teilen am 03.01.2017, 04.01.2017 und 05.01.2017
Siehe auch:
Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch uber die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454
Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453
Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469
Online-Flyer Nr. 643 vom 17.01.2018