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Globales
Interview mit dem Ex-israelischen Jazzmusiker und Philosophen Gilad Atzmon
Ich will nicht in einem Land leben, das anderen gehört
Gilad Atzmon - interviewt von Burak Altun
"Der globale Markt ist vereint in seinem Krieg gegen uns, gegen das Volk, gegen Menschlichkeit und Humanismus." So sieht Gilad Atzmon den gegenwärtigen Zustand der Welt. "Der Vorwurf des Antisemitismus ist offenkundig leer. Er soll die Kritik an Israel und der jüdischen Machtausübung unterdrücken." So sieht Gilad Atzmon das, was sich zurzeit in Deutschland in der Implementierung eines Antisemitismus-Beauftragten zeigt. "Ich habe nie an eine Zwei-Staaten-Lösung geglaubt... Was wir hierbei sehen, sind die geschaffenen Tatsachen vor Ort. Israel und Palästina sind ein Staat... aber dieser Staat ist unterdrückerisch, beleidigend und oft mörderisch gegenüber den Ureinwohnern des Landes." So sieht Gilad Atzmon die bittere Realität in Palästina. "Gilad Atzmon, in Jerusalem geboren und in einer zionistischen Familie aufgewachsen, lebt heute in Großbritannien und gehört zu den begnadetsten Jazzsaxophonisten der Gegenwart. Sein Album 'Exile' ist 2013 von BBC zum Jazzalbum des Jahres gekürt worden. Außerdem ist er Philosoph und beschäftigt sich mit der Nahost-Problematik. Im Interview mit dem Daily Sabah-Redakteur Burak Altun sprach er über seine Ansichten und die aktuelle Krise in Nahost." Mit diesen Worten wird das von Burak Altun geführte Interview eingeleitet, das die NRhZ im folgenden wiedergibt:
Herr Atzmon, Sie gelten als einer der begabtesten Jazzmusiker der Gegenwart. Darüber hinaus engagieren Sie sich aktiv für Frieden in Nahost und kritisieren in dem Zusammenhang den Staat Israel. Sie besitzen also mindestens zwei Identitäten – Sie sind Musiker und politischer Streiter. Auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene beklagen sich über die Identitätspolitik des Westens. Was hat es hiermit auf sich?
Ihre Beschreibung meiner Person klingt liebenwürdig – aber lassen Sie mich etwas gerade rücken: Ich bin kein politischer Aktivist, ich war nie in der Politik involviert und ich ziehe es vor, mich von der sogenannten Gemeinschaft der Aktivisten fernzuhalten. Der Grund ist einfach: Aktivisten kennen immer die Antworten, ich bin jedoch ein Philosoph. Meine Aufgabe ist es, die Fragen zu verfeinern. Ich kann mit mehr als einer Antwort, und sogar mit konkurrierenden und widersprüchlichen Antworten leben.
Lassen Sie mich jedoch auf Ihre Frage zur Identitätspolitik eingehen. In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, sollte die Politik und insbesondere die linke Politik auf das verweisen, was uns verbindet. Unsere linken Ikonen bestanden darauf, dass es egal sein muss, ob man ein Muslim, ein Schwarzer, ein Jude oder eine Frau ist. Wir waren alle vereint gegen die Mammoniten - diese kapitalistischen Plünderer in der Stadt. Aber das hat sich geändert. Die Linke entschloss sich irgendwann, neue Strategien anzunehmen. Uns wurde beigebracht, wie man „als Jemand" spricht: Als Frau, als Jude, als Schwarzer, als Schwuler usw. Anstatt uns zu vereinen, haben wir die Grundlage geschaffen, um uns gegenseitig zu bekämpfen. In diesem neuen links-progressiven Universum sind wir Menschen durch unsere Biologie geteilt, aber der globale Markt ist vereint in seinem Krieg gegen uns, gegen das Volk, gegen Menschlichkeit und Humanismus.
Wie erklären sie sich die Antisemitismusvorwürfe, die immer wieder gegen sie gerichtet werden? Sie selber differenzieren ja das Judentum als Religion von seiner politisierten Form. Der Logik dieser Anschuldigungen nach müssten ja dann auch Kritiker des „Islamismus" islamophob sein – oder ist der Begriff „Islamismus" an sich falsch?
Der Vorwurf des Antisemitismus ist offenkundig leer. Er soll die Kritik an Israel und der jüdischen Machtausübung unterdrücken. In meinem ganzen Leben habe ich weder Juden noch irgendjemand anderes als Volk, als Rasse oder der ethnischen Zugehörigkeit wegen kritisiert. Ich beschäftige mich ausschließlich mit Identitätspolitik, Ideologie und Kultur! Für mich wird Rassismus zu einem Problem, wenn man blinden Hass offenbart – wenn man X hasst, weil man Y ist – wenn man schwarze Menschen dafür hasst, dass sie schwarz sind oder wenn man weiße Menschen dafür hasst, dass sie weiß sind. Ich kann mir niemanden vorstellen, der Juden hasst, weil sie Juden sind. Ich gebe zu, dass mehr als ein paar Juden sich dem widersetzen können, was sie als jüdische Politik, jüdische Lobby, jüdische Ideologie usw. interpretieren. Diese Tendenz verdient unsere Aufmerksamkeit. Aber mit „jüdischer Macht" lässt sich eben auch Kritik an derselbigen unterdrücken.
Nun, Ihr Punkt bezüglich Islamisten und Islamophobie verdient Aufmerksamkeit. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie „Islamisten" oder „Islamismus" gibt. Im Islam gibt es - wie im Judentum auch – keinen Unterschied zwischen dem Politischen und dem Religiösen. Der Begriff „Islamismus" ist eine zionistisch-neokonservative Erfindung. Er wurde geschaffen, um eine imaginäre Dichotomie zwischen der religiösen und der politischen Realität zu zeichnen. Dies ist im Grunde eine Projektion der jüdischen „Post-Assimilations-Realität" auf die muslimische Welt. Sie wurde erfunden, um dem Vorgehen der USA und Großbritanniens eine „Rationalität" zu verleihen - um die arabischen Städte im Namen Zions platt machen zu können.
Sie haben mal in einem Interview gesagt, dass sie mit ihrer charmanten Persönlichkeit gegen die Antisemitismus-Vorwürfe anstehen. Können Sie das näher erläutern? Kann eine sympathische Person im Grunde kein Antisemit sein? Und denken Sie manchmal darüber nach, ob ihre Kritiker insgeheim ihre Musik abends bei sich zuhause laufen lassen?
Mein Kommentar bei George Galloway muss man mit einem humoristischen Unterton auffassen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass eine Person, die jede Nacht mit vielen Juden Musik macht und Plattformen mit Rabbinern teilt, nicht wirklich antisemitisch sein kann. Es ist kein Geheimnis, dass viele meiner Unterstützer Juden und sogar Israelis sind.
Ich würde gerne an dem Gedanken festhalten, dass meine Gegner meine Musik genießen können. Aber ich habe keinen Grund zu glauben, dass deren ästhetisches Verständnis so weit reicht.
Sie sind in einer zionistisch geprägten Familie aufgewachsen und haben den Libanonkrieg 1982 selber miterlebt. Wären sie heute auch so sehr für Frieden in Nahost engagiert, wenn Sie diese Erfahrungen oder Vorprägungen nicht hätten? Wie denken Sie selbst darüber, wenn Sie ihre Vergangenheit reflektieren?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin keine politische Person. Ich mache, was ich tue, weil ich neugierig bin.
Ich habe Israel verlassen, weil ich nicht in dem Land leben wollte, das jemand anderem gehört. Als ich Zeuge der restriktiven Haltung der jüdischen Diaspora-Zionisten wurde – und noch schlimmer – der Doppelzüngigkeit im Kern des jüdischen antizionistischen Diskurses, wurde mir klar, wie intensiv die jüdische Identität an sich ist. Ich fing an, mich damit zu beschäftigen. Wir haben es mit komplexen und faszinierenden Menschen zu tun, die von einer sehr alten Stammes-Philosophie geprägt sind, die zudem schnellen Veränderungen unterworfen ist. Immer dann, wenn sie denken, dass sie die jüdische Identitätspolitik verstehen, deutet dies nur darauf hin, dass sich die jüdische Identitätspolitik bereits in etwas anderes gewandelt hat.
Ich denke, dass ich Sie persönlich nicht weiter fragen muss, wie Sie zur US-Entscheidung bezüglich Jerusalem stehen – mich würde jedoch interessieren, ob Sie auf lange Sicht eine Abkehr von der „trumpischen" Nahostpolitik sehen. Momentan ist der Aufschrei besonders groß – was ein Stück weit der Aktualität bezüglich der Jerusalem-Frage verschuldet ist. In der Regierungsperiode von Obama hat es jedoch auch keine konstruktive Entwicklung in Nahost gegeben. Wie bewerten Sie die Rolle der USA - und insbesondere die der Israel-Lobby? Sie haben mal erzählt, dass AIPAC Ihnen Geld angeboten hatte, damit Sie Mitglied werden. War die Summe nicht groß genug?
Trump hat keine Nahost-Politik. Und das ist keine schlechte Sache. Amerika ist kein Schlüsselspieler mehr – das ist eine sehr positive Entwicklung. Wir sollten Trump und Kushner dafür danken. Aber es stimmt, dass diese Verschlechterung nicht erst vor einem Jahr begann. Ich glaube, Obama hat eine bewusste Entscheidung getroffen, sich aus der Region zurückzuziehen.
Es besteht kein Zweifel, dass AIPAC lange Zeit die amerikanische Nahostpolitik dominiert hat – und es ist völlig offensichtlich, dass AIPAC den Interessen eines fremden Staates und nicht den nationalen Interessen der USA dient. Die Amerikaner selbst tragen die Verantwortung dafür, dass AIPAC dies bisher tun konnte.
Seit ich Israel verlassen habe, wurde ich nie von einem einzigen israelischen oder zionistischen Organ angesprochen, der versucht hätte, meine Unterstützung oder Zusammenarbeit zu kaufen. Die jüdischen Institutionen und Leute, die mich in der Vergangenheit einige Male zu bestechen versuchten, kommen aus dem jüdisch-antizionistischen Lager. Sie haben mir angeboten, sich um mich „zu kümmern" und „zu beschützen"- dafür hätte ich ihre doppelzüngige Terminologie akzeptieren oder einfach meine eigene ausrangieren müssen. Sie wollten, dass ich die Diskussion auf den Zionismus beschränke und sicherstelle, dass ich vom Studium der jüdischen Identitätspolitik abwandere. Mehrere Male wurde ich gebeten, einige Leute zu denunzieren und zu verleugnen. Ich habe immer jeden Dialog mit diesen Stammesagenten abgelehnt. In einigen Fällen habe ich diese Versuche auch aufgedeckt.
Wie bewerten Sie den jüngsten Vorstoß der „Organisation für Islamische Kooperation" (OIC) unter der Führung von Präsident Erdogan gegen die Trump-Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt von Israel anzuerkennen? Hat diese Offerte mit anschließender UN-Resolution etwas gebracht?
Ich werde ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, einschließlich Präsident Erdogan, die Palästinenser befreien kann – das können nur die Palästinenser selbst. Wie sie das machen sollen, ist in der Tat eine komplizierte Frage. Ich glaube, dass Abbas Recht hat, wenn er sagt, die Zeit sei ihre Waffe. Überleben heißt gewinnen. Die einzigen Menschen, die den jüdischen Staat zerstören können, sind die Juden selbst. So haben sie es immer in ihrer Geschichte getan.
Präsident Erdogan hat sich in den letzten Jahren bereits mehrmals lautstark gegen das Verhalten der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern beklagt und harte Worte wie „Terrorstaat" oder „Kindermörder" in Bezug auf Israel verwendet. Viele Führer arabischer Staaten würden dies wohl nie so konkret wagen. Erdogans Popularität in Palästina scheint daher sehr groß. Glauben Sie, dass Präsident Erdogan einen handlungsstarken Gegenpol zu Israel und den USA errichten kann? Es scheint ja so, als wären nun auch die EU-Staaten – spätestens seit der letzten Jerusalem-Krise – ein Stück in Richtung Palästinenser gerückt – auch wenn man hier nach politischen Druckmitteln gegen Israel vergeblich sucht.
Präsident Erdogan hat sich sehr klar und deutlich gegenüber Israel geäußert - ich verstehe, wie unbeständig die Situation ist, in der er sich befindet. Er muss sich mit einer sehr komplexen Situation auseinandersetzen. Syrien, die PKK, Gülen, die NATO, Russland und die USA. Leider spielt Israel eine Schlüsselrolle bei all dem. Wir haben gesehen, wie die Türken sich mit Fragen zu Israel herumschlagen. Erdogan ist letztendlich gewählt worden, um dem türkischen Volk zu dienen, und diese Mission ist angesichts der Komplexität wahrscheinlich schwierig genug.
Glauben Sie immer noch an die Möglichkeit einer Zweistaaten-Lösung?
Ich habe nie an eine Zwei-Staaten-Lösung geglaubt. Und ich bin mir nicht so sicher, ob die Diskussion um Lösungen irgendwo hinführt. Sie wurde konzipiert, um einige Aktivisten beschäftigt zu halten, damit sie in ihren Versammlungen und Demonstrationen etwas verlangen können.
Was wir hierbei sehen, sind die geschaffenen Tatsachen vor Ort. Israel und Palästina sind ein Staat: Ein Stromnetz, eine internationale Vorwahlnummer (+972), ein Abwassersystem – aber dieser Staat ist unterdrückerisch, beleidigend und oft mörderisch gegenüber den Ureinwohnern des Landes. Warum? Weil Israel sich selbst als „den jüdischen Staat" definiert. Es ist eher der „Staat der Juden" als ein „Staat seiner Bürger". Um das Problem zu lösen, muss sich Israel zunächst von der jüdischen Ideologie lösen [engl.: de-Jewishfied] (wenn es ein Staat seiner Bürger sein will – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion). Wenn dies geschehen sollte, wird Israel zu Palästina werden – vom Fluss bis zum Meer.
Vielen Dank für das Interview Herr Atzmon, und viel Erfolg weiterhin mit Ihrer Musik und ihrer philosophischen Arbeit.
Danke, alles Gute.
Mit Dank übernommen von Daily Sabah – dort veröffentlicht am 18.01.2018
Siehe auch:
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24509
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486
Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454
Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453
Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469
Online-Flyer Nr. 644 vom 24.01.2018
Interview mit dem Ex-israelischen Jazzmusiker und Philosophen Gilad Atzmon
Ich will nicht in einem Land leben, das anderen gehört
Gilad Atzmon - interviewt von Burak Altun
"Der globale Markt ist vereint in seinem Krieg gegen uns, gegen das Volk, gegen Menschlichkeit und Humanismus." So sieht Gilad Atzmon den gegenwärtigen Zustand der Welt. "Der Vorwurf des Antisemitismus ist offenkundig leer. Er soll die Kritik an Israel und der jüdischen Machtausübung unterdrücken." So sieht Gilad Atzmon das, was sich zurzeit in Deutschland in der Implementierung eines Antisemitismus-Beauftragten zeigt. "Ich habe nie an eine Zwei-Staaten-Lösung geglaubt... Was wir hierbei sehen, sind die geschaffenen Tatsachen vor Ort. Israel und Palästina sind ein Staat... aber dieser Staat ist unterdrückerisch, beleidigend und oft mörderisch gegenüber den Ureinwohnern des Landes." So sieht Gilad Atzmon die bittere Realität in Palästina. "Gilad Atzmon, in Jerusalem geboren und in einer zionistischen Familie aufgewachsen, lebt heute in Großbritannien und gehört zu den begnadetsten Jazzsaxophonisten der Gegenwart. Sein Album 'Exile' ist 2013 von BBC zum Jazzalbum des Jahres gekürt worden. Außerdem ist er Philosoph und beschäftigt sich mit der Nahost-Problematik. Im Interview mit dem Daily Sabah-Redakteur Burak Altun sprach er über seine Ansichten und die aktuelle Krise in Nahost." Mit diesen Worten wird das von Burak Altun geführte Interview eingeleitet, das die NRhZ im folgenden wiedergibt:
Herr Atzmon, Sie gelten als einer der begabtesten Jazzmusiker der Gegenwart. Darüber hinaus engagieren Sie sich aktiv für Frieden in Nahost und kritisieren in dem Zusammenhang den Staat Israel. Sie besitzen also mindestens zwei Identitäten – Sie sind Musiker und politischer Streiter. Auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene beklagen sich über die Identitätspolitik des Westens. Was hat es hiermit auf sich?
Ihre Beschreibung meiner Person klingt liebenwürdig – aber lassen Sie mich etwas gerade rücken: Ich bin kein politischer Aktivist, ich war nie in der Politik involviert und ich ziehe es vor, mich von der sogenannten Gemeinschaft der Aktivisten fernzuhalten. Der Grund ist einfach: Aktivisten kennen immer die Antworten, ich bin jedoch ein Philosoph. Meine Aufgabe ist es, die Fragen zu verfeinern. Ich kann mit mehr als einer Antwort, und sogar mit konkurrierenden und widersprüchlichen Antworten leben.
Lassen Sie mich jedoch auf Ihre Frage zur Identitätspolitik eingehen. In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, sollte die Politik und insbesondere die linke Politik auf das verweisen, was uns verbindet. Unsere linken Ikonen bestanden darauf, dass es egal sein muss, ob man ein Muslim, ein Schwarzer, ein Jude oder eine Frau ist. Wir waren alle vereint gegen die Mammoniten - diese kapitalistischen Plünderer in der Stadt. Aber das hat sich geändert. Die Linke entschloss sich irgendwann, neue Strategien anzunehmen. Uns wurde beigebracht, wie man „als Jemand" spricht: Als Frau, als Jude, als Schwarzer, als Schwuler usw. Anstatt uns zu vereinen, haben wir die Grundlage geschaffen, um uns gegenseitig zu bekämpfen. In diesem neuen links-progressiven Universum sind wir Menschen durch unsere Biologie geteilt, aber der globale Markt ist vereint in seinem Krieg gegen uns, gegen das Volk, gegen Menschlichkeit und Humanismus.
Wie erklären sie sich die Antisemitismusvorwürfe, die immer wieder gegen sie gerichtet werden? Sie selber differenzieren ja das Judentum als Religion von seiner politisierten Form. Der Logik dieser Anschuldigungen nach müssten ja dann auch Kritiker des „Islamismus" islamophob sein – oder ist der Begriff „Islamismus" an sich falsch?
Der Vorwurf des Antisemitismus ist offenkundig leer. Er soll die Kritik an Israel und der jüdischen Machtausübung unterdrücken. In meinem ganzen Leben habe ich weder Juden noch irgendjemand anderes als Volk, als Rasse oder der ethnischen Zugehörigkeit wegen kritisiert. Ich beschäftige mich ausschließlich mit Identitätspolitik, Ideologie und Kultur! Für mich wird Rassismus zu einem Problem, wenn man blinden Hass offenbart – wenn man X hasst, weil man Y ist – wenn man schwarze Menschen dafür hasst, dass sie schwarz sind oder wenn man weiße Menschen dafür hasst, dass sie weiß sind. Ich kann mir niemanden vorstellen, der Juden hasst, weil sie Juden sind. Ich gebe zu, dass mehr als ein paar Juden sich dem widersetzen können, was sie als jüdische Politik, jüdische Lobby, jüdische Ideologie usw. interpretieren. Diese Tendenz verdient unsere Aufmerksamkeit. Aber mit „jüdischer Macht" lässt sich eben auch Kritik an derselbigen unterdrücken.
Nun, Ihr Punkt bezüglich Islamisten und Islamophobie verdient Aufmerksamkeit. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie „Islamisten" oder „Islamismus" gibt. Im Islam gibt es - wie im Judentum auch – keinen Unterschied zwischen dem Politischen und dem Religiösen. Der Begriff „Islamismus" ist eine zionistisch-neokonservative Erfindung. Er wurde geschaffen, um eine imaginäre Dichotomie zwischen der religiösen und der politischen Realität zu zeichnen. Dies ist im Grunde eine Projektion der jüdischen „Post-Assimilations-Realität" auf die muslimische Welt. Sie wurde erfunden, um dem Vorgehen der USA und Großbritanniens eine „Rationalität" zu verleihen - um die arabischen Städte im Namen Zions platt machen zu können.
Sie haben mal in einem Interview gesagt, dass sie mit ihrer charmanten Persönlichkeit gegen die Antisemitismus-Vorwürfe anstehen. Können Sie das näher erläutern? Kann eine sympathische Person im Grunde kein Antisemit sein? Und denken Sie manchmal darüber nach, ob ihre Kritiker insgeheim ihre Musik abends bei sich zuhause laufen lassen?
Mein Kommentar bei George Galloway muss man mit einem humoristischen Unterton auffassen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass eine Person, die jede Nacht mit vielen Juden Musik macht und Plattformen mit Rabbinern teilt, nicht wirklich antisemitisch sein kann. Es ist kein Geheimnis, dass viele meiner Unterstützer Juden und sogar Israelis sind.
Ich würde gerne an dem Gedanken festhalten, dass meine Gegner meine Musik genießen können. Aber ich habe keinen Grund zu glauben, dass deren ästhetisches Verständnis so weit reicht.
Sie sind in einer zionistisch geprägten Familie aufgewachsen und haben den Libanonkrieg 1982 selber miterlebt. Wären sie heute auch so sehr für Frieden in Nahost engagiert, wenn Sie diese Erfahrungen oder Vorprägungen nicht hätten? Wie denken Sie selbst darüber, wenn Sie ihre Vergangenheit reflektieren?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin keine politische Person. Ich mache, was ich tue, weil ich neugierig bin.
Ich habe Israel verlassen, weil ich nicht in dem Land leben wollte, das jemand anderem gehört. Als ich Zeuge der restriktiven Haltung der jüdischen Diaspora-Zionisten wurde – und noch schlimmer – der Doppelzüngigkeit im Kern des jüdischen antizionistischen Diskurses, wurde mir klar, wie intensiv die jüdische Identität an sich ist. Ich fing an, mich damit zu beschäftigen. Wir haben es mit komplexen und faszinierenden Menschen zu tun, die von einer sehr alten Stammes-Philosophie geprägt sind, die zudem schnellen Veränderungen unterworfen ist. Immer dann, wenn sie denken, dass sie die jüdische Identitätspolitik verstehen, deutet dies nur darauf hin, dass sich die jüdische Identitätspolitik bereits in etwas anderes gewandelt hat.
Ich denke, dass ich Sie persönlich nicht weiter fragen muss, wie Sie zur US-Entscheidung bezüglich Jerusalem stehen – mich würde jedoch interessieren, ob Sie auf lange Sicht eine Abkehr von der „trumpischen" Nahostpolitik sehen. Momentan ist der Aufschrei besonders groß – was ein Stück weit der Aktualität bezüglich der Jerusalem-Frage verschuldet ist. In der Regierungsperiode von Obama hat es jedoch auch keine konstruktive Entwicklung in Nahost gegeben. Wie bewerten Sie die Rolle der USA - und insbesondere die der Israel-Lobby? Sie haben mal erzählt, dass AIPAC Ihnen Geld angeboten hatte, damit Sie Mitglied werden. War die Summe nicht groß genug?
Trump hat keine Nahost-Politik. Und das ist keine schlechte Sache. Amerika ist kein Schlüsselspieler mehr – das ist eine sehr positive Entwicklung. Wir sollten Trump und Kushner dafür danken. Aber es stimmt, dass diese Verschlechterung nicht erst vor einem Jahr begann. Ich glaube, Obama hat eine bewusste Entscheidung getroffen, sich aus der Region zurückzuziehen.
Es besteht kein Zweifel, dass AIPAC lange Zeit die amerikanische Nahostpolitik dominiert hat – und es ist völlig offensichtlich, dass AIPAC den Interessen eines fremden Staates und nicht den nationalen Interessen der USA dient. Die Amerikaner selbst tragen die Verantwortung dafür, dass AIPAC dies bisher tun konnte.
Seit ich Israel verlassen habe, wurde ich nie von einem einzigen israelischen oder zionistischen Organ angesprochen, der versucht hätte, meine Unterstützung oder Zusammenarbeit zu kaufen. Die jüdischen Institutionen und Leute, die mich in der Vergangenheit einige Male zu bestechen versuchten, kommen aus dem jüdisch-antizionistischen Lager. Sie haben mir angeboten, sich um mich „zu kümmern" und „zu beschützen"- dafür hätte ich ihre doppelzüngige Terminologie akzeptieren oder einfach meine eigene ausrangieren müssen. Sie wollten, dass ich die Diskussion auf den Zionismus beschränke und sicherstelle, dass ich vom Studium der jüdischen Identitätspolitik abwandere. Mehrere Male wurde ich gebeten, einige Leute zu denunzieren und zu verleugnen. Ich habe immer jeden Dialog mit diesen Stammesagenten abgelehnt. In einigen Fällen habe ich diese Versuche auch aufgedeckt.
Wie bewerten Sie den jüngsten Vorstoß der „Organisation für Islamische Kooperation" (OIC) unter der Führung von Präsident Erdogan gegen die Trump-Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt von Israel anzuerkennen? Hat diese Offerte mit anschließender UN-Resolution etwas gebracht?
Ich werde ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, einschließlich Präsident Erdogan, die Palästinenser befreien kann – das können nur die Palästinenser selbst. Wie sie das machen sollen, ist in der Tat eine komplizierte Frage. Ich glaube, dass Abbas Recht hat, wenn er sagt, die Zeit sei ihre Waffe. Überleben heißt gewinnen. Die einzigen Menschen, die den jüdischen Staat zerstören können, sind die Juden selbst. So haben sie es immer in ihrer Geschichte getan.
Präsident Erdogan hat sich in den letzten Jahren bereits mehrmals lautstark gegen das Verhalten der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern beklagt und harte Worte wie „Terrorstaat" oder „Kindermörder" in Bezug auf Israel verwendet. Viele Führer arabischer Staaten würden dies wohl nie so konkret wagen. Erdogans Popularität in Palästina scheint daher sehr groß. Glauben Sie, dass Präsident Erdogan einen handlungsstarken Gegenpol zu Israel und den USA errichten kann? Es scheint ja so, als wären nun auch die EU-Staaten – spätestens seit der letzten Jerusalem-Krise – ein Stück in Richtung Palästinenser gerückt – auch wenn man hier nach politischen Druckmitteln gegen Israel vergeblich sucht.
Präsident Erdogan hat sich sehr klar und deutlich gegenüber Israel geäußert - ich verstehe, wie unbeständig die Situation ist, in der er sich befindet. Er muss sich mit einer sehr komplexen Situation auseinandersetzen. Syrien, die PKK, Gülen, die NATO, Russland und die USA. Leider spielt Israel eine Schlüsselrolle bei all dem. Wir haben gesehen, wie die Türken sich mit Fragen zu Israel herumschlagen. Erdogan ist letztendlich gewählt worden, um dem türkischen Volk zu dienen, und diese Mission ist angesichts der Komplexität wahrscheinlich schwierig genug.
Glauben Sie immer noch an die Möglichkeit einer Zweistaaten-Lösung?
Ich habe nie an eine Zwei-Staaten-Lösung geglaubt. Und ich bin mir nicht so sicher, ob die Diskussion um Lösungen irgendwo hinführt. Sie wurde konzipiert, um einige Aktivisten beschäftigt zu halten, damit sie in ihren Versammlungen und Demonstrationen etwas verlangen können.
Was wir hierbei sehen, sind die geschaffenen Tatsachen vor Ort. Israel und Palästina sind ein Staat: Ein Stromnetz, eine internationale Vorwahlnummer (+972), ein Abwassersystem – aber dieser Staat ist unterdrückerisch, beleidigend und oft mörderisch gegenüber den Ureinwohnern des Landes. Warum? Weil Israel sich selbst als „den jüdischen Staat" definiert. Es ist eher der „Staat der Juden" als ein „Staat seiner Bürger". Um das Problem zu lösen, muss sich Israel zunächst von der jüdischen Ideologie lösen [engl.: de-Jewishfied] (wenn es ein Staat seiner Bürger sein will – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion). Wenn dies geschehen sollte, wird Israel zu Palästina werden – vom Fluss bis zum Meer.
Vielen Dank für das Interview Herr Atzmon, und viel Erfolg weiterhin mit Ihrer Musik und ihrer philosophischen Arbeit.
Danke, alles Gute.
Mit Dank übernommen von Daily Sabah – dort veröffentlicht am 18.01.2018
Siehe auch:
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24509
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486
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Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454
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Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
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NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453
Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469
Online-Flyer Nr. 644 vom 24.01.2018